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BERICHT/326: Irak - Christen fordern autonome Region (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 22. Mai 2013

Irak: In der Hölle träumen Christen vom Paradies - Forderung nach autonomer Region

von Karlos Zurutuza


Bild: Karlos Zurutuza/IPS

Irakische Soldaten in einem Gebiet, in dem Christen nach Autonomie streben
Bild: Karlos Zurutuza/IPS

Bashiqa, Irak, 22. Mai (IPS) - Luis Shabi erinnert sich gern an sein neunjähriges Noviziat in Rom und an "eine fantastische Autoreise durch Europa", bevor er 1969 in den Irak zurückkehrte. "Das waren die guten Zeiten", seufzt der chaldäische Erzbischof von Bagdad.

Sein Büro liegt im Keller der Kirche St. Maria vom Rosenkranz im Osten der irakischen Hauptstadt, die von hohen Betonmauern umgeben ist. Das Gotteshaus, das auch durch Stacheldraht und Soldaten geschützt wird, ähnelt einem Bunker.

"Wir waren immer ein friedliches und hart arbeitendes Volk, und wir standen in dem Ruf, viele Schriftsteller, Dichter und Philosophen hervorzubringen", sagt der Geistliche, der einen schwarzen Talar und eine pinkfarbene Kopfbedeckung trägt, über die Christen im Irak.

Seit der US-geführten Invasion 2003 lasteten ihnen aber Extremisten im Land an, den Westen in den Mittleren Osten hineintragen zu wollen, klagt Shabi. Die Tatsache, dass während der Herrschaft von Saddam Hussein auch Christen im Kabinett gesessen hätten, mache nun alles noch schlimmer.

"Was tut Europa, um uns zu helfen?" fragt er. "Und was ist mit Rom? Weder die zivilen Behörden noch die religiösen Institutionen in Europa haben auch nur einen Finger gerührt, um uns in einem der schlimmsten Momente unserer Geschichte beizustehen."


Großer Teil der Christen geflohen oder getötet

In den Jahren nach 2003 wurden die irakischen Mandäer regelrecht dezimiert - 90 Prozent wurden entweder getötet oder mussten fliehen. Nach Angaben des Hohen UN-Flüchtlingskommissars hat seit 2003 rund die Hälfte aller Christen den Irak verlassen.

Der unabhängige Assyrische Europarat macht auch die irakische Verfassung für die Ausgrenzung der Minderheiten im Irak verantwortlich. "Der Islam ist die Staatsreligion und Rechtsgrundlage des Landes", heißt es in Artikel 2.1 der Verfassung von 2005.

"Wir sind keine Araber, sondern Semiten", betont Shabi. "Seit den Zeiten von Hammurabi haben wir in Mesopotamien das Aramäisch gesprochen. Wir sind die Enkel von Abraham und Nebukadnezar, doch unsere Zukunft im Irak endet schon morgen."

Von Shabis Bunker aus ist es nur ein Fußweg von zehn Minuten bis zu der modernen und majestätische Fassade der Kirche Unserer Dame der Ständigen Hilfe. Die Kirche wurde im vergangenen Jahr renoviert, aber niemand kann vergessen, was hier vor weniger als zwei Jahren geschah.

"Sie waren zu fünft, kamen über die Betonmauer, stürmten in die Kirche und schrien: 'Gott ist groß'", erinnert sich Aysur Said, der zurzeit dort Pastor ist. "Sie sagten, sie würden zum Islamischen Staat Irak gehören, einer sunnitischen Gruppe, die mit dem Terrornetzwerk Al Qaeda in Verbindung gebracht wird. Es war der 31. Oktober 2011, und wir hielten gerade die Messe ab."

Saids Vorgänger Pater Waseem gehörte zu den 50 Menschen, die bei dem schlimmsten Angriff auf die Gemeinde seit 2003 getötet wurden. "Einige starben durch Gewehrfeuer, andere erstickten. Viele von ihnen wurden in einem Raum eingeschlossen, in dem wir uns umziehen. Es gibt dort keine Fenster, und der Sauerstoff wurde knapp", berichtet Said.

Seit dem Überfall wünschen sich viele Christen im Lande ein eigenes autonomes Gebiet in der Ebene von Nineveh im Nordwesten des Landes in der Nähe der autonomen Kurdenregion. In dieser Ebene, in der sich laut der Bibel der Garten Eden befand, leben heute viele Christen.

Um die Vorherrschaft in dem Gebiet streiten sich Kurden und Araber. Die Verwaltungshauptstadt ist Mossul, einst die Hochburg von Anhängern der Baath-Partei. Die Stadt wird von Unruhen erschüttert, seit dort im vergangenen Dezember Massenproteste stattfanden.

Bashiqa, 30 Kilometer von Mossul entfernt, ist einer der Orte, der Christen zufolge Teil der ersehnten autonomen Region sein muss. In der orthodoxen Kirche Mart Shmouni erklärt der 23-jährige Pater Daniel, dass die Einheit der Iraker der Wichtigste sei. Gleichwohl räumt er ein, dass dieses Ziel nicht einfach zu erreichen sei.


Christen sehen sich von neuer Regierung nicht geschützt

"Es herrscht Chaos. Die neuen Regierenden in Bagdad können uns nicht schützen. Dehalb flieht unser Volk zu Tausenden", sagt Pater Daniel. "In den vergangenen Monaten haben wir allerdings auch viele Christen-Familien begrüßt, die aus Syrien kamen und an die Türen unserer Klöster und Kirchen klopften."

Obwohl Bashiqa in der Nähe von Mossul liegt, ist die Lage hier einigermaßen stabil. Pater Daniel führt dies darauf zurück, dass in dem Gebiet kurdische Soldaten stationiert sind. "Für viele ist Bashiqa nur ein Zwischenstopp auf dem Weg in die autonome Kurdenregion, wo vollständige Sicherheit herrscht."

Kirkuk, 230 Kilometer nordwestlich von Bagdad, befindet sich ebenfalls in einer Grauzone. Keiner weiß so recht, wer dort zuständig ist: die Behörden in Bagdad oder die regionale Kurdenregierung. Der Parlamentarier Imad Yokhana Yago, der der Assyrischen Demokratischen Bewegung angehört, spricht von "Vertreibung und Völkermord durch Islamisten" seit 2003.

"Wir befürchten, dass es im Irak einen neuen Krieg geben wird, denn es gibt Spannungen zwischen Kurden, Sunniten und Schiiten", sagt Yago, der ebenfalls eine autonome Christenregion in Niniveh fordert. Dieses Gebiet würde "unsere Gemeinschaft schützen und als Pufferzone zwischen den Kriegsfronten dienen". Das Vorhaben ist allerdings umstritten. Viele befürchten, dass sich die Region auf diese Weise in ein Ghetto für Christen aus dem ganzen Land verwandeln würde. (Ende/IPS/ck/2013)


Links:

http://www.unhcr.org/pages/49e486426.html
http://www.aina.org/reports/acehrr2011.pdf
http://www.ipsnews.net/2013/05/living-in-hell-iraqi-christians-dream-of-paradise/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 22. Mai 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Mai 2013