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FORSCHUNG/040: Immanuel Kant - "Verurteilt" zur Metaphysik (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1 - 2012

"Verurteilt" zur Metaphysik

Von Laura Anna Macor



Immanuel Kants ambivalentes Nachdenken über Religion, Offenbarung und Gottesfrage sowie dessen heutige Relevanz standen im Mittelpunkt einer Tagung, die in Kooperation mit der KU an der Akademie des Bistums Mainz, Erbacher Hof, stattfand.


Einige der namhaftesten Kant- und Theologieforscher gehörten zu den Referenten der Tagung "Kants Vernunftreligion und die biblische Offenbarung", die Anfang März in Mainz stattfand. Als Gastinstitution wirkte die seit langem als wichtiges Tagungszentrum etablierte Akademie des Bistums Mainz Erbacher Hof in Kooperation mit der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Insbesondere hat der Lehrstuhl für Philosophische Grundfragen der Theologie (Theologische Fakultät) zur Realisation dieser Veranstaltung maßgeblich beigetragen: der Lehrstuhlinhaber Prof. Dr. Norbert Fischer und sein langjähriger Mitarbeiter, Dr. habil. Jakub Sirovátka, haben nicht nur als Mitorganisatoren, sondern auch als Referenten mitgemacht. Darüber hinaus nahmen teil: der derzeitige Präsident der Kant-Gesellschaft, Prof. Dr. Bernd Dörflinger; der u.a. mit Prof. Fischer als Leiter der über mehrere Jahre durchgeführten Kant-Seminare im Kloster Weltenburg wirkende Prof. Dr. Maximilian Forschner; der ehemalige Direktor vom Fritz Bauer Institut zu Frankfurt am Main, Prof. Dr. Micha Brumlik; der für Christliche Philosophie an der Universität Wien zuständige Prof. Dr. Rudolf Langthaler, und der junge, aber vielversprechende MA in Philosophie und Germanistik sowie Dipl. jur. Christian Sturm.

Die Tagung zielte darauf ab, Kants langen Weg des Nachdenkens über Religion, Offenbarung und Gottesfrage zu erörtern und dabei nach dessen heutiger Relevanz zu fragen. Das immer wieder problematische Verhältnis zwischen Vernunft und Glauben, das zugespitzt in Kants radikaler Einschränkung des menschlichen Erkenntnisvermögens begegnet, stellt in der Tat einen der besten Prüfsteine für die sich wie auch immer konfessionell verstehende Religionsphilosophie dar. Die einschlägigen Fragen im Anschluss an Kant lauten: Warum ist ein unleugbares Bedürfnis nach Gott bei jedem Menschen anzutreffen, und wie soll dies mit den ebenso unleugbaren Grenzen der spekulativen Vernunft in Einklang gebracht werden? Was soll es heißen, dass der Mensch zur Metaphysik sozusagen "verurteilt" ist, ohne dass er aber über adäquate theoretische Mittel verfügt, um diesem "Schicksal" zu entsprechen? Spielt die (christliche) Offenbarung eine entscheidende Rolle dabei, und gegebenenfalls was für eine? Welches ist dann das Verhältnis des Glaubens zu den konkreten Regeln, Satzungen und Geboten, denen wir nach den jeweiligen kirchlichen Anordnungen folgen sollen?

Die sieben Vorträge kreisten um derartige Fragestellungen und versuchten dabei, den Kern von Kants Religionsphilosophie freizulegen. In kritischer Auseinandersetzung mit Kants Hauptwerken, von der Kritik der reinen Vernunft (1781, 1. Aufl., 1787, 2. Aufl.) über die Kritik der praktischen Vernunft (1788), die Kritik der Urteilskraft (1790) und vor allem die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793, 1. Aufl., 1794, 2. Aufl.) bis hin zum Streit der Fakultäten (1798) haben die Teilnehmer das Publikum vor schwere, aber eben deswegen entscheidende Probleme gestellt. In großen Zügen zielten die Bemühungen der Referenten auf zwei Hauptkomplexe: zum einen wurde der Grund des Glaubens, zum anderen die Relevanz jeweiliger institutionell vorgeschriebener religiöser Gebräuche innerhalb eines transzendentalphilosophischen Rahmens thematisiert.

Es ging also zunächst darum zu erklären, wie der Glaube auf die Kantische reine Vernunft gegründet sein könne, zumal diese bekanntlich jeglicher dogmatisch metaphysischen Stützung beraubt ist. Der notwendige Verweis auf den Zuständigkeitsbereich der praktischen Vernunft, der laut Kant im Vergleich zu dem der spekulativen viel breiter ist, bildete dabei den Ausgangspunkt. Hinterfragt wurde insbesondere der Modus des rechten religiösen Glaubens, bei dem weder bloße Meinung noch dogmatische Grundhaltung Pate stehen dürften. Das Erstere würde bedeuten, dass Glaube nur Erdichtung wäre, das Letztere, dass Glaube nur auf theoretischer Gewissheit beruhen könnte. Kant fürchtet sich vor beiden Perspektiven, die seiner Meinung nach nichts als Trugbilder bieten. Der Glaube darf keine willkürliche (also zufällige) Entscheidung sein, denn ansonsten würde er zum bloßen Phantom herabsinken; ebenso wenig darf er aber Ergebnis wissenschaftlich gewonnenen Wissens sein, wodurch der transzendentalphilosophische Ansatz preisgegeben wäre.

Der Glaube muss also auf einem anderen Niveau als das Wissen angesiedelt sein, ohne aber deswegen jeglicher Form von Gewissheit entbehren zu müssen. Es muss folglich eine andere Gewissheit geben als die von der spekulativen Vernunft auf wissenschaftlichem Wege errungene. Diese andere Art der Gewissheit ist zwar von der erkenntnistheoretischen verschieden, ihr letztendlich jedoch überlegen. Es ist dies eine moralische Gewissheit, die von der Grundausstattung der vernünftigen Wesen stammt. Es ist demnach nicht verwunderlich, dass Begriffe wie das "dringende Interesse praktischer Vernunft" (Dörflinger), die Religion "als Funktion eines spontanen Selbstbewussteins" (Brumlik) und die "Metaphysik als Naturanlage" (Fischer) in den Vordergrund der Aufmerksamkeit gerückt wurden. Der Glaube wird somit zum höchsten Akt menschlichen Selbstverständnisses, bei dem die spekulativen Zweifel nicht im geringsten ausgeschlossen werden, sondern vielmehr mit zu den Bedingungen des richtigen Glaubensmodus gehören. Die Feststellung der unüberwindbaren Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens muss, oder besser: soll ins Positive gewandt werden und, statt eines dogmatischen Unglaubens, einem moralisch-praktischen Glauben weichen.

Angesichts dieser Ausweitung der reinen Vernunft drängt sich aber mit desto stärkerer Kraft die Frage nach der konkreten Rolle überlieferter religiöser Gebräuche auf. Darum bemühten sich die übrigen Referenten der Mainzer Tagung. Die Legitimität des Kirchenrechts (Sturm), die problematische Notwendigkeit einer sichtbaren Kirche (Forschner), die in Kants Augen feststehende überlegene Stellung des Christentums gegenüber jeder anderen Religion (Langthaler) und der konsequente Zweifel an der tatsächlichen Tragweite einiger christlicher Theologumena (Sirovátka) standen im Zentrum der weiteren gemeinsamen Reflexion.

Es galt, der Tatsache ansichtig zu werden, wie sich der reine Anspruch auf eine im intelligiblen Menschen selbst begründete und insofern notwendige Vernunftreligion mit dem offenbar ebenso unumgänglichen Bedarf an konkreter Organisation, inhaltlich bestimmten Satzungen und normativen Anweisungen verträgt. Denn man kann sich dabei des Eindrucks nicht erwehren, dass sich somit ein der Forderung nach Autonomie und Selbstvergewisserung schnurstracks widersprechender Dogmatismus unvermeidlich einschleiche. Die Lösung liegt in der zweifachen Natur des Menschen, der nicht nur ein mit Vernunft begabtes, sondern auch im Sinnlichen tief verankertes Wesen ist und deswegen einiger Stützen, Hilfs- und Leitmittel bedarf. Äußerliches und Innerliches, Historisches und Wesentliches implizieren sich also beim Menschen gegenseitig, ohne aber gleichwertig zu sein. Was als bloßes Vehikel anerkannt wird, spielt seine Rolle paradoxerweise eben darin, dass es sich selbst allmählich überflüssig macht. Das heißt, dass das Materiale vom Glauben einer kontinuierlichen Vervollkommnung ausgesetzt ist, damit es sich möglichst schnell dem Formalen, d.h. dem Reinen, annähert. Daraus folgt konsequentermaßen die Uminterpretation einiger christlicher Dogmen wie derjenigen von dem Sündenfall bzw. der Erbsündenlehre, von der Gnaden-, Rechtfertigungs- und Prädestinationslehre, welche dem moralischpraktischen Charakter des Glaubens entsprechend umgeformt werden müssen.

Diese Umformung ist es eben, die es laut Kant ermöglicht, die christliche Religion als die schicklichs te unter allen historisch vorhandenen zu erkennen. Das Gebot der Nächstenliebe avanciert somit zum Hauptgrundsatz der praktischen, nicht neigungsbedingten Liebe, zu der sich jedes Vernunftwesen als solches schon verpflichtet fühlt. Darüber hinaus werden die christliche Nachsicht gegenüber den Mitmenschen sowie das ebenfalls christliche Bewusstsein der konstitutiven Unzulänglichkeit jeder menschlichen Bemühung um die eigene moralische Verbesserung zu Grundsätzen der Kantischen Moralund Religionslehre. Sowenig die Gnade zum Ersatz für das eigene Tun herabgewürdigt werden darf, eben sowenig darf das Vertrauen auf die menschlichen Kräfte zum hochmütigen Wahn verleiten, der Mensch sei selbstgenugsam. Stichwortartig ausgedrückt kann man Kants These wie folgt zum Ausdruck bringen: weder sola fide noch sola virtute.

Das Fazit der Mainzer Tagung ist vielschichtig: es trägt nicht nur zum besseren Verständnis von Kants Denken bei, sondern liefert auch ein überzeugendes Beispiel für eine philosophische Aneignung religiöser Thesen. Dass dies auch in überkonfessioneller Hinsicht gilt, beweist die Tatsache, dass unter den behandelten Autoren der Jude Hermann Cohen mit seinem Diktum "mit Kant über Kant hinaus" und seinem davon herrührenden "methodologischen Humanismus der Mitmenschlichkeit" vorkommt. Kants Bild von zwei konzentrischen Kreisen, von denen nur der engere der Philosophie zukomme, da der breitere der Theologie vorbehalten sei, erhält somit bleibende Bedeutung.


Die schriftliche Fassung der Vorträge (vermehrt um drei weitere Beiträge) wird in der Zeitschrift der katholisch-theologischen Fakultät der Karls-Universität Prag publiziert werden.


Dr. Laura Anna Macor ist - gefördert durch ein Forschungsstipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung - seit Januar zu Gast am Lehrstuhl für Philosophische Grundfragen der Theologie (Prof. Dr. Norbert Fischer), der die hier dargestellte Tagung angeregt und mitorganisiert hat.

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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1/2012, Seite 26-27
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität, Prof. Dr. Richard Schenk
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU, 85071 Eichstätt
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2012