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FRAGEN/006: Winfried Gebhardt - "Die eigene spirituelle Erfahrung zählt" (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 06/2010

"Die eigene spirituelle Erfahrung zählt"
Ein Gespräch mit dem Religionssoziologen Winfried Gebhardt

Die Fragen stellte Alexander Foitzik


Wer heute sich für irgendwie religiös musikalisch hält, spricht lieber von Spiritualität oder von spirituellen Bedürfnissen, als dass er sich als religiös bezeichnet. Über die Bedeutung des oft diffus bleibenden Modewortes Spiritualität und die wesentlichen Kennzeichen unserer religiösen Gegenwartskultur sprachen wir mit dem Koblenzer Religionssoziologen Winfried Gebhardt.


HK: Beim Rückblick auf das fünfjährige Pontifikat BenediktsXVI. in diesen Tagen hat man sich oft auch an jene besondere Stimmungslage im Jahr 2005 erinnert: an die Massen, die auf dem Petersplatz und vor den heimischen Bildschirmen den Pontifikatswechsel verfolgten. Dann kam der Weltjugendtag in Köln und ließ nicht nur die deutschen Medien staunen über so viele fröhlich-fromme Jugendliche. Da lag die Rede von der Wiederkehr der Religion nahe. Was haben wir wirklich damals gelernt in Bezug auf die religiöse Gestimmtheit unserer Gesellschaft, die Religiosität der Zeitgenossen?

GEBHARDT: Von außen betrachtet haben erst einmal zwei Großereignisse stattgefunden, die hohe mediale Aufmerksamkeit erlangen konnten. Tod und Begräbnis von Johannes PaulII. und der Weltjugendtag sind beide sicherlich auch mit dem ausdrücklichen Willen der Kirchenleitung als mediale Großereignisse inszeniert worden. Über solche Ereignisse und natürlich auch über den islamischen Fundamentalismus beziehungsweise den islamistisch motivierten Terrorismus ist das Thema Religion zurückgekehrt in die Medien und in den öffentlichen Diskurs. Man merkt übrigens auch in der Wissenschaft, dass die Religionsthematik wieder quer durch alle geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer einen höheren Stellenwert besitzt. Ob damit eine Wiederkehr der Religiosität einhergeht - da bin ich eher skeptisch.

HK: Gibt es jenseits dessen nicht doch auch Indizien, dass der Durchschnitts-Deutsche doch nicht so hoffnungslos säkular geworden beziehungsweise wieder stärker auf der Suche nach religiösen oder spirituellen Erfahrungen ist? Lässt sich, wenn auch nicht sinnvoll von der Wiederkehr der Religion zu reden ist, doch von so etwas wie einer neuen spirituellen Bewegung, einer Respiritualisierung sprechen?

GEBHARDT: Spiritualität ist ein Modewort. Wobei das Verhältnis von Spiritualität und Religiosität in der Tat spannend ist. Denn Spiritualität ist ja ein Wort, das zunächst viele, die sich für irgendwie religiös musikalisch halten und an religiösen Themen interessiert sind, zur Selbstbeschreibung nutzen. Die Leute sprechen viel lieber von ihrer Spiritualität und ihren spirituellen Bedürfnissen, als dass sie sich selbst als religiös bezeichnen. Diese Wortwahl ist interessant. Allerdings ist die Rede von Spiritualität dabei in keiner Weise eindeutig. Wenn man nachfragt, was der Einzelne mit Spiritualität meint, bekommt man ganz unterschiedliche Antworten. Der Begriff bleibt diffus.


"Spiritualität ist ein Modewort"

HK: Ein Modephänomen und ein Verlegenheitsbegriff also?

GEBHARDT: Nein, um eine Verlegenheit geht es nicht. Wenn man sich die Geschichte des Spiritualitätsbegriffes anschaut, zeigen sich zwei Wurzeln dieses Wortes und damit auch zwei unterschiedliche Bedeutungen. Die eine liegt im romanischen Ordenskatholizismus begründet. Hier war Spiritualität als Gegenbegriff gemeint, gegen das ganz normale, triviale Sonntagschristentum. Mit diesem Begriff war die Forderung verbunden, das ganze Leben im christlichen Geist zu führen. Dieser Spiritualitätsbegriff lebt in der katholischen Kirche fort. Eine zweite Wurzel findet sich im Protestantismus, insbesondere in den protestantischen Sekten und Freikirchen. Hier steht Spiritualität dafür, dass allein die eigene religiöse Erfahrung wichtig und entscheidend ist. Dieser Spiritualitätsbegriff ist von Beginn an antiklerikal und antidogmatisch und setzt auf die eigene religiöse Erfahrung im Zugang zu Gott.

HK: Heute scheint doch eher Letzteres gemeint, wo geradezu inflationär von Spiritualität beziehungsweise spiritueller Suche oder spirituellen Sehnsüchten gesprochen wird ...

GEBHARDT: Beide Bedeutungen fließen heute zusammen, vermischen sich. Der zweite Bedeutungsstrang, demnach Spiritualität für die hohe Bedeutung des subjektiven religiösen Erlebnisses steht, scheint aber vor allem für diejenigen zentral, die von ihrer Suche nach Spiritualität sprechen. Ich bezeichne dies als die Selbstermächtigung des religiösen Subjektes. Zweifelsohne ist diese Selbstermächtigung des religiösen Subjekts eines der wesentlichen Kennzeichen unserer religiösen Gegenwartskultur: Man will sich nichts mehr von oben sagen lassen, sondern über seine Religiosität und Spiritualität selbst entscheiden. Diese Entscheidung trifft man aufgrund eigener religiöser Erfahrungen und dem Anspruch auf eigene religiöse Kompetenz.


"Eine Ästhetisierung und Verkörperlichung des Religiösen"

HK: Muss demnach diese Form von Religiosität also auch als Gegenbewegung verstanden werden gegenüber verfasster Religion und organisierter Religiosität, nicht zuletzt gegen die Institution Kirche?

GEBHARDT: Auch dies ist nicht eindeutig zu beantworten, weil sich hier Vielfältiges miteinander vermischt und es klare Positionierungen kaum mehr gibt. Wir beobachten diese Spiritualisierung im Sinne einer hohen Wertschätzung der eigenen religiösen Erfahrung sowohl innerhalb wie auch außerhalb der Kirchen. Die typische Haltung lässt sich so beschreiben: Da wo ich glaube, dass meine spirituellen Bedürfnisse erfüllt werden können, da wo es mir gestattet ist, religiöse spirituelle Erfahrungen machen zu können und wo mich das Angebot anspricht, da gehe ich hin.

HK: Und wenn es den Kirchen gelingt, entsprechende Angebote zu machen, finden sie auch Resonanz?

GEBHARDT: Solche Angebote werden dann durchaus gut angenommen. Beispiele dafür finden Sie in den Hochschulgemeinden, in kirchlichen Bildungshäusern, bei Ordensgemeinschaften, die spirituelle Begegnungszentren betreiben. Da trifft man dann sehr oft auch Leute, die von sich sagen, eigentlich mit der Kirche nichts mehr zu tun zu haben, aber dieses Angebot interessiere sie.

HK: Lässt sich dies aber nicht doch soziologisch als Trend beschreiben, in dem Sinn, dass solche stark subjektivierte Religiosität zugenommen hat, zumal im Vergleich zu traditioneller Kirchlichkeit und Frömmigkeit?

GEBHARDT: Diesen oft angenommenen Trend zu quantifizieren ist ausgesprochen schwierig. In diesem Bereich kommt man kaum zu gesicherten Daten. Was man an Daten hat, sind Kirchenmitgliedschaftszahlen, Kirchenaustritte, Gottesdienstbesuche. Auf der Grundlage dieser Daten lässt sich zumindest sagen, dass man von einer Wiederkehr der Religion oder der Religiosität nicht sprechen kann. Aber natürlich ist Religion mehr als Kirchenmitgliedschaft und Gottesdienstbesuch. Dabei gibt es Kollegen aus der Soziologie, die wie in dem so genannten Religionsmonitor von Bertelsmann versuchen, auch individuelle Religiosität zu messen. Aber solchen Versuchen stehe ich skeptisch gegenüber. Und nebenbei, auch die Ergebnisse des Religionsmonitors liefern keinen Beleg für die so genannte Wiederkehr der Religion.

HK: Innerhalb der Kirchen wirft man sich immer wieder wechselseitig vor, nicht angemessen auf die spirituellen Bedürfnisse der durchaus suchenden Zeitgenossen zu reagieren? Sind solche Vorwürfe berechtigt? Geben die Kirchen wirklich oft die falschen Antworten auf die Bedürfnisse und Sehnsüchte des Zeitgenossen?

GEBHARDT: Ich bin nicht zuständig, kirchliche Angebote zu beurteilen. Um Antworten auf diese Frage zu finden, müssen jedoch in jedem Fall noch zwei weitere Prozesse beachtet werden, die aus der Sicht des Soziologen typisch sind für die religiöse Gegenwartskultur: Die Ästhetisierung des Religiösen und damit zusammenhängend ein Prozess, den man am besten als Verkörperlichung des Religiösen beschreiben kann. Hinter diesen beiden Prozessen und den sie beschreibenden Begriffen steht das durchaus beobachtbare Bedürfnis, religiöse Erfahrungen mit sozusagen allen Sinnen machen zu wollen, die Sehnsucht nach einem totalen religiösen Erlebnis. Dieses Bedürfnis zeigt sich auf vielfältige Art.

HK: Welche liturgischen, pastoralen, spirituellen Angebote entsprechen demnach diesem Bedürfnis am besten?

GEBHARDT: Das beginnt ganz einfach bei der hohen Attraktivität von Kerzen-Gottesdiensten oder Lichter-Prozessionen und reicht bis zu Klang- und Lichtinstallationen in Kirchenräumen wie außerhalb. Man versucht in Gottesdiensten wieder körperliche Berührung zu ermöglichen bis hin zu ausdrücklichen Heilungs- und Salbungsgottesdiensten. Mit alldem reagiert man auf den Wunsch, Religion nicht nur über den Kopf, nicht nur kognitiv zu begreifen und nachzuvollziehen, sondern, wie die Befragten in unseren Studien selber sagen, Religion als ganzheitliches Phänomen mit Körper, Seele und Geist begreifen zu können. Versuche, diesem Bedürfnis Rechnung zu tragen und Gottesdienste zu gestalten, in denen solche Erfahrungen möglich sind, gibt es in der katholischen wie in den protestantischen Kirchen. Und es lässt sich schon beobachten, dass solche Gottesdienste auch gut ankommen. Die Teilnehmenden erzählen davon meist sehr begeistert.


"Die Gemeinschaftsformen werden lockerer und unverbindlicher"

HK: Wie steht es um die Bereitschaft, das Erfahrene auch zu reflektieren? Steckt in diesen Prozessen der Ästhetisierung und der Verkörperlichung ein ausdrücklich auch anti-intellektueller Aspekt?

GEBHARDT: Ja, auch ein anti-theologischer. In bestimmten Kreisen, die sich selbst als explizit spirituell definieren, wirft man in der Tat der Kirche, dem kirchlichen Amt und der Theologie insbesondere vor, "verkopft" zu sein - wie das dort so schön heißt.

HK: Ist diese in so hohem Maße subjektivierte Religiosität gleichermaßen auch individualisiert. Oder umgekehrt: Brauche ich denn überhaupt noch die Gruppe, die Gemeinschaft oder Gemeinde für meine religiösen Bedürfnisse? Welche sozialen Formen sucht das religiös selbstermächtigte Subjekt?

GEBHARDT: In jedem Fall nicht mehr die klassischen Sozialformen. Wenn man es provozierend formulieren will, dann muss man wohl sagen, dass die klassische Kirchengemeinde ein Auslaufmodell ist. Das heißt aber ganz sicher nicht, dass es kein Bedürfnis mehr nach religiösem Erleben in Gemeinschaft gibt. Nur die Gemeinschaftsformen werden lockerer und unverbindlicher - aber das beobachten wir in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen auch. Damit entstehen in der Tat neue Vergemeinschaftungsformen.

HK: Und der sonntägliche Gottesdienst stellt genauso ein Auslaufmodell dar?

GEBHARDT: Es gibt immer noch die sehr gut besuchten sonntäglichen Gottesdienste - das sind Gottesdienste, die von, vereinfacht könnte man sagen, "begabten" Priestern mit besonderer Anziehungskraft und Ausstrahlung gehalten werden. Und wenn man sich anschaut, wer da hingeht, stellt man fest, dass die Leute oft am Sonntag 30, 50 auch 80 Kilometer fahren, um genau in dieser Kirche, bei diesem Priester in den Gottesdienst zu gehen. Ein anderes Beispiel sind einzelne geistige Zentren, oftmals von Ordensgemeinschaften getragen, die über den normalen Sonntagsgottesdienst hinaus ein spirituelles Begegnungsangebot organisieren: Auf den Gottesdienst folgen in der Regel weitere Programmpunkte für Kinder und Erwachsene am Nachmittag, sowohl im spirituell-religiösen Bereich, als auch im Freizeitbereich, dazwischen das gemeinsame Mittagessen. Auch solche Angebote besitzen offenkundig hohe Attraktivität.

HK: Das erinnert schon wieder etwas an die klassische Wallfahrt ...

GEBHARDT: ... es sind aber keine Wallfahrten, sondern nur erweiterte Sonntagsgottesdienste mit gemeinschaftlichem Beiprogramm. Und dann gibt es noch die religiösen Großevents, die insbesondere bei Jugendlichen stark nachgefragt sind. Anders aber als man in den Kirchenleitungen erwartet, führen diese nicht dazu, dass Jugendliche, die an solchen Events teilnehmen, sich hinterher auch in ihren Kirchengemeinden engagieren. Sie suchen dort das religiöse Erleben, die religiöse Erfahrung, die sie in ihren Heimatgemeinden oft vermissen, und berichten hinterher ganz begeistert davon. Diese Begeisterung aber konzentriert sich ganz wesentlich auf solche Ausnahmeveranstaltungen.

HK: Sie haben ja auch ein große, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte Studie zum Kölner Weltjugendtag 2005 durchgeführt. Kann man, im Rückblick von fünf Jahren, ganz banal sagen, auch hier hat sich die Kirche etwas vorgemacht?

GEBHARDT: Jedenfalls diejenigen, die von den Weltjugendtagen glaubten, diese werden nachhaltig in dem Sinne sein, dass sie zur Stärkung etwa der Jugendarbeit in der klassischen Kirchengemeinde führen. Aber ich halte dennoch die katholischen Weltjugendtage für eine sehr sinnvolle Veranstaltung. Denn jenseits der erwünschten Nebenfolge, dass Kirche und Religion wieder in den Focus der Medien geraten, geht es ja vor allem darum, den Jugendlichen die Möglichkeit zu schaffen, explizite religiöse oder spirituelle Erfahrungen machen zu können.

HK: Und welchen Stellenwert hat hier der Gemeinschaftsaspekt?

GEBHARDT: Die Jugendlichen können dabei erfahren, dass sie als Katholiken und Katholikinnen nicht ganz alleine auf der Welt sind. In einem Interview, das wir für die Studie durchgeführt haben, hat ein junges Mädchen gesagt: "In Köln konnte ich erfahren, dass Glaube auch richtig cool sein kann." Wenn man weiß, wie wichtig es für Jugendliche ist, cool zu sein, dann weiß man auch, wie wichtig eine solche Erfahrung ist. Denn selbst in jenen Gegenden in Deutschland, von denen es heißt, sie seien noch katholisch geprägt, machen Jugendliche, die sich selbst in der Kirche verorten, laufend Marginalisierungserfahrungen in ihrem persönlichen Umfeld, in Schule und Freundeskreis. Sie werden für doof gehalten, wenn sie erklären, dass sie noch zur Kirche gehören. Für viele Jugendliche, wir haben das dauernd in Köln zu hören bekommen, war es eine sehr wichtige Erfahrung, zu sehen, dass es auch noch andere gibt, die an Gott glauben, und dass dieser Glaube eben eine coole Sache sein kann. Insofern stärkt eine solche Erfahrung ihre Religiosität, ihren Glauben.

HK: Wie verhält sich bei Jugendlichen wie Älteren diese Suche nach spiritueller Erfahrung zum Alltagsleben? Ist sie vor allem Gegenbewegung, hat sie vorwiegend kompensatorische Funktion gegenüber den verschiedenen Alltags-Rationalitäten und Zwängen?

GEBHARDT: Auch das lässt sich kaum summarisch beantworten, weil Spiritualität eben ein Sammelbegriff ist für ganz unterschiedliche Dinge und unterschiedliche Bedürfnisse. Es gibt sicherlich Menschen, die versuchen, ganz im Sinn der ersten Wortbedeutung von Spiritualität, sozusagen ihr ganzes Leben im christlichen Geist oder auch in einem anderen, oft naturreligiösen Geist zu führen. Sie versuchen ihren ganzen Alltag religiös durchzustylen. Allerdings halte ich das für ein Minderheitenphänomen. Relevanter scheint mir die häufige Suche nach außeralltäglichen Fluchtpunkten, nach Versuchen sich Gelegenheiten zu schaffen, die es erlauben, sich moralisch, geistig und spirituell aufzurüsten; die Sehnsucht nach Orten, wo man das ganz Andere erleben kann, nach Erfahrungen, die von einem bedrückenden Alltag situativ entlasten und wieder Kraft geben, diesen Alltag zu bestehen.


"Sinngebung des Alltags und auch Flucht aus dem Alltag"

HK: Wird diese Art religiöser oder spiritueller Ausnahmesituationen künftig an Bedeutung gewinnen, etwa unter einem weiter steigenden Druck im Berufsalltag?

GEBHARDT: Vermutlich schon. Aber meist ist es sehr, sehr schwierig zu beurteilen, ob eine bestimmte religiöse Erfahrung nur der Kompensation dient, ob man für den Moment etwas sucht, das im Alltag fehlt. Oder ob man im Erlebnis des ganz Anderen, des Außeralltäglichen einen Sinn findet, der den Alltag trägt. Sinngebung des Alltags oder Flucht aus dem Alltag - beides kommt vor.

HK: Geht denn die Aversion gegenüber einer allzu "verkopften" Religiosität beziehungsweise der anti-theologische Affekt soweit, dass man die eigene spirituelle Erfahrung weder zu reflektieren noch verantwortet zu kommunizieren bereit ist?

GEBHARDT: Naja, etwas provozierend gesprochen könnte man sicherlich sagen, das theologische Bildungsniveau der Laien ist in beiden Kirchen nicht besonders hoch. Aus der Perspektive der Theologen betrachtet, mag das bedauerlich sein. Aber wer sich mit der Geschichte der Volksreligiosität oder Volksfrömmigkeit beschäftigt, muss zugeben, dass das Bedürfnis nach theologischer Durchdringung und theologischer Reflexion des eigenen Glaubens bei den normalen Laien niemals besonders ausgeprägt war. Immer gab es eine gewisse Ambivalenz zwischen den Ausführungen der Theologen und den Bedürfnissen der Laien. Diese Ambivalenz ist heute nur sichtbarer.

HK: Dennoch, widersetzt man sich dem ja in den Kirchen durchaus erhobenen Anspruch auf Reflexion und verantworteter Kommunikation oder sieht man schlicht nur keinen Sinn und Nutzen darin?

GEBHARDT: Man verweigert sich nicht. Aber auch das gehört eben zur Selbstermächtigung des religiösen Subjektes, nämlich die Formulierung eigener Ansprüche an die Theologie. Auch hier erinnere ich mich an ein vielsagendes Zitat aus einer Untersuchung: "Theologie bedeutet, einfache Dinge in schwierige Wort zu fassen." Das heißt vor allem, man erwartet heute von den Theologen, einfache Dinge auch so gesagt zu bekommen, dass man sie unmittelbar verstehen kann. Da tut sich die Theologie schon schwer damit.


"Man spricht sich eine eigene religiöse Kompetenz zu"

HK: Gehört der Wunsch nach Einfachheit gleichermaßen wesentlich zu den spirituellen Bedürfnissen des Zeitgenossen wie Ästhetisierung und Verkörperlichung?

GEBHARDT: Das sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Auf der einen Seite steht der Anspruch, dass Religion mehr ist als nur die Verkündigung des Wortes. Religion muss mit allen Sinnen erfahrbar sein. Auf der anderen Seite entzieht man sich durchaus nicht einer rationalen Reflexion, aber man fordert, dass diese die ganzheitlichen und auch körperlichen Bedürfnisse ernst nimmt und in einer Art und Weise erfolgt, dass jeder und jede mitreden kann.

HK: Und dabei darf auch jeder glauben, was er will, solange er oder sie Erfahrungen und Bedürfnisse nur authentisch zur Sprache bringt - das war, zugegeben etwas vereinfacht, zumindest ein Ergebnis des Religionsmonitors.

GEBHARDT: Hier finden wir wieder den zweiten Bedeutungsstrang von Spiritualität, dass es die eigene religiöse Erfahrung ist, die zählt. Hier ist die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts mit einer gewissen Feindschaft gegenüber Institutionen und Autoritäten verbunden. Man spricht sich eine eigene religiöse Kompetenz zu. Die eigene Erfahrung ist wichtig, zentral. Und der andere macht eben auch seine eigenen Erfahrungen.

HK: ... die ganz anders, auch fremd sein können ...

GEBHARDT: ... und jeder und jede hat auch das Recht dazu, weil er eben auch ein Subjekt und ein Individuum ist. Mit dieser Haltung kann natürlich organisierte Religion nur schlecht umgehen. Weil sie ja immer noch einen Führungs-, Wahrheits- und einen Leitungsanspruch hat. Aber das ist nun einmal das zentrale Kennzeichen unserer religiösen Gegenwartskultur: Dass sich nämlich bisher existierende klare Konturen des Religiösen auflösen und ein relativ diffuses Feld an religiösen und spirituellen Orientierungen entsteht.

HK: Und wie begegnet man dann konkret diesem Führungs- und Leitungsanspruch - Widerstand, Ignoranz oder totale Indifferenz?

GEBHARDT: Auch hier muss man wieder stark differenzieren. Die Altersgruppe der Über-50-Jährigen hat in ihrer religiösen Sozialisation Kirche oft noch als eine autoritäre Gnadenanstalt erlebt. Viele berichten in Studien noch von Erfahrungen, unter denen man nach wie vor leidet, etwa der Bedrohung mit Höllenstrafen. Bei den jüngeren Leuten lässt sich sehr deutlich ein viel lockeres Verhältnis gegenüber der "Amtskirche" beobachten. Das zeigte auch die Studie zum Weltjugendtag. Eine autoritäre Kirche haben die Jugendlichen zwischen 16 und 20 Jahren nicht mehr erlebt. Entsprechend müssen sie sich nicht mehr abgrenzen, zumindest nicht mehr in der Deutlichkeit wie die ältere Generation. Sie sind Kinder der Freiheit. Sie hören sich an, was Papst und Bischöfe sagen, entscheiden dann aber in eigener Kompetenz, was für sie richtig ist. Die Kirche unterbreitet sozusagen ein Angebot, man prüft und übernimmt, was einem zusagt; was einem nicht zusagt, das lässt man eben bleiben.


Winfried Gebhardt (geb. 1954) ist seit 1998 Professor für Allgemeine Soziologie am Institut für Soziologie der Universität Koblenz-Landau. Zusammen mit anderen verfasste er die Studien "Megaparty Glaubensfest. Weltjugendtag: Erlebnis - Medien - Organisation" (2007) und "Die unsichtbare Religion in der unsichtbaren Religion. Formen spiritueller Orientierung in der religiösen Gegenwartskultur" (2009).


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 6, Juni 2010, S. 286-290
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. August 2010