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FRAGEN/017: Ethik-Kommission - "Positionen argumentativ darlegen" (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 6/2011

"Positionen argumentativ darlegen"
Ein Gespräch über Ethik-Gremien mit dem Moraltheologen Eberhard Schockenhoff


Der Ethik-Kommission zur Energiepolitik wie dem Nationalen Ethikrat begegnete man zu Beginn mit großer Skepsis, vor allem was deren politische Unabhängigkeit betrifft. Welche Rolle Vertreter der Kirchen und der Theologie in diesen Gremien spielen, darüber sprachen wir mit dem Freiburger Moraltheologen Eberhard Schockenhoff, Mitglied des Deutschen Ethikrates. Die Fragen stellte Alexander Foitzik.


HK: Herr Professor Schockenhoff, die von der Bundeskanzlerin unter dem Eindruck der Atom-Katastrophe in Fukushima einberufene Ethik-Kommission zur Energiepolitik stieß noch vor ihrem ersten Treffen auf heftige Kritik. Die einen sahen darin eine reine Alibi-Veranstaltung, andere eine problematische Verlagerung politischer Meinungsbildung und Entscheidungsprozesse. Diese Kritik erinnert an die Startphase des so genannten "Nationalen Ethikrates", dem Sie von Anfang an angehörten ...

SCHOCKENHOFF: Damals gab es die gleichen öffentlichen Vorwürfe. Der Plan des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder sah vor, dass eine nationale Ethik-Kommission, ein Ethik-Rat, gegründet werden soll. Auch dafür gab es einen aktuellen Anlass: die Debatte um die Einfuhr embryonaler humaner Stammzellen. Es entstand eine heftige öffentliche Debatte und man unterstellte, dass der Bundeskanzler beziehungsweise die Bundesregierung mit der Einberufung eines Nationalen Ethikrates sich nur die Legitimationsgrundlage für das eigene politische Handeln beschaffen wollten. Damals gab es ja auch noch die Enquete-Kommission des Parlamentes zur Bioethik, die von ihrer Zusammensetzung her eher erwarten ließ, dass sie einen Import embryonaler Stammzellen nicht befürworten würde. So aber, wie der Nationale Ethikrat zusammengesetzt war, konnte die Bundesregierung Zustimmung zu einer Importregelung erwarten. In der öffentlichen Wahrnehmung war der Ethik-Rat damit aber ein Ad-hoc-Gremium, das eigens berufen worden war, eine erwünschte Stellungnahme abzugeben.

HK: Stand nicht entsprechend jetzt die neue Ethik-Kommission unter dem Verdacht, die Legitimationsgrundlage für den Ausstiegsbeschluss der Bundesregierung schaffen zu müssen?

SCHOCKENHOFF: Ja, man vermutete, die beteiligten Wissenschaftler und insbesondere auch die wissenschaftliche Ethik sollten diesen Ausstiegsbeschluss als notwendig darlegen und damit in der Öffentlichkeit für eine Stimmung sorgen, in der der Beschluss von einer breiten Mehrheit mitgetragen wird. Wobei die öffentliche Meinung ohnehin zu einem Ausstieg aus der Atomenergie tendiert. Anders als beim Nationalen Ethikrat, der als Deutscher Ethikrat seit 2007 auf der Grundlage eines Bundesgesetzes arbeitet, war die Ethik-Kommission aber ein Gremium, das einen zeitlich begrenzten Auftrag hat. Wenn das Gutachten zum Ausstieg erstellt ist, wird sie sich wieder auflösen. Der Deutsche Ethikrat dagegen ist ein permanentes Gremium, das die gesetzlichen Initiativen auf dem Gebiet der modernen Lebenswissenschaften beraten und entsprechend vorbereiten soll.

HK: Können Sie eine gewisse Skepsis gegenüber der neuen Ethikkommission wie auch dem Deutschen Ethikrat nachvollziehen?

SCHOCKENHOFF: Es ist eine durchaus berechtigte Frage, ob man als Wissenschaftler die eigene Freiheit und Unabhängigkeit riskiert, wenn man einen Auftrag annimmt, bei dem es nur eine geringe Bandbreite eigener Bewertungen und Stellungnahmen gibt und die Politik sehr eindeutig Anforderungen und Erwartungen definiert hat. Andererseits ist in vielen politischen Entscheidungen heute auch ein hoher wissenschaftlich-ethischer Sachverstand erforderlich. In der Frage des Ausstiegs aus der zivilen Nutzung der Kernenergie liegt die ethische Herausforderung freilich etwas anders als bei den meisten Problemen, mit denen wir im Ethikrat zu tun haben: Lebensschutz, Stammzellforschung zuletzt die Präimplantationsdiagnostik.

HK: Worin besteht dann letztlich der Unterschied?

SCHOCKENHOFF: Bei den ethischen Problemen verbunden mit den Lebenswissenschaften geht es nicht nur um die Frage, wie die Absichten, Intentionen bestimmter Forschungsvorhaben zu beurteilen sind, sondern auch darum, wie eine Untersuchungsmethode oder ein bestimmtes Forschungsvorhaben als solches zu bewerten ist. Sie müssen geprüft werden, ob sie eine Instrumentalisierung menschlichen Lebens beinhalten. Es ist ja eine Grundüberzeugung unserer Rechtskultur, dass jeder Mensch eine unverlierbare Würde besitzt und deshalb um seiner selbst willen geachtet werden muss. Einige Verfahren der Gentechnik oder der Embryonenforschung beruhen aber darauf, dass sie menschliches Leben am Anfang seiner Entwicklung für fremde Ziele benutzen. Und neben der Rechtfertigung der Ziele und der Bewertung der Methode als solcher geht es schließlich auch darum, die Folgen abzuschätzen. Während in den meisten Fragen der Bioethik vor allem die Rechtfertigung der Methode scheitert, weil sie eben eine Instrumentalisierung beinhaltet, geht es bei der Frage der Kernenergie in erster Linie um die Folgenabschätzung. Die Methode als solche ist ethisch neutral, aber die mit ihr verbundenen Folgen sind, gerade im Schadensfall, wegen ihrer unvorstellbaren zeitlichen Reichweite und der Unbeherrschbarkeit ein ethisches Problem.

HK: Wer ist der eigentliche Adressat der Arbeit des Ethikrates? Geht es nur um die Meinungs- und Gewissensbildung des einzelnen Politikers? Die Ethik-Kommission zur Energiepolitik soll ja ausdrücklich zu einem gesellschaftlichen Konsens beitragen. Wie soll das funktionieren?

SCHOCKENHOFF: Für den Ethikrat ist das gesetzlich definiert: Auftraggeber und erster Adressat unserer Stellungnahmen sind das Parlament und die Bundesregierung, politische Instanzen. Wir sind aber auch beauftragt, durch öffentliche Veranstaltungen und durch unsere Stellungnahmen die öffentliche Debatte über ethische Fragen der Lebensethik mitzubeeinflussen. Unsere Stellungnahmen werden so beispielsweise von Schulen angefordert und im Unterricht behandelt. Zu unseren Berliner Bioethik-Foren kommen viele Meinungsführer aus der Medienlandschaft, aus den entsprechenden Verbänden, der Ärzteschaft. Es gibt also durchaus Ansätze zu einem strukturierten Dialog mit der Öffentlichkeit.

HK: Ist von einem "ethischen Konsens" in einer so plural gewordenen Gesellschaft noch sinnvoll zu reden?

SCHOCKENHOFF: Er ist jedenfalls faktisch nicht mehr erreichbar. Natürlich wäre es auch in einer demokratischen Gesellschaft wünschenswert, dass der Vorrat an gemeinsamen ethischen Grundüberzeugungen nicht immer weiter erodiert, dass, wie es in der politischen Ethik heißt, der "überlappende Konsens", eine gemeinsame Schnittmenge an persönlichen Wertüberzeugungen der einzelnen Bürgerinnen und Bürger, möglichst zentrale Lebensbereiche abdeckt. In der so genannten Grundwertedebatte Mitte der siebziger Jahre, als es um die Vorbereitung der Gesetzgebung zum Abtreibungsrecht ging, war vom "ethischen Minimum" die Rede: um zu beschreiben, dass die Rechtsordnung eines Staates nicht auf eine umfassende Tugend- oder Wahrheitsordnung gegründet sein kann, sondern ein bescheideneres Ziel verfolgt, nämlich nur ein Zusammenleben der Bürger in Sicherheit und äußerem Rechtsfrieden zu schützen. Aber schon damals konnte keine Einigung erreicht werden, was nun Gegenstand dieses ethischen Minimums ist, das auch in einer pluralen Gesellschaft verbindlich und durch die Rechtsordnung geschützt sein muss.

HK: Ist dieses ethische Minimum im Vergleich zu den siebziger Jahren noch einmal kleiner geworden?

SCHOCKENHOFF: Schon damals zeigte sich insbesondere eine weit reichende Uneinigkeit, was die zentrale Stellung des Lebensrechtes unter den Grundrechten anbelangt. Dieser gesellschaftliche Dissens hat sich noch weiter verschärft. Das spiegelt sich natürlich auch in den Empfehlungen und Voten des Ethikrates zur Stammzellforschung oder der Präimplantationsdiagnostik.

HK: Ist die Einrichtung von Ethikräten oder -kommissionen aber nicht umgekehrt auch ein Symptom dafür, dass es so etwas wie eine gesellschaftliche Rückbesinnung gibt, ein Unwohlsein mit der fortschreitenden Erosion dieses ethischen Minimums?

SCHOCKENHOFF: Sie ist zumindest Ausdruck eines echten Dilemmas, in dem der demokratische Staat steht, und das eben auch das Handeln der politischen Entscheidungsträger berührt. Denn wenn es einen wachsenden ethischen Pluralismus gibt, auch in tragenden Grundüberzeugungen eine wachsende Uneinigkeit die Gesellschaft bestimmt, dann verschärft sich natürlich auch der Legitimationsdruck, unter dem politische Entscheidungen stehen. Der moderne Staat kann hinsichtlich der ethischen Loyalitätserwartung an seine Bürger nur noch die Bereitschaft zu einer, wie man in der politischen Philosophie sagt, "Gerechtigkeitsmoral" voraussetzen. Es geht also nicht mehr um eine tragende moralische Ordnung, die alle Lebensbereiche abdecken würde, das wäre auch mit der freiheitlichen Verfassung des modernen Staates nicht zu vereinbaren. Zugleich - und darin liegt nun das Dilemma - muss der Staat damit aber die Frage, woher die Bürgerinnen und Bürger die Kraft und die moralischen Ressourcen für die Erfüllung ihrer Gerechtigkeitspflichten nehmen, diesen selbst überlassen. In dem Maße, wie insbesondere die beiden großen Kirchen die Aufgabe, die moralischen Voraussetzungen des Staates zu garantieren, nicht mehr verlässlich wahrnehmen können, ist der Staat in neuer Weise gefordert, selbst subsidiär tätig zu werden. Somit sind eben G remien wie der Deutsche Ethikrat auch Ausdruck, dass die Politik allein die Aufgabe der ethischen Legitimation ihres Handelns nicht mehr leisten kann.

HK: Lässt sich nach den zehn Jahren, die der Nationale Ethikrat beziehungsweise der Deutsche Ethikrat nun besteht, sagen, dass er dieser Erwartung oder Aufgabe gerecht wird?

SCHOCKENHOFF: Im internationalen Vergleich werden der deutschen Gesellschaft und Politik allgemein bestätigt, dass sie im Vorfeld gesetzgeberischer Entscheidungen zu Fragen der Biopolitik anspruchsvolle Debatten führen und dass man hier auch um einen ethischen Konsens ringt. Dieser Konsens kann aber nicht in dem Sinn gefunden werden, dass am Ende das Ergebnis, das durch parlamentarische Mehrheitsentscheidung gefällt wird, von allen mitgetragen werden kann. Dazu sind die sachlichen Differenzen zu erheblich; sie lassen sich nicht durch Konsens-Strategien überwinden. Aber die Erwartung der Politik an ein Gremium wie den Ethikrat richtet sich ja auch darauf, dass es der unterlegenen Gruppe am Ende leichter fällt, ein Ergebnis zu akzeptieren. Eben, wenn zuvor die Möglichkeit bestand, alle kontroversen Argumente auch ausgiebig, respektvoll und fair zu diskutieren.

HK: Was heißt das konkret für die Zusammenarbeit im Ethikrat, für den Umgang mit diesen erheblichen sachlichen Differenzen?

SCHOCKENHOFF: Viele der diskutierten Probleme weisen eine sehr hohe Komplexität schon in der Interpretation des Sachstandes auf. Insofern wird vom Ethikrat auch erwartet, durch interdisziplinäre Zusammenarbeit die Komplexität einer Fragestellung so weit zurückzuführen, dass sie in ihren Grundzügen verstanden werden kann. So gehört zu unseren Stellungnahmen am Anfang ein umfassender Sachstandsbericht, der immer in großer Einmütigkeit erarbeitet und verabschiedet wird. In der Regel gelingt es auch, die tragenden Prinzipien, die für eine ethische Bewertung zu berücksichtigen sind, noch gemeinsam zu formulieren. Nur auf der Ebene der Urteile selbst kommt es dann eben zu unterschiedlichen Bewertungen und Positionen.

HK: Politikberatung findet in vielerlei Hinsicht statt. Ist die Skepsis oder sind die Erwartungen gegenüber einer ethischen Beratung der Politik höher als in anderen Bereichen?

SCHOCKENHOFF: Insofern ja, als es nach der Vorlage kontroverser Voten gelegentlich heißt: Wozu brauchen wir überhaupt ein Ethikgremium, wenn dieses am Ende doch keine Einmütigkeit herbeiführen kann und wenn sich in der Stellungnahme des Ethikrates dieselben gegensätzlichen Positionen spiegeln, die es auch in der Gesellschaft und den Parlamentsfraktionen gibt? Dahinter steckt eine in der Sache unrealistische Erwartung: Einerseits soll der Ethikrat seiner demokratischen Legitimation wegen ein getreues Abbild gesellschaftlicher Gruppen sein und die in der Gesellschaft erlebten Werthaltungen repräsentieren. Dann kann man aber andererseits auch keine Einmütigkeit erwarten, weil es eben diese in der Gesellschaft auch nicht mehr gibt.

HK: Insgesamt vier Vertreter beider großer Kirchen sitzen im Deutschen Ethikrat und auch in die neue Ethik-Kommission zur Energiepolitik wurden Vertreter der Kirchen berufen. Repräsentieren diese jeweils schlicht die immer noch sehr große Gruppe der Christen in der Gesellschaft? Oder wird von den Kirchen in ethischen Fragen und gerade in Krisenzeiten nach wie vor eine besondere ethische Kompetenz erwartet?

SCHOCKENHOFF: In der Öffentlichkeit werden die Vertreter der beiden großen Kirchen im Ethikrat in einem Atemzug genannt, auf evangelischer Seite die Landesbischöfe Wolfgang Huber und Christoph Kähler, auf katholischer Seite Weihbischof Anton Losinger und ich. Wir sind aber formell nicht in gleicher Weise als Vertreter der jeweiligen Kirchen im Ethikrat, sondern auf katholischer Seite nur Bischof Losinger. Ich bin als Vertreter der theologischen Wissenschaft eingeladen. Dass die beiden Kirchen gesellschaftlich immer noch eine gesellschaftlich relevante Gruppe repräsentieren, sie gerade auch in moralischen Fragen als zu beachtende Autorität gelten, kann man, wo es etwa um Friedenssicherung, weltweite Gerechtigkeit oder eben den Lebensschutz geht, fraglos behaupten.

HK: Was wird konkret von den Kirchen und ihren Vertretern erwartet und wie steht es um die Bereitschaft, in ethischen Fragen tatsächlich auf die Kirchen zu hören?

SCHOCKENHOFF: Ihr Urteil wird nicht blind übernommen, sondern es geht darum, in einem kritischen Dialog Argumente einzubringen, die grundsätzlich zustimmungsfähig sind. Nur eine Autoritätsstellung allein hilft auch der Kirche nicht mehr, ihre Position zu Gehör zu bringen. Wohl aber sind die Kirchen noch gefragt als Ratgeberinnen, dort wo sie tatsächlich teilnehmen an einem gesellschaftlichen Diskurs und ihre bewährte praktische Lebensweisheit einbringen.

HK: Die Beteiligung der Kirche im Nationalen Ethikrat war zu Beginn intern nicht unumstritten ...

SCHOCKENHOFF: Man hatte Sorge, dass wenn Vertreter der Kirche sich an einem solchen Gremium beteiligen, sie auch für kompromissartige Ergebnisse in Mithaftung genommen würden und es dadurch zu einer Verdunkelung der kirchlichen Botschaft in wichtigen Fragen der politischen Ethik und vor allem des Lebensschutzes kommt. In den letzten Jahren aber ist ein solcher Verdacht aufgrund der Arbeit des Deutschen Ethikrates gar nicht mehr geäußert worden. Denn es ist ja nicht so, dass der Ethikrat am Ende nur eine mehrheitlich zusammengekommene Stellungnahme abgibt. Wir haben meistens mehrere Voten und wir nützen dabei die Möglichkeit, unsere Positionen auch argumentativ darzulegen und aufzuzeigen, welchen grundlegenden Prinzipien, welchem Menschenbild, welcher Weltsicht sie sich verdanken.

HK: Dabei ist es doch beiden Kirchen unbenommen, sich jederzeit mit Stellungnahmen, Erklärungen ins gesellschaftliche Gespräch einzubringen, zu ethischen Fragen öffentlich Stellung zu beziehen. Worin besteht der Unterschied zu einer Beteiligung im Ethikrat oder anderen vergleichbaren Kommissionen?

SCHOCKENHOFF: Die Kirche sollte alle denkbaren Wege nützen, um ihre Botschaft und Überzeugung auch zu gesellschaftlich strittigen ethischen Fragen öffentlich zu vertreten. Der Deutsche Ethikrat ist ein solches öffentliches Forum, eine Plattform des gesellschaftlichen Dialogs, seine Debatten und Stellungnahmen finden weite mediale Beachtung. Da gibt es keine Konkurrenzsituation zwischen Kommunikationswegen, die die Kirche von sich aus nutzen kann, und solchen Foren des gesellschaftlichen Dialogs, die von Seiten der Politik geschaffen werden.

HK: Müssen sich die Kirchen mit der Teilnahme beispielsweise an der Ethik-Kommission zur Energiepolitik vor einer politischen Instrumentalisierung fürchten?

SCHOCKENHOFF: Aufgabe einer wissenschaftlichen Expertise, die die Grundlagen für eine politische Entscheidung darlegen soll, ist es auch, dass man im Blick auf die Voraussetzungen des eigenen Urteils die nötige Skepsis walten lässt. Und es gehört eben auch zu einem wissenschaftlichen Urteil, dass es die andere Seite stark macht und nicht verschweigt. Das Gutachten der Ethik-Kommission ist daran zu bemessen, ob und wieweit es diesen wissenschaftlichen Standard berücksichtigt. Am Ende aber muss die Politik eine Entscheidung treffen und muss sich dabei auch gegen Sichtweisen entscheiden, die gleichfalls über eine gewisse Plausibilität verfügen. Das ist der Ermessenspielraum der Politik, den sie in eigener Verantwortung ausfüllen muss. Politik kann nicht als reiner Dezisionismus betrieben werden, jedenfalls nicht in einem demokratischen Staat. Aber die Berücksichtigung der wissenschaftlichen Expertise kann nie Eins-zu-Eins ausfallen, denn es gibt immer eine Bandbreite möglicher Optionen. Die Politik muss entscheiden, das ist ihre originäre Aufgabe.

HK: Inwieweit wird von Ihnen kirchlicherseits erwartet, dass Sie im Ethikrat eine einheitliche katholische Position vertreten?

SCHOCKENHOFF: Es hat noch nie den Versuch einer wie immer gearteten direkten Einflussnahme der Bischöfe gegeben. Aber es gibt natürlich ein hohes Maß an gedanklicher Übereinstimmung und das ist in der Außenwirkung auch sehr wichtig. Gerade in Fragen der modernen Lebenswissenschaften sehe ich als wissenschaftlicher Theologe eine nahtlose Übereinstimmung mit Stellungnahmen des kirchlichen Lehramtes, die ihrerseits ja auch unter Zuhilfenahme theologischen Sachverstands zustande kommen. Natürlich gehören zur Wissenschaft kontroverse Diskussionen, das Gegeneinander unterschiedlicher Standpunkte. Aber im Deutschen Ethikrat geht es nicht einfach nur um eine wissenschaftliche Debatte, die man voraussetzungslos führt, sondern es geht darum, die Sichtweise der theologischen Ethik einzubringen in die Bewertung der modernen Lebenswissenschaften. Da würden wir uns schwächen, wenn wir mit unterschiedlichen Argumenten und Differenzen in unserer Position auftreten. Das gilt im Übrigen nicht nur für die Frage, wie sich innerkirchlich Positionen zueinander verhalten, sondern auch für die Frage, wie die katholische und die evangelische Seite zueinanderstehen. Mit einer Ausnahme hatten wir da immer eine größere Einmütigkeit im Ethikrat, als sie die theologische Debatte insgesamt prägte.

HK: Wäre es wirklich so schlimm, wenn ein breiteres Meinungsspektrum sowohl innerhalb der Konfession als auch zwischen den Kirchen deutlich würde?

SCHOCKENHOFF: Es gibt durchaus auch die Position, dass der Dienst, den die Kirche an der Gesellschaft leisten kann, nicht darin besteht, dass sie eine eindeutige inhaltliche Botschaft verkündet, sondern dass sie der Gesellschaft gegenüber vorexerziert, wie man zu einem friedlichen Miteinander kommen kann. Der Dienst der Kirche kann sich aber darin nicht erschöpfen, denn in dem Maße, wie sie intern auch in Grundfragen durch Pluralität bestimmt ist, wird ihr Einfluss nach außen von selbst marginalisiert. Dann bieten sich kirchliche Positionen zur Auswahl an, jeder kann wählen, was er zur Bestätigung seiner eigenen Position braucht.

HK: Welchen Nutzen ziehen die Kirchen selbst daraus, wenn ihre Vertreter in solchen Gremien mitarbeiten? Bringen diese auch etwas in die Kirche, in die theologische Wissenschaft zurück?

SCHOCKENHOFF: Ja, vor allem die Atmosphäre des gegenseitigen Respekts und der Hochachtung, die man bei allen konträren Positionen in einem solchen Gremium entwickeln kann. Die Klarheit in der eigenen Position darf ja nicht erkauft werden durch eine undifferenzierte Wahrnehmung anderslautender Argumente und Einschätzungen.

HK: Begegnet Ihnen innerhalb Ihrer Kirche aber nicht doch auch noch eine falsche Furcht, sich auf solche Debatten überhaupt einzulassen?

SCHOCKENHOFF: Es lässt sich in der katholischen Kirche auf vielen Feldern beobachten, dass man Berührungsängste hat, sich mit gesellschaftlich drängenden Fragen auseinanderzusetzen und dies vor allem auch dort zu tun, wo diese Fragen gestellt werden. Schon von der deutschen Universitätstheologie her ist eigentlich die Haltung hoher intellektueller Offenheit gefordert, die Bereitschaft, durch öffentlichen Vernunftgebrauch den eigenen Glauben der Kritik auszusetzen und ihn darin zu bewahrheiten. Die gleiche Einstellung ist für die Kirche gefordert, wenn sie am theologischen Dialog teilnimmt. Jeder, der die Möglichkeit dazu hat, über den eigenen Zaun hinausblicken, sollte dies so offensiv wie möglich tun. Die Kirche hat eine Botschaft zu verkünden, und wenn sie dies in kluger Weise tut und mit dem nötigen Selbstbewusstsein, aber eben auch in der Bereitschaft von anderen zu lernen und die so genannte Fremdprophetie zu achten, dann kann das ihrer Glaubwürdigkeit in einer differenzierten und pluralen Gesellschaft nur nutzen.

HK: Eine gewisse Scheu bezieht sich dabei vor allem auf die medial vermittelte Öffentlichkeit solcher Prozesse ...

SCHOCKENHOFF: Es geht bei der Frage, wie die Kirche an diesen gesellschaftlichen Prozessen teilnimmt auch darum, das Bild zu bestimmen, dass ihre eigenen Gläubigen in den Medien von ihr gewinnen. Eine Mediengesellschaft funktioniert ja nicht so, dass sich einzelne Gruppen strikt trennen ließen, so, dass es nur darum ginge, die Außenkommunikation über die öffentlichen Medien zu führen, während im Binnenraum der Kirche das Gespräch von den Medien unbeeinflusst geschieht. Für die meisten Gläubigen ist die Art, wie sie ihre Kirche in den Medien erleben, etwas ganz Entscheidendes, was sie eben auch als Stärkung oder Schwächung ihres eigenen Glaubens empfinden. Deshalb muss man immer auch die eigenen Gläubigen mit im Auge haben, wenn man eine kirchliche Position in der Öffentlichkeit vertritt. Es geht immer auch darum, den Gläubigen zu zeigen, mit dieser Position braucht man sich vor niemandem zu verstecken. Eine Wagenburgmentalität ist in der Kirche immer falsch.


Eberhard Schockenhoff (geb. 1953) ist seit 1994 Professor für Moraltheologie an der Universität Freiburg. 2001 wurde er durch Beschluss des Bundeskabinetts zum Mitglied des Nationalen Ethikrates berufen; 2005 erfolgte die Wiederberufung und Wahl zum stellvertretenden Vorsitzenden; 2008 die Berufung in den Deutschen Ethikrat, das Nachfolgegremium des Nationalen Ethikrates.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 6, Juni 2011, S. 285-289
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. August 2011