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KIRCHE/1234: Bibelarbeit gegen Unwissen, Angst und Stigmatisierung (ÖRK)


Ökumenischer Rat der Kirchen - Feature vom 9. Dezember 2011

Bibelarbeit gegen Unwissen, Angst und Stigmatisierung


Der Schock, den manche DorfbewohnerInnen empfanden, als man ihnen anbot sich auf HIV testen und beraten lassen, und ähnliche Erfahrungen führten Pauline Wanjiru Njiru zu der Erkenntnis, dass nicht das HI-Virus Menschen sterben lässt, sondern Angst, Stigmatisierung und Unwissen.

Die Menschen würden die grundlegenden Fakten über HIV und Aids nicht kennen, und sie stigmatisierten Andere aus Angst, mit HIV in Verbindung gebracht zu werden und sich selbst zu infizieren, sagt Njiru, die für die Ökumenische HIV und Aids-Initiative in Afrika (EHAIA) arbeitet. Wegen des Stigmas möchten sich die Menschen nicht testen lassen.

Aber Njiru hat gelernt, dass kontextuelle Bibelarbeit ein Schlüsselelement für die Überwindung der Stigmatisierung von HIV und Aids innerhalb der Kirche und für die Rettung von Leben ist.

"Wenn Sie über HIV sprechen, bedeutet das, dass Sie HIV-positiv sind." Dies sagte ein Teilnehmer auf einem Workshop, den Njiru 2009 im südlichen Sudan (heute der vor kurzem unabhängig gewordene Südsudan) leitete. Die Worte klingen ihr noch heute im Ohr.

In einem anderen Workshop in einem Vorort von Nairobi behaupteten die Teilnehmenden, dass HIV in ihrer Gegend kein Problem sei. In Tansania haben führende Kirchenvertreter eingestanden, dass die Einstellung der Kirche dazu beigetragen hat, HIV-Infizierte zu stigmatisieren und das Virus weiter zu verbreiten.

Njiru verbrachte einen wichtigen Teil ihres Werdeganges mit Gemeindearbeit sowie als Dozentin für Theologie in Universität und Seminar. 1992 wurde sie Priesterin der Anglikanischen Kirche.

Das EHAIA-Programm des Ökumenischen Rats der Kirchen fördert HIV-Tests und HIV-Kompetenz in den Gemeinden.


Führung ist nicht immer einfach

Als Pastorin ist sich Njiru der Probleme bewusst, die kirchliche Führungspersonen bewältigen müssen: Angst, Unwissenheit und Stigmatisierung. Obwohl sie dazu berufen sind, die gute Nachricht und die Verheißung eines Lebens in Fülle zu predigen, fällt es ihnen schwer, die Realität der HIV-Infektion von immoralischem sexuellen Verhalten zu trennen.

Jetzt aber wächst eine mit HIV geborene Generation heran, die fragt: "Was haben wir getan, dass wir HIV-positiv sind?" ChristInnen können die Mutter-Kind-Übertragung von HIV nicht ignorieren.

Njiru hat Kirchenleitende in kontextuelle Bibelarbeit eingebunden, um die HIV-Problematik und das damit verbundene Stigma zu diskutieren. Sie hat sich sowohl an die nationale als auch an die Basisebene gewandt.

Die Geschichte von Rahab, einer anglikanischen Geistlichen, die HIV-positiv ist, bestätigte Njiru, dass zwar das Bewusstsein für HIV gestiegen ist, aber manche Kirchenleitenden immer noch Probleme haben, mit der Realität klarzukommen.

Kurz vor Rahabs geplanter Heirat riet ein Bischof, der von ihrer Infektion wusste, ihrem Verlobten von der Eheschließung ab. Als Njiru davon hörte, suchte sie Rahab auf und fand eine Frau, die unter dem HIV-Stigma zusammengebrochen war, deren Beziehung in die Brüche gegangen war und die niemanden hatte, an den sie sich wenden konnte.

Danach ging Rahab zurück nach Hause und machte ihre Infektion öffentlich: Sie informierte ihren Bischof, ihre Mutter und die Gemeinde. Jetzt leitet sie eine Selbsthilfegruppe für HIV-Infizierte und eine Jugendgruppe ihrer Gemeinde.

Außerdem hat sie ein Stipendium für ein Masterstudium in HIV- und Gemeindefürsorge an einer christlichen Universität erhalten. Heute baut Rahab eine HIV-kompetente Gemeinde auf - mit Menschen, die sie früher ausgeschlossen haben.


Ehemals Obdachlose und Großmütter nehmen Herausforderung an

HIV-Kompetenz entsteht manchmal aus ungewöhnlichen Situationen. Kariuki und Njeeri haben geheiratet und vier Kinder bekommen, während sie auf der Straße eines Slums in Nairobi (Kenia) lebten. Das Paar ist HIV-diskordant, das bedeutet, nur eine von beiden Personen ist mit dem Virus infiziert. Die Familie entkam dem Leben auf der Straße, weil ein "barmherziger Samariter" ihnen ein Zimmer mietete und ihnen wöchentlich etwas Geld zukommen ließ.

EHAIA begleitet dieses Paar seit 2009 und hat in dieser Zeit mitverfolgt, wie es das Beste aus der ihm geleisteten Hilfe machte, um Anderen zu helfen. Es hat sich enorm angestrengt, um Kinder von der Straße zu holen, sie auf HIV zu testen und in Schulen und Kinderheimen unterzubringen bzw. in beruflichen Ausbildungsstätten für ältere Kinder.

Außerdem hat dieses Paar den Kindern und Jugendlichen einen Ort für den Gottesdienst bereitgestellt. Insgesamt haben die beiden über 70 Kindern und Jugendlichen geholfen, an Schulbildung, Ausbildung und spirituelle Unterstützung zu gelangen. Wenn bei einem Kind eine HIV-Infektion festgestellt wird, helfen sie ihm, die dringend benötigte medizinische Behandlung zu erhalten.

Auf ähnliche Weise haben Großmütter ihren Beitrag geleistet. Vor kurzem besuchten Njiru und eine Gruppe von Teilnehmenden eines EHAIA-Workshops Großmütter gegen Armut und Aids, ein Programm im ländlichen Kenia.

Noch immer versucht Njiru zu verarbeiten, was sie dort von Frauen sah und hörte, die stark unter der HIV-Stigmatisierung litten. Durch das Stigma hatten sie ihre Kinder verloren, von denen sie glaubten, sie würden später einmal für sie sorgen. Stattdessen müssen die Frauen nun ihre verwaisten Enkel aufziehen.


Der Kampf gegen das Stigma - eine christliche Berufung

Die Stigmatisierung wird durch Unwissenheit und Angst genährt und beraubt die Menschen ihrer gottgegebenen Würde. Allerdings "bedeutet die HIV-Ära sowohl eine Herausforderung als auch eine Chance für den Dienst der Kirchenleiter - seien es Männer oder Frauen", erklärt Njiru.

Um die Ursachen der Pandemie anzugehen, reisen EHAIA-Aktivisten wie Njiru quer durch Ostafrika, um den Kapazitätsaufbau durch Workshops mit Kirchenleitenden, theologischen Aufklärungsmitarbeitern, HIV-Aktivisten und HIV-Infizierten voranzutreiben.

In Liturgie, Kirchenversammlungen und Synoden sowie in allen kirchlichen Angeboten einschließlich Kindergottesdienst und Katechismusunterricht werden die Hauptprobleme angesprochen: Stigma, Scham, Verdrängung, Diskriminierung, Untätigkeit und Fehlverhalten (zusammengefasst SSDDIM).

Ein Hauptproblem dabei ist die mangelnde Bekämpfung der wichtigsten Aspekte bei der Ausbreitung der Pandemie seitens der Kirchenverantwortlichen - nämlich die Ungleichheit der Geschlechter und sexuelle bzw. geschlechterbasierte Gewalt. Njiru leitet kirchliche Führungskräfte an, kontextuelle Bibelarbeit als Mittel zur Behandlung dieser Themen und der SSDDIM-Problematik zu verwenden.

Ein hilfreiches Beispiel ist die Analyse der Einstellungen der Menschen zur Samariterin am Brunnen aus dem Johannes-Evangelium (4,1-26) und die Akzeptanz, die sie durch Jesus erfährt.

Seitdem mehr und mehr Kirchenleitende die Methode der kontextuellen Bibelarbeit kennenlernen, geben sie zu, dass die traditionelle Art der Bibelauslegung zur Ungleichbehandlung und Diskriminierung von Frauen, zur Förderung sexueller und geschlechterbasierter Gewalt und zu einem negativen Bild von Männlichkeit beigetragen hat.

Die Bibelarbeit-Workshops versetzen Männer und Frauen in die Lage, sich mit dem Thema menschlicher Sexualität zu befassen - auch mit den Einstellungen und Verhaltensweisen, die gesunde Beziehungen in Familien und in der Kirche zerstören.

Kirchenleitende fordern die erweiterte Neuauflage des Handbuches zur kontextuellen Bibelarbeit über geschlechterbasierte Gewalt (Contextual Bible Study Manual on Gender-Based Violence, FECCLAHA 2007), das momentan Anwendung findet, und bitten um die Übersetzung in verschiedene regionale Sprachen. Das Handbuch existiert bereits auf Englisch, Französisch, Portugiesisch, Swahili, Malagasy und Amharisch.


Dieser Artikel ist der siebte in einer Reihe von Portraits, die die Arbeit von EHAIA durch die Regionalkoordinatoren/innen und theologischen Berater vorstellen. Die Reihe wird im Vorfeld des 10. Jahrestags der Gründung von EHAIA im April 2012 veröffentlicht.

Weitere Informationen zu EHAIA:
http://www.oikoumene.org/index.php?RDCT=ec283d994be7c92ad221

Regionale Koordinatoren/innen und theologische Berater von EHAIA:
http://www.oikoumene.org/index.php?RDCT=e6dadfc78bc14f3b5389

EHAIA-Wirkungsstudie, 2002-2009 (auf Englisch):
http://www.oikoumene.org/index.php?RDCT=8e0421a3f1d8de849a8b

Lesen Sie auch:
Die Reaktion der Kirche auf HIV beschleunigen:
http://www.oikoumene.org/index.php?RDCT=290563d5f7bd88581969

Westafrika: Jugendliche und Frauen im Kampf gegen HIV:
http://www.oikoumene.org/index.php?RDCT=ec8fa5645a8f5f20e79b

AIDS-Kompetenz für Kirchen des südlichen Afrikas:
http://www.oikoumene.org/index.php?RDCT=e832382ad8a5b37f2b92

Zentralafrika: Das Schweigen über Sexualität und HIV brechen
http://www.oikoumene.org/index.php?RDCT=36dbcfca9a9771c8ebc4

Umdenken in der Theologie bei Reaktion auf HIV:
http://www.oikoumene.org/index.php?RDCT=27e88f0d2c6072f9ae36

Der Ökumenische Rat der Kirchen fördert die Einheit der Christen im Glauben, Zeugnis und Dienst für eine gerechte und friedliche Welt. 1948 als ökumenische Gemeinschaft von Kirchen gegründet, gehören dem ÖRK heute mehr als 349 protestantische, orthodoxe, anglikanische und andere Kirchen an, die zusammen über 560 Millionen Christen in mehr als 110 Ländern repräsentieren. Es gibt eine enge Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche. Der Generalsekretär des ÖRK ist Pfarrer Dr. Olav Fykse Tveit, von der (lutherischen) Kirche von Norwegen. Hauptsitz: Genf, Schweiz.


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Quelle:
Pressemitteilung vom 9. Dezember 2011
Herausgeber: Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK)
150 rte de Ferney, Postfach 2100, 1211 Genf 2, Schweiz
E-Mail: ka@wcc-coe.org
Internet: www.wcc-coe.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Dezember 2011