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KIRCHE/732: Bericht des Rates der Evangelischen Kirche - "Im Geist Gottes bekennen" (EKD)


Evangelische Kirche in Deutschland - Pressemitteilung vom 02.05.2009

Bischof Dr. Wolfgang Huber
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)
Im Geist Gottes bekennen

Bericht vor der 1. Tagung der 11. Synode der EKD Würzburg, 2. Mai 2009
- Es gilt das gesprochene Wort -


(1) Der Protestantismus in aller Welt feiert in diesem Jahr die fünfhundertste Wiederkehr der Geburt Johannes Calvins. Viele Veröffentlichungen sind diesem Thema gewidmet. Der niederländische Ministerpräsident Jan Peter Balkenende, den man ohne Übertreibung einen großen Calvin-Fan nennen kann, bereitete deshalb für die niederländische Zeitung Trouw gleich zu Beginn dieses Jahres einen Aufsatz über Calvin vor. Der Aufsatz wurde gedruckt; erfreut schlug der Autor die Zeitung auf und fand neben seinem Aufsatz über Johannes Calvin ein Bild von - Martin Luther.[1]

Darin steckte mehr Wahrheit, als der Bildredaktion von Trouw bewusst war. Denn es ist keineswegs nur ein lustiges Bonmot, wenn man Johannes Calvin, den Reformator von Genf und Straßburg, als einen Theologen der lutherischen Reformation bezeichnet. Neben Martin Bucer, dem er in Straßburg begegnete, hat ohne Zweifel kein anderer Theologe Calvin in seinem reformatorischen Wirken stärker geprägt als Martin Luther.[2] Daraus hat sich ein großer, weltweit wirkender und eigenständiger Zweig der Reformation entwickelt. Wenn wir im deutschen Protestantismus das Jubiläumsjahr Calvins bewusst in die Vorbereitung auf das Jubiläumsjahr der Reformation, das Jahr 2017, einbeziehen, dann geschieht damit etwas, was in der Geschichte der Reformation selbst gut begründet ist.

Noch ein anderer Zusammenhang sei gleich zu Beginn in Erinnerung gerufen. Die Ausstellung im Deutschen Historischen Museum zu Berlin, die derzeit unter dem Titel "Calvinismus" die Geschichte der Reformierten in Deutschland und Europa darstellt, zeigt als eines ihrer letzten Exponate die Barmer Theologische Erklärung von 1934.[3] Der damals in Bonn lehrende Schweizer Theologe Karl Barth suchte seine eigene Bedeutung bei der Entstehung dieses Textes durch die Behauptung ins rechte Licht zu rücken, die lutherische Kirche habe geschlafen und die reformierte Kirche habe gewacht.[4] Zwar hat Karl Barth tatsächlich die Mittagsruhe seiner lutherischen Kollegen zur Formulierung eines ersten Entwurfs für dieses historische Dokument genutzt. Doch dies bedeutet keineswegs, dass es sich um einen einseitig reformierten Text handelt.

Vielmehr repräsentiert die in diesem Monat 75 Jahre alte Barmer Theologische Erklärung einen Prozess, in dem reformierte und lutherische Einflüsse sich im deutschen Protestantismus in einer neuen Weise miteinander verbanden. Deshalb halte ich es für eine gute Fügung, dass unserer Kirche auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 in diesem Jahr eine doppelte Erinnerung aufgegeben ist: an die Geburt Johannes Calvins im Jahr 1509 und zugleich an die Verabschiedung der Barmer Theologischen Erklärung im Jahr 1934. Heute will ich mich vor allem dem jüngeren der beiden Jubiläumsdaten zuwenden.


I. "Ein Wunder vor unseren Augen"

(2) "Es ist ein Wunder vor unseren Augen" - so kommentierte ein Zeitgenosse die Bekenntnissynode, die vor 75 Jahren, vom 29. bis zum 31. Mai 1934 in Barmen-Gemarke zusammentrat.[5] Das ist ein Teil von Wuppertal; passender Weise kam deshalb eine Reihe von Synodalen mit dem ICE "Wuppertal" hier in Würzburg an. Zwischen der Entscheidung, die Barmer Synode einzuberufen, und dem Ereignis selbst lagen genau 22 Tage; aber für alle 138 Synodalen fand sich Platz, nicht nur zum Tagen, sondern auch für die spärlichen Stunden des Nachtschlafs. Man stelle sich eine solche Synodenvorbereitung heute einmal vor!

Verglichen mit den 126 Mitgliedern der heutigen EKD-Synode war die damalige synodale Zusammenkunft sogar etwas größer. Auch in anderer Hinsicht hält sie einem Vergleich mit dem heutigen Ereignis durchaus Stand. Man horcht schon bei der Feststellung auf, dass der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche mit ihren damals achtzehn Landeskirchen eine Bekenntnissynode der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union vorangestellt war - ein früher Vorbote für ein Verbindungsmodell, das wir in diesen Tagen mit neuem Schwung und weit größerem Radius in Angriff nehmen.

In anderer Hinsicht sind unsere heutigen Absichten bescheidener: Eine "Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Evangelischen Kirche in Deutschland" steht heute, so weit ich weiß, nicht zur Diskussion. Dass jemand auf den Mittagsschlaf verzichtet hätte, um sie zu entwerfen, habe ich nicht vernommen. Die damalige Synode diskutierte den von Karl Barth, Hans Asmussen und Thomas Breit entworfenen Text zunächst in großer Intensität in den Bekenntniskonventen, bevor ein "interkonfessioneller Ausschuss" die endgültige Fassung erstellte. Über die "Theologische Erklärung" selbst sagte der Historiker Gerhard Ritter dann vor der Synode: "Dieser Text ist weder lutherisch konfessionell noch reformiert konfessionell, sondern hier klingt wirklich die Stimme der Bekennenden Kirche heraus, indem wir uns zusammen wieder erkennen und wieder hören."[6]

(3) Das 75jährige Jubiläum der Barmer Theologischen Erklärung passt also in einer überraschend präzisen Weise mit dem besonderen Charakter dieser Synodaltagung zusammen. Zum ersten Mal praktizieren wir das "Verbindungsmodell" auf der synodalen Ebene. Die Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und die Vollversammlung der Union Evangelischer Kirchen in der EKD haben im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Synode der EKD getagt. Zwischen Generalsynode und Vollversammlung auf der einen und EKD-Synode auf der anderen Seite besteht der denkbar engste personelle Zusammenhang. Wir beherzigen die Einsicht, dass das Achten auf die unterschiedlichen Traditionsströme der Reformation unsere Gemeinsamkeit nicht behindert, sondern uns im gemeinsamen Zeugnis bestärkt, ja beflügelt.

(4) "Es ist ein Wunder vor unseren Augen" - ob auch diese Synodaltagung ein solches Urteil verdienen wird, wollen wir Späteren überlassen. Aber dankbar stellen wir fest, dass die Gemeinsamkeit lutherischer, reformierter und unierter Kirchen innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland in den letzten 75 Jahren in kräftigen Schritten vorangekommen ist. Dazu hat das Ergebnis der damaligen Synode selbst entscheidend beigetragen. Eine "Theologische Erklärung", so hatte Karl Barth in einem vergleichbaren Zusammenhang erläutert, sei eine an die Gemeinden gerichtete "Frage", die von den verantwortlichen Vertretern der Gemeinden aufgenommen und im Namen der Kirche beantwortet werden müsse.[7] Ob sie den Charakter eines Bekenntnisses annehme, könne sich erst im Prozess der Rezeption zeigen.

Die gemeinsamen Erfahrungen in der Zeit des Kirchenkampfs selbst haben diese Antwort auf ihre Weise gefördert;[8] sie bereiteten den Schritt zu einer uneingeschränkten Abendmahlsgemeinschaft innerhalb der EKD vor.[9] Damit trug die Evangelische Kirche in Deutschland zu einem Verständigungsprozess bei, der schließlich in die Leuenberger Konkordie von 1973 mündete. Diese Konkordie ermöglichte die volle Kirchengemeinschaft zwischen reformatorischen Kirchen unterschiedlichen Bekenntnisstandes in Europa - und ebenso auch in Lateinamerika.[10]

Die Leuenberger Konkordie beruht auf dem Grundgedanken, dass überall dort Kirchengemeinschaft möglich ist, wo gemäß dem 7. Artikel des Augsburgischen Bekenntnisses von 1530 Übereinstimmung in dem besteht, was zur Einheit der Kirche nötig ist: nämlich die rechte Lehre des Evangeliums und die evangeliumsgemäße Verwaltung der Sakramente Taufe und Abendmahl.[11] Auf der Grundlage der Leuenberger Konkordie wurde die Bildung der "Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa" (GEKE) möglich; aber auch die Gemeinschaft in der EKD wurde dadurch vertieft. Das zeigt sich beispielhaft daran, dass der EKD auf der Grundlage der Leuenberger Konkordie heute durch ihre Grundordnung die Aufgabe zugewiesen wird, "das Zusammenwachsen ihrer Gliedkirchen in der Gemeinsamkeit des christlichen Zeugnisses und Dienstes gemäß dem Auftrag des Herrn Jesus Christus" zu fördern.[12]

Während es in der Grundordnung der EKD von 1948 noch hieß: "Über die Zulassung zum Heiligen Abendmahl besteht innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland keine volle Übereinstimmung",[13] sagt die Grundordnung in ihrer heutigen Fassung kurz und bündig: "Es besteht Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft."[14]

(5) "Es ist ein Wunder vor unseren Augen." Für den Wandel im Verhältnis der reformatorischen Bekenntnisse zueinander kommt dem mutigen Wort der Bekenntnissynode von Barmen eine maßgebliche Bedeutung zu. Heute wissen wir, dass die "Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche" von 1934 nicht nur die damalige Lage klärte, sondern dass sie für den weiteren Weg unserer Kirche wie vieler anderer Kirchen in der Welt wegweisende Bedeutung entfaltete.[15]

Die EKD bejaht ihrer Grundordnung gemäß die Entscheidungen der Barmer Bekenntnissynode ausdrücklich und "weiß sich verpflichtet, als bekennende Kirche die Erkenntnisse des Kirchenkampfes über Wesen, Auftrag und Ordnung der Kirche zur Auswirkung zu bringen."[16] Die Entscheidung zu einer vertieften Verbindung zwischen EKD, UEK und VELKD, die wir mit den Verträgen vom 31. August 2005 vollzogen haben,[17] steht in diesem Zusammenhang. Diese Entscheidung setzt die gemeinsame, wenn auch unterschiedlich akzentuierte Rezeption der theologischen Erkenntnisse von Barmen 1934 genauso voraus wie die gemeinsame Bejahung der Leuenberger Konkordie von 1973. Bei bleibend unterschiedenen Bekenntnisbindungen sind wir zugleich durch gemeinsames Bekennen verbunden. Das gibt unserer Gemeinschaft Kraft und Tiefe. Das prägt die Zuversicht, mit der wir den gemeinsamen Weg gehen, der mit dem Beginn dieser Synodalperiode auch einen gemeinsamen synodalen Ausdruck findet.

Ob die Theologische Erklärung von Barmen ein Bekenntnis ist, liegt an der Antwort auf sie - so hieß es 1934. 75 Jahre später fällt das Jubiläumsdatum exakt auf den Pfingstsonntag. Die Erinnerung an die geistesgegenwärtige Einsicht einer früheren synodalen Generation verbindet sich mit der Bitte, dass der Geist Gottes uns eine vergleichbare Geistesgegenwart schenkt: "O komm, du Geist der Wahrheit, / und kehre bei uns ein, / verbreite Licht und Klarheit, / verbanne Trug und Schein. / Gieß aus dein heilig Feuer, / rühr Herz und Lippen an, / dass jeglicher getreuer / den Herrn bekennen kann."[18]


II. Gottes Geist ruft zur Reform der Kirche

(6) Der Zusammenhang zwischen Pfingsten und dem Bekenntnis ist schon in der gerade zitierten Liedstrophe vorgezeichnet. Dass das Jubiläum der Barmer Theologischen Erklärung ein pfingstliches Ereignis ist, bewahrt uns davor, die Grundlagen unserer Gemeinschaft wie einen sicheren Besitz zu behandeln. Im Blick auf die staatliche Gemeinschaft hat der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde den Satz geprägt, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann.[19] Vergleichbares gilt auch für die Kirche: Auch die christliche Gemeinde, ja die ganze Kirche Jesu Christi lebt von Voraussetzungen, die sie nicht selbst geschaffen hat und über die sie nicht verfügt. Die Kirche Jesu Christi lebt aus Gottes Gnade, die in Jesus Christus offenbar wird, aus seiner Güte, die im Heiligen Geist jeden Morgen neu ist.

Das griechische Neue Testament bezeichnet die Kirche mit einem Wort der politischen Sprache als ekklesia. Zwar hat das Wort die treffende Bedeutung: die Herausgerufene. Doch ändert das nichts daran, dass als ekklesia eine Versammlung stimmberechtigter Bürger ebenso bezeichnet werden kann wie eine Heeresversammlung. Ausgeschlossen werden solche militärischen oder politischen Verwechslungen nur dadurch, dass die Versammlung, um die es hier geht, konsequent als ekklesia Gottes bezeichnet wird. So wie Gott am Ende die von ihm Berufenen aus Israel und den Völkern zusammenführen wird, so kann sich jede Gemeinschaft, die im Namen Jesu zusammenkommt, schon jetzt als die "Versammlung Gottes" verstehen.[20] Das gilt für die ganze Vielfalt ihrer Formen - für die in einem Privathaus zum Gottesdienst versammelte Hausgemeinde, für die Gemeinschaft der Christen an einem bestimmen Ort, für den Verbund der Gemeinden in einer bestimmten Region oder für die weltumspannende Kirche Jesu Christi. Immer geht es darum, dass sie eine Versammlung Gottes ist, die durch die Bindung an Jesus Christus ihre Prägung erfährt. Denn die Bindung an Jesus Christus bestimmt das Wesen dieser Gemeinschaft. Der uneingeschränkten, bis zur Lebenshingabe gehenden Zuwendung Jesu entspricht das Grundgesetz der Zusammengehörigkeit in der Kirche Jesu Christi, in der Versammlung Gottes: "Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob."[21]

(7) Von dieser Erinnerung an einen elementaren Grundzug des biblischen Kirchenverständnisses aus erschließt sich auch für uns Heutige die innere Kraft, in der die Barmer Theologische Erklärung das Verständnis der Kirche entfaltet. Begründet ist dieses Kirchenverständnis in der Konzentration, mit der Jesus Christus als das "eine Wort Gottes" bezeichnet wird, "das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben".[22] Die zugespitzte Konzentration dieser grundlegenden Aussage erklärt sich aus der Konfrontation mit einem Zeitgeist, der die eigenen ideologischen Überzeugungen zum Wort Gottes erklären wollte. Aber damit verbindet sich eine Schattenseite dieser Erklärung, die nicht verschwiegen werden kann. Diese Schattenseite ist die Nichterwähnung der Juden.

Von der Konzentration auf Jesus Christus als das eine Wort Gottes aus wird die christliche Kirche beschrieben als "die Gemeinde von Brüdern (und Schwestern), in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt." Darin, dass sich die Kirche durch Jesus Christus in Wort und Sakrament und durch die Gegenwart seines Geistes bestimmen lässt, sind der Grund und die Gestalt der Kirche in einer nachvollziehbaren Weise miteinander verbunden. Daraus folgt: "Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte."[23]

Zugegeben: Das ist nicht gerade eine leichte Sprache! Wie oft habe ich in diesem Zusammenhang sogar Theologen von "begnadeten" Sündern reden hören - obwohl es doch ein riesengroßer Unterschied ist, ob jemand ein "begnadeter" oder ein "begnadigter" Sünder ist. Nur eine Anekdote zum Vergleich, freilich mit umgekehrter Pointe. Neulich wollte jemand einem Referenten für seinen Beitrag danken; zu dessen Unglück bezeichnete er ihn allerdings als einen "begnadigten Redner". Merke: Was beim Sünder richtig ist, kann beim Redner gerade falsch sein.

Aber in der dichten Sprache des Dokuments von 1934 ist in einer seitdem nicht überbotenen Klarheit gezeigt, dass der Grund der Kirche und die Gestalt der Kirche unmittelbar zusammen gehören. Die Kirche lebt aus der befreienden Botschaft des Evangeliums und sie repräsentiert die befreiende Botschaft des Evangeliums. Grund und Gestalt sind nicht identisch. Denn der Grund ist unverfügbar; die Gestalt ist unsere Aufgabe. Doch Grund und Gestalt dürfen nicht voneinander getrennt werden.

(8) Die Gestalt der Kirche an ihrem Grund zu prüfen und im Blick auf ihren Auftrag zu verändern, ist deshalb das Thema aller Reformprozesse in der Kirche. Im Jahr 1934 trugen diese Reformprozesse vor allem den Charakter der Gegenwehr. Abzuwehren war die Unterwanderung der Kirche durch das Führerprinzip. Ihm wurde die Einsicht entgegengesetzt: "Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes."[24] Eine stärkere Begründung der synodalen Leitungsstruktur in der evangelischen Kirche wird sich schwerlich finden lassen.[25] Auch für das, was uns in dieser Synode zusammenführt, weiß ich keine bessere Beschreibung.

Aber der Reformimpuls der Barmer Theologischen Erklärung geht darüber hinaus. Programmatisch sagt sie von der Kirche, sie habe "die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk".[26] Die Überschreitung selbstgesetzter Grenzen verbindet sich in dieser Aufgabenbestimmung mit der Konzentration auf die Freiheitsbotschaft des Evangeliums.

Der Reformprozess in der Evangelischen Kirche in Deutschland zielt auf eine ähnliche Verbindung. Eine Konzentration auf den biblischen Auftrag und das geistliche Profil unserer Kirche wollen wir mit einer neuen Zuwendung zu denen verbinden, die der Kirche fern stehen und denen das Evangelium fremd geworden ist.[27] Die Erinnerung an die Barmer Theologische Erklärung ist ein wichtiger Anstoß dazu, diese Verbindung von Konzentration und Weite aufzugreifen und weiterzuführen. Deshalb richtet der Rat der EKD gleich zu Beginn der neuen Synodalperiode die Bitte an die Synode, den Reformprozess, der in der letzten Synodalperiode in Gang gekommen ist, fortzusetzen und ihm weitere Impulse zu verleihen.

(9) Dieser Reformprozess verdankt sich vielen Initiativen und Impulsen in den Gliedkirchen der EKD. Die EKD beteiligt sich daran durch inhaltliche Anregungen, mit denen das Gemeinsame des deutschen Protestantismus gestärkt werden soll. Strukturelle Weichenstellungen im Verhältnis der Gliedkirchen und auch der gliedkirchlichen Zusammenschlüsse zueinander liegen allein in deren Verantwortung. Aber die Mitfreude darf auch auf einer Synodaltagung der EKD laut werden. In diesem Sinn gratuliere ich der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland dazu, dass die Fusion zwischen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen und der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen zum 1. Januar dieses Jahres vollzogen werden konnte.

Ein nächster Schritt, den wir mit herzlichen Segenswünschen begleiten, kündigt sich im Norden Deutschlands an. Zwanzig Jahre nach der friedlichen Revolution von 1989 gehen Kirchen aus Ost und West, Kirchen mit ihren östlichen wie mit ihren westlichen Erfahrungen aufeinander ein. Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer werden die unterschiedlichen Traditionen und gesellschaftlichen Erfahrungen als wechselseitige Bereicherung erkannt.

(10) Jede Generation hat in ihrer Zeit die Aufgabe, kirchliche Strukturen zu überprüfen und neu auszurichten. Denn der Maßstab für diese Strukturen liegt nicht in den uns lieb gewordenen Gewohnheiten, sondern in der Verantwortung für die Weitergabe des Evangeliums. Daran erinnert uns die Barmer Theologische Erklärung, wenn sie uns ermahnt, "an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk."

Zahlreiche Kirchengemeinden und Kirchenkreise, Gruppen und Einzelne wirken an dem Aufbruch zu Neuem mit. Die geplante Zukunftswerkstatt der EKD, zu der Sie alle vom 24. bis 26. September nach Kassel eingeladen werden, soll möglichst viel von dieser Vielfalt zur Geltung bringen. Sie wird Ideen und Impulse zur Reform unserer Kirche präsentieren. Gutes soll nicht versteckt bleiben; nicht jede Gemeinde muss das Rad neu erfinden. Kreativität entzündet sich im gegenseitigen Austausch.

Die evangelische Kirche in unserem Land braucht sich ihres Bemühens um das Evangelium nicht zu schämen. Beherzt kann sie vielmehr sagen: "Ich schäme mich des Evangeliums nicht."[28] Wir sind unterwegs. Wir wollen Gottes Geist nicht im Wege stehen, indem wir ängstlich und verzagt stille halten. Wir wollen uns aber auch nicht über Gottes Geist erheben. "O komm, du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns ein." Wo wir um seinen Geist bitten und uns ihm öffnen, empfangen wir das "Wachsen und Gedeihen" aus seiner Hand.[29] Denn der eigentliche Aufbruch der Kirche besteht darin, dass wir Gottes Geist zum Zuge kommen lassen.

(11) Gottes Geist können wir nicht durch Aktivismus herbeizwingen; wir können ihm jedoch durch Untätigkeit und Nachlässigkeit im Wege stehen. Hindernisse für den Zugang zum Glauben wollen wir abbauen, wenn wir in der EKD, einer Abstimmung zwischen Synode, Kirchenkonferenz und Rat folgend, die Arbeit an der Qualität von Gottesdiensten und Kasualien, die Förderung der Mission in der Region und die Befähigung zu Führung und Leitung ins Zentrum unserer Reformbemühungen stellen.

Im Blick auf diese Aufgaben hat der Rat der EKD drei Kompetenzzentren eingerichtet, deren Leitungspositionen inzwischen besetzt wurden. Es handelt sich um das Zentrum für Qualitätsentwicklung im Gottesdienst in Hildesheim, das Zentrum für evangelische Predigtkultur in Wittenberg und das Zentrum Mission in der Region in Dortmund, Stuttgart und Greifswald. Die Bearbeitung des Themas Führen und Leiten wird in Zusammenarbeit mit der Führungsakademie in Berlin aufgenommen.

Die Kompetenzzentren werden mit entsprechenden Einrichtungen in den Gliedkirchen und den gliedkirchlichen Zusammenschlüssen eng zusammenarbeiten. Sie werden deren Initiativen aufgreifen und sich um gemeinsame Standards und neue Initiativen bemühen. Es geht in diesen Reforminitiativen um einen Geist des gemeinsamen Aufbruchs; er geschieht im gemeinsamen Gebet um Gottes gutes Geleit.


III. Gottes Geist führt in die Verantwortung für die Welt

(12) Die Bekennende Kirche hat sich seinerzeit mit den Bekenntnissätzen von Barmen gegenüber den "Deutschen Christen" als rechtmäßige und allein der Botschaft des Evangeliums verpflichtete Kirche Jesu Christi gesammelt. Damit hat sie zugleich den Kirchen und Gemeinden in einer Situation extremer Verunsicherung Orientierung gegeben. Die Wirkung der Barmer Thesen reichte jedoch weit über die Zeit des Nationalsozialismus, ja auch weit über Deutschland hinaus. Zahlreiche Gliedkirchen der EKD berufen sich in ihren Grundordnungen ebenso auf Barmen wie zahlreiche unserer Partnerkirchen weltweit.

Für die Christen in der DDR war die Barmer Theologische Erklärung von unschätzbarem Orientierungswert; zugleich wurden gerade in der Situation der bedrängten Kirche in der DDR wegweisende Ansätze zur Interpretation dieser Erklärung entwickelt. Es gibt eine direkte Verbindung von der Barmer Theologischen Erklärung zum Konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Immer wieder berief man sich auf die klare Aussage der zweiten Barmer These: "Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen." Es ist diese Freiheitsbotschaft, die den protestantischen Beitrag zur friedlichen Revolution des Jahres 1989 maßgeblich geprägt hat.

(13) Die verpflichtende Kraft dieser Freiheitsbotschaft nehmen wir auf, wenn wir uns dankbar des neuen Aufbruchs vor zwanzig Jahren erinnern. Die Befreiung aus den "gottlosen Bindungen dieser Welt" zielt auf den freien, dankbaren Dienst an unseren Mitmenschen und unserer Mitwelt. Diesen Grundgedanken verantworteter Freiheit bringen wir als evangelische Kirche auch in die Erinnerung an sechzig Jahre Grundgesetz ein. Wir sind davon überzeugt, dass unsere Verfassung sich nicht am Recht des Stärkeren, sondern an der Stärke des Rechts orientiert. Wir vertrauen darauf, dass die wichtigen Aufgaben der Integration, des Respekts gegenüber Minderheiten und der Kooperation mit Kirchen und Religionsgemeinschaften in Bildung, Diakonie und öffentlicher Verantwortung auf dieser Grundlage auch in Zukunft gut gestaltet werden können.

Dass es darüber bisweilen kontroverse Auseinandersetzungen gibt, hat das Volksbegehren zum Verhältnis von Ethikunterricht und Religionsunterricht in Berlin deutlich gezeigt. Dieses Thema geht ja unmittelbar nicht den Vorsitzenden des Rates der EKD, sondern den Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz an. Dieser bedankt sich herzlich für alle Unterstützung in den letzten Monaten - und auch für alle aufmunternden Worte in den letzten Tagen. Ohne Umschweife sage ich, dass wir eine Niederlage erlitten haben. Aber zugleich bleibt in Erinnerung, dass die Bürgerinitiative Pro Reli eine erstaunlich große Zahl von Unterzeichnern für das Volksbegehren gewinnen konnte; auch das intensive ökumenische Zusammenwirken bleibt als positive Erfahrung. Es ist jedoch nicht gelungen, im Anschluss daran auch im Volksentscheid die nötige Mehrheit zu gewinnen.

Fragen von Glauben und Religion sowie die öffentliche Verantwortung der Kirche wurden im Rahmen dieser Kampagne zum Thema des öffentlichen Gesprächs in Berlin und darüber hinaus; das bleibt von erheblicher Bedeutung. Aber das Ziel, auch an den Berliner Schulen Religionsunterricht als ordentliches Unterrichtsfach zu verankern, wurde nicht erreicht. Das respektiere ich selbstverständlich. Die beiden Aussagen, die offenbar viele von einem Ja zur Wahlfreiheit zwischen Religion und Ethik abgehalten haben, hießen: Schülerinnen und Schüler sollten "gemeinsam, nicht getrennt" unterrichtet werden; darüber hinaus sei es möglich, "beides zu machen" - nämlich Ethik und Religion. Ich hoffe, dass diese beiden Aussagen in der kommenden Zeit verstärkt mit Leben erfüllt werden. Unserer Bildungsverantwortung in der öffentlichen Schule bleiben wir im gesamten Gebiet der EKD treu - auch wenn in Berlin die Bedingungen dafür andere sind als in allen anderen Bundesländern. Wir halten an dieser Aufgabe fest - unverzagt und mit Humor.


IV. Welcher Geist leitet uns?

(14) Die Frage nach dem Geist, der Menschen in ihrem Handeln bestimmt, ist zur Schlüsselfrage unserer Zeit geworden.

Noch nie zuvor habe ich gegensätzliche Botschaften, auch in Briefen, mit solcher Intensität erhalten wie in den letzten Wochen. Woran wir uns orientieren können, wird überall gefragt.

Der Amoklauf von Winnenden hat uns auf Schrecken erregende Weise die Augen dafür geöffnet, dass wir noch wachsamer, noch sensibler auf den Geist achten müssen, der nach unserem Nächsten wie nach uns selbst greifen will. Dass in einer solchen Tat das Böse am Werk war, ist unübersehbar. Dieses Böse entzieht sich jeder Erklärung; denn erklären hieße ja immer: Gründe anzugeben. Aber für das Böse gibt es keinen Grund. Es ist vielmehr ein Abgrund; wer sich ihm anvertraut, stürzt ins Bodenlose. Doch auch dorthin reicht Gottes Hand. Nur indem wir vor Gott treten und uns für ihn öffnen, können wir die Logik und den Geist des Bösen durchbrechen. Nur indem wir vor Gott treten, können wir beides: der Opfer gedenken und auch den Täter nicht aus dem Blick verlieren.

(15) In anderer Weise tritt uns die Frage nach dem Geist, der uns bestimmt, im Zusammenhang mit den Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise entgegen. Wir erkennen jetzt in besonderer Deutlichkeit den Geist unserer Zeit. Es ist ein Geist des Habenwollens. Er verlockt zu einem Wettrennen um die günstigsten Angebote und die schnellsten Erträge. Er suggeriert, auch unabschätzbare Risiken seien hinzunehmen. Er erklärt die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich zu einer unvermeidlichen Bedingung wirtschaftlicher Dynamik.

Wir spüren die gewaltige Macht dieses Zeitgeistes und seine Abgründigkeit zugleich. Ein Kommentator vermerkte dazu: "Ein Kapitalismus, der nicht abgibt, sondern Reichtum nur bei den Reichen sammelt, verwandelt sich über kurz oder lang in einen Feudalismus, der nur mit Gewalt und ohne demokratische Legitimation herrscht."[30] Die Frage nach einer Sozialen Marktwirtschaft wird laut, die sich um den Wohlstand aller Bürger verdient macht.[31]

Der Spagat, in den eine solche Situation uns gerade zwanzig Jahre nach der friedlichen Revolution zwingt, lässt sich leicht beschreiben, aber nur schwer aushalten. Denn es ist eine Zeit, in der die Seele sich an manchen Nachrichten wund reibt. Zwar ist es um die Meinung, die internationalen Finanzmärkte regulierten sich am besten selbst, still geworden. Aber wie der Übergang auf tragfähige Regelungen gelingen kann, ist einstweilen noch offen. Denn aus der Kritik an den Auswüchsen des Turbokapitalismus gibt es keinen Ausweg in eine planwirtschaftliche Alternative; deren Scheitern gehörte vor zwanzig Jahren vielmehr auch zu den Voraussetzungen für den Weg in die Freiheit.

Eine bewusste politische Gestaltung der Marktwirtschaft ist nötig. Eine politisch und sozial gebändigte Marktwirtschaft braucht neue Regelungen und neue Instrumente, wenn sie dem Gebot der Nachhaltigkeit genügen soll. Wir sehen im Leitbild der Nachhaltigkeit eine Verpflichtung, die sich unmittelbar aus der biblischen Zusage ergibt: "Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen."[32] Auch in der jetzigen Phase wirtschaftlicher Unsicherheit treten wir dafür ein, dass die Ordnung der Wirtschaft konsequent an den Prinzipien der Nachhaltigkeit und an den Lebenschancen der kommenden Generationen orientiert wird, wie bereits die Denkschrift über "Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive" im vergangenen Jahr hervorgehoben hat.[33]

Die drohende wirtschaftliche Rezession und der damit verbundene Anstieg der Arbeitslosigkeit lassen uns fragen, welcher Geist uns bestimmt. In welchem Geist wollen wir miteinander leben? In welchem Geist kann die Krise bewältigt werden? Unter den Beschäftigten vieler Wirtschaftsunternehmen zeigt sich ein neuer Geist der Solidarität. Doch zugleich muss man sich nüchtern die Folgen bewusst machen, die der größte wirtschaftliche Einbruch seit sechzig Jahren nach sich zieht. Der befürchtete Anstieg der Arbeitslosigkeit ist für die Betroffenen und für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft außerordentlich gravierend. Dennoch ist das Einfordern sozialer Verantwortung wichtiger als die Ankündigung sozialer Unruhen. In einer Zeit, in der Menschen um ihre Arbeitsplätze bangen, hat die Verantwortung für den Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen höchste Priorität.

(16) Doch andere Aspekte sozialer Verantwortung sind ebenso bedrängend. Dafür nur ein Beispiel. Nach den Auskünften des Deutschen Pflegerats leben derzeit in Deutschland rund 2.250.000 pflegebedürftige Menschen, die auf tägliche Hilfe angewiesen sind. 709.000 von ihnen werden in einem Pflegeheim versorgt. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten wird sich die Zahl der in Deutschland notwendigen Pflegeplätze verdoppeln.

Aber wer wird pflegen? Viel Leidenschaft, aber auch viel Leidensbereitschaft gehört zu diesem Beruf. Gesellschaftliche Anerkennung findet er nicht in ausreichendem Maß. Gute Bezahlung auch nicht. Gerade wurde für Pflegehilfskräfte ein gesetzlicher Mindestlohn vorgesehen. Was die dafür gefundene Regelung im Blick auf das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und ihrer Diakonie bedeutete, will ich jetzt nicht weiter erörtern. Mir geht es um etwas anderes: Dass die Pflege ein Kandidat für den Mindestlohn ist, bildet in sich selbst für mich ein Alarmsignal.

Unter den Berufswünschen ohne Studium schafft der Pflegeberuf es nicht unter die ersten 25 Plätze. Doch pflegebedürftig sind viele. Aber niemand denkt gerne daran. Den Grund dafür sehe ich in Folgendem: In alten Menschen im Pflegeheim begegnet mir meine eigene Zukunft. Ihr weiche ich lieber aus. Meine eigenen Ängste spiegeln sich in meinen kritischen Urteilen darüber, wie es im Pflegeheim zugeht. Weil ich das eigene Alter verdrängen will, lasse ich es an Wertschätzung für Menschen fehlen, die als Pflegekräfte arbeiten. Dieser Teufelskreis muss durchbrochen werden.

Für 25 Euro werden heute die Winterreifen in der Werkstatt gewechselt. Genau dieselbe Summe steht für eine "erweiterte große Körperpflege" zur Verfügung. Die Hilfe beim Aufstehen und beim Gang zur Toilette, das Aus- und Ankleiden, das Waschen, Duschen oder Baden, die Mundpflege, das Kämmen und Rasieren - derselbe Preis wie das Wechseln von vier Rädern. Am Bett zu sitzen, dem Patienten zuzuhören, die Hand zu streicheln, einen gemeinsamen Spaziergang zu machen - das alles ist gar nicht erst vorgesehen.

So kann es nicht bleiben. "Du sollst Vater und Mutter ehren": der respektvolle Umgang mit dem Alter ist mit diesem Gebot gemeint. Mehr Wertschätzung und auch mehr Geld wird für die Pflege benötigt. Berufliche Pflege braucht die nötige Unterstützung. Dann kann auch ehrenamtlicher Einsatz Wichtiges beitragen.

(17) Alle Entwicklungen verdienen besondere Beachtung, in denen die Liebe zum Nächsten neue Aufmerksamkeit findet. Die Pflege der alt gewordenen Eltern ist nicht mehr für alle ein Tabuthema. Väter besinnen sich in neuer Weise auf ihre Rolle in der Familie. Arme und bisher Chancenlose erfahren neue Zuwendung. Immer mehr Menschen interessieren sich für einen Lebensstil, der nachhaltig mit den verfügbaren Ressourcen umgeht. Die Folgen unseres Handelns für die Generation der Kinder und Kindeskinder wird auf neue Weise wichtig.

Wenn wir auf die wirtschaftliche Krise mit einem Geist der Solidarität, der Zuwendung und der Nachhaltigkeit reagieren, dann zeigt sich in der Krise wirklich eine Chance. Doch das wird nur der Fall sein, wenn wir zum Umdenken bereit sind, wenn wir uns wirklich einem neuen Geist aussetzen, wenn aus der "frohen Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt" wirklich ein "freier, dankbarer Dienst an Gottes Geschöpfen" wird. Nichts ist dringlicher.

(18) Freilich heißt es in der zweiten These der Barmer Theologischen Erklärung auch: "Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wäre, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürfen." Dieser schroffe Einspruch gegen die Vorstellung von einer Eigengesetzlichkeit wirtschaftlichen Handelns nötigt zu der Frage, welchen ethischen Bindungen denn das Handeln in diesem Bereich unterworfen sein soll. Ich will fünf solche Bindungen aus meiner Sicht formulieren.

Als ersten Maßstab will ich das Vertrauen nennen. Wir haben auf bestürzende Weise gelernt, dass auch für wirtschaftliches Handeln Vertrauen noch kostbarer ist als Geld. Und dass sich Vertrauen noch schwerer wieder erlangen lässt als Kapital. Vertrauen hat es offenbar mit der Frage zu tun, ob man sich an die Goldene Regel hält: "Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch."[34]

Daraus ergibt sich ein zweiter Prüfstein. Er heißt Reziprozität, Wechselseitigkeit. Die Reformen der Agenda 2010 tragen noch immer an der Bürde, dass sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht gestärkt, sondern geschwächt haben. Denn sie haben den einen Teil der Bevölkerung nicht aus der Befürchtung befreien können, von einem sozialen Absturz bedroht zu sein, während ein anderer Teil der Bevölkerung sein Vermögen immer weiter zu steigern vermochte. Dass dabei in manchen Bereichen die Gewinne privatisiert, die Verluste aber sozialisiert werden, verstärkt das Gefühl mangelnder Reziprozität.[35]

Mein drittes Stichwort heißt: Teilhabe. Unser Verständnis von Gerechtigkeit ist wesentlich durch die Eröffnung von Teilhabe definiert. Deshalb müssen wir weiter darauf dringen, unser Bildungssystem so zu organisieren, dass es einen gleichen Zugang zu Befähigung und Beteiligung fördert.[36]

Das vierte Kriterium ist Solidarität. Ich bin froh, dass die Solidarität mit den Armen in der Welt ein entscheidendes Kriterium bei den Verhandlungen der G20 dargestellt hat. Es ist ein in den letzten Jahrzehnten besonders geringgeschätztes Kriterium, das jetzt wiederkehrt. Wir werden gerade in der jetzigen Situation an den Milleniums-Entwicklungszielen festhalten müssen, auf die wir uns auch als Evangelische Kirche in Deutschland verpflichtet haben.[37]

Das letzte Stichwort klang schon an. Es heißt Nachhaltigkeit. Wir waren stolz auf eine Entwicklung der Fiskalpolitik, bei der die Neuverschuldung zurückgefahren wurde. Doch nun steht die Frage im Raum, was mit den gewaltigen Schulden passiert, die durch Rettungsschirme, Bürgschaftsfonds und Investitionspakete aufgehäuft werden. Eine Antwort auf die Frage, was das für die nächste Generation bedeutet, hat noch niemand gegeben. In ähnlicher Weise stellt sich die Frage, wie eine verantwortliche Klimapolitik Raum erhalten soll, wenn die Kompensation der Schäden einer fehlgeleiteten Entwicklung der Finanzmärkte alle Aufmerksamkeit und alle verfügbaren finanziellen Mittel auf sich zieht.

(19) Die Barmer Theologische Erklärung betrachtet, dem Geist ihrer Zeit folgend, gesellschaftliche Verantwortung noch stark unter der Perspektive staatlichen Handelns. Dass der Zivilgesellschaft eine eigenständige Verantwortung zukommt, tritt noch nicht in dem nötigen Umfang in den Blick. Doch was über den Staat gesagt wird, verdient auch heute noch nachdenkliche Aufmerksamkeit. Die Kirche sieht in ihm eine aus Gottes Anordnung entspringende Wohltat; denn sie betrachtet ihn ganz von der Aufgabe her, für Recht und Frieden zu sorgen. Sie rückt ihn ganz in das Licht der Hoffnung auf Gottes Reich und dessen Gerechtigkeit; daraus leitet sie die gemeinsame Verantwortung der Regierenden und Regierten ab.

In diesen Zusammenhang steht die oft diskutierte und umstrittene Aussage, "dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen."[38]

So plausibel diese Aussage ist - innerlich wehren wir uns gegen die unmittelbare Verkoppelung zwischen der Einsicht, dass wir in der "noch nicht erlösten Welt" leben, und der Folgerung, dass deshalb die "Androhung und Ausübung von Gewalt" für die Wahrung von Recht und Frieden unentbehrlich seien. Dass Soldaten im Auslandseinsatz ihr Leben riskieren, macht uns ratlos und bestärkt die Zweifel an dem eingeschlagenen Weg, aus dem es doch keinen einfachen Ausstieg gibt. Der Tod eines Soldaten bei einem Anschlag am vergangenen Mittwoch in Afghanistan hat erneut in dramatischer Weise die möglichen Folgen eines Militäreinsatzes vor Augen geführt. Wir trauern um diesen Soldaten und beten für seine Angehörigen und Freunde.

Wir halten als Christen an der vorrangigen Option für die Gewaltfreiheit fest. Wir haben als evangelische Kirche den "gerechten Frieden" als Leitgedanken unserer Friedensethik anerkannt.[39] Wir folgen bei der Prüfung der äußersten Situationen, in denen es zum Einsatz militärischer Gewalt keine Alternative gibt, nicht einer Doktrin des gerechten Kriegs, sondern halten uns an die Kriterien einer Ethik der rechtserhaltenden Gewalt.

Eine solche Ethik enthält keine Rechtfertigung dafür, Waffenexporte als einen normalen Bestandteil des wirtschaftlichen Austauschs anzusehen. Gegenwärtig allerdings werden wir Deutschen als "Europameister des Waffenexports" bezeichnet. Von einem Jahr zum andern hat sich die Ausfuhr von Waffen aus Deutschland um dreizehn Prozent erhöht. Nun rangiert unser Land in dieser Art von Geschäften direkt hinter den USA und Russland, vor allen anderen europäischen Ländern. Krisengebiete unserer Erde werden dabei nicht ausgespart; eines Tages müssen Soldaten der Bundeswehr im Auslandseinsatz unter Umständen die Gewalt unterbinden, die mit deutschen Waffen verübt werden soll - ein paradoxer Gedanke.[40]

(20) Für keinen Bereich erkennen wir eine Eigengesetzlichkeit an - darin liegt die stärkste Provokation des Barmer Bekenntnisses von 1934. Mit einem Hinweis auf diese Provokation will ich schließen.

Auf alle Bereiche unseres Lebens schauen wir mit dem Blick des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung. Gottvertrauen, Barmherzigkeit und Zuversicht leiten unsere Schritte. Dieser Geist hilft uns, Neues zu wagen, den Mitmenschen nicht aus dem Auge zu verlieren und der Zukunft gegenüber aufgeschlossen zu bleiben. Dieser Geist gibt uns den Mut, das zu gestalten, was wir gestalten können, und das Gedeihen in Gottes Hand zu legen.

Auch für eine Synode ist das eine überzeugende Devise: im Vertrauen auf Gottes Geist anzupacken, was uns aufgetragen ist, und das Vollenden in Gottes Hand zu legen.


Anmerkungen:

[1] Balkenende eröffnet Calvinismus-Ausstellung, in: Tagesspiegel, 1. April 2009.

[2] Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Christoph Strohm, Johannes Calvin. Leben und Werk des Reformators, München 2009.

[3] Ansgar Reiss / Sabine Witt (Hg.). Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa, Dresden 2009, 397.

[4] Carsten Nicolaisen, Zur Entstehungsgeschichte der Barmer Theologischen Erklärung, in: Martin Heimbucher / Rudolf Weth (Hg.), Die Barmer Theologische Erklärung. Einführung und Dokumentation, 7. Aufl. Neukirchen 2009, 23-29 (24).

[5] Heimbucher / Weth, a.a.O. 30.

[6] Heimbucher / Weth, a.a.O. 32.

[7] Karl Barth vor der Freien reformierten Synode am 4. Januar 1934, ebenda 31.

[8] Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die altpreußische Bekenntnissynode in Halle 1937; vgl. Gerhard Niemöller (Hg.), Die Synode zu Halle 1937. Die zweite Tagung der vierten Bekenntnissynode der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union. Text - Dokumente - Berichte, Göttingen 1963.

[9] Dafür bilden die Arnoldshainer Thesen von 1957/1962 das entscheidende Dokument. Vgl. die Dokumentation in: Das Mahl des Herrn. 25 Jahre nach Arnoldshain. Ein Votum des Theologischen Ausschusses der Arnoldshainer Konferenz, Neukirchen 1982.

[10] Wenzel Lohff, Die Konkordie reformatorischern Kirchen in Europa. Leuenberger Konkordie. Eine Einführung mit dem vollen Text, Frankfurt a.M. 1985.

[11] Vgl. Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis. Votum zum geordneten Miteinander bekenntnisverschiedener Kirchen. Ein Votum des Rates der EKD, Hannover 2001.

[12] Grundordnung der EKD, Art.1, Abs. 2

[13] Grundordnung der EKD, Art. 4 alte Fassung, freilich mit dem Zusatz: "In keiner Gliedkirche wird einem Angehörigen eines in der EKD geltenden Bekenntnisses der Zugang zum Tisch des Herrn verwehrt, wo seelsorgerliche Verantwortung oder gemeindliche Verhältnisse die Zulassung gebieten."

[14] Grundordnung der EKD, Art. 4, Abs. 2.

[15] Zur ökumenischen Bedeutung Wirkungsgeschichte von Barmen und zu seiner Bedeutung für den Weg der EKD siehe Heimbucher / Weth, a.a.O. 94 ff.

[16] Grundordnung der EKD, Art. 1, Abs. 3.

[17] Text: Herbert Claessen, Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Kommentar und Geschichte, Stuttgart 2007, 83 ff., 87 ff.

[18] Philipp Spitta, Evangelisches Gesangbuch 136, 1.

[19] Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a.M. 1976, 42-64 (60).

[20] Vgl. Hans-Joachim Eckstein, Was ist Gemeinde? Biblische Grundlegung, MS 2008.

[21] Römer 15, 7.

[22] These 1 der Barmer Theologischen Erklärung. Außer bei Heimbucher / Weth ist der Text leicht zugänglich im Evangelischen Gesangbuch Nr. 907 sowie in: 75 Jahre Barmer Theologische Erklärung. Eine Arbeitshilfe zum 31. Mai 2009, Hannover 2009.

[23] These 3 der Barmer Theologischen Erklärung.

[24] These 4 der Barmer Theologischen Erklärung.

[25] Vgl. Wolfgang Huber, Synode und Konziliarität. Überlegungen zur Theologie der Synode, in: G. Rau/H.-R. Reuter/K. Schlaich (Hg.), Das Recht der Kirche, Bd. III, Gütersloh 1994, 319-348; ders., Kirchenleitung als Herrschaft durch Dienst? In: J. Ochel (Hg.), Der Dienst der ganzen Gemeinde Jesu Christi und das Problem der Herrschaft Bd. 1, Gütersloh 1999, 93-115.

[26] These 6 der Barmer Theologischen Erklärung.

[27] Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, Hannover 2006, 8 u.ö.

[28] Römer 1, 16.

[29] Evangelisches Gesangbuch 508, 1.

[30] Jens Jessen, in: DIE ZEIT vom 2. April 2009.

[31] Thomas Strobl, Wohlstand für alle, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. April 2009, 31 ff.

[32] Psalm 24, 1.

[33] Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2008, 21. 100 f.

[34] Matthäus 7, 12.

[35] Zur konstitutiven Bedeutung von Reziprozität für gesellschaftlichen Zusammenhalt siehe Heinrich Bedford-Strohm, Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit. Sozialer Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft. Ein theologischer Beitrag, Gütersloh 1999, 253 ff., 359 ff., 435 ff.

[36] Vgl. Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität. Eine Denkschrift des Rates der EKD zur Armut in Deutschland. Mit einer Kundgebung der Synode der EKD, Gütersloh 2006.

[37] Schritte zu einer nachhaltigen Entwicklung. Die Milleniumsentwicklungsziele der Vereinten Nationen. Eine Stellungnahme der Kammer für nachhaltige Entwicklung der EKD zur Sondervollversammlung der Vereinten Nationen, Hannover 2005.

[38] Vgl. Wolfgang Huber, Aufgaben und Grenzen des Staats. Politische Ethik im Anschluss an die 5. Barmer These, in: ders., Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung, 2. Aufl. Neukirchen 1985, 95-112.

[39] Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2007.

[40] Vgl. Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung,
Rüstungsexportbericht 2008, Bonn/Berlin 2008.


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Quelle:
Pressemitteilung Nr. 96 vom 2. Mai 2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Mai 2009