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KIRCHE/986: Nachdenken über Priester und ihre Aufgaben (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 06/2010

Zwischen Verklärung und Ernüchterung
Nachdenken über Priester und ihre Aufgaben

Von Thomas Eggensperger


Demnächst geht das von Benedikt XVI. ausgerufene "Priesterjahr" zu Ende. Auch unabhängig von den Fällen sexuellen Missbrauchs durch Kleriker, die Kirche und Öffentlichkeit seit Monaten beschäftigen, steht die Frage im Raum, wie Priester heute ihr Amt verstehen und ausüben können und wie eine angemessene Priesterausbildung aussehen müsste.


"Willst du für alle da sein, in Nachahmung dessen, der 'allen alles' geworden ist, dann lobe ich Deine menschliche Hingabe, doch nur, wenn sie vollkommen ist. (...) (Und) so denke daran - ich sage nicht immer, ich sage nicht oft, aber doch zuweilen bei Dir selbst Einkehr zu halten. Tu Dir selber ein Gutes an mit den Übrigen zusammen oder zumindest nach ihnen."

Diese Zeilen stammen vom heiligen Bernhard, Energiebündel aus Clairvaux, selbsternannter Reformer des Zisterzienserordens, Prediger zum Hohen Lied der Liebe und Kirchenpolitiker des 12. Jahrhunderts und finden sich in einem Brief, überliefert als "De consideratione". Dieses Schreiben "Über die Erwägung" hat Bernhard an Bernhard von Pisa, einem ehemaligen Mönch seiner Abtei gerichtet, der inzwischen Karriere gemacht hatte und als Papst Eugen III. (1145) in die Geschichte eingegangen ist. Der Brief ist eine geistliche Ermahnung an den gerade Gekrönten.

Im Brief finden sich unter anderem kritische Worte über die "sündigen Kleriker", aber letzten Endes geht es darum, dem neuen Papst deutlich zu machen, dass er nicht vergessen solle, um was es in seinem Amt eigentlich geht. "Über die Erwägung" - diese Schrift meditiert die hohe Bedeutung eben jener geistlichen Übung des Betrachtens. Denn bei allem Stress und Engagement für die Anderen, so die Ermahnung an den Adressaten, möge er sich selbst nicht vergessen. Bernhard warnt vor dem, was heute gemeinhin "Burn out" genannt wird. So hat Bernhard von Mitbruder zu Mitbruder, von Priester zu Priester, von Seelsorger zu Seelsorger einen Rat erteilt.


Nicht nur im Rekurs auf diesen Text stellt sich die Frage, wie im Blick auf das Priesterjahr 2010 - das sich bereits wieder dem Ende zuneigt - zu und über Kleriker zu reden ist. Vieles ist dazu gesagt und geschrieben worden und für jeden war etwas dabei. Da gab es höchst-römische Aussagen, bischöfliche Worte, theologische Kommentare, pastorale "Kontext"-Erwägungen, Aussagen mit erhobenem Zeigfinger, Botschaften appellativen Charakters, kritische Anmerkungen, "Es-ist-in-unserer-Kirche-Fünf-vor-Zwölf"- Hypothesen und summa summarum viel Spiritualität. Da lohnt sich am Ende zu schauen, was zwischen Verklärung und Ernüchterung steht, was sich Neues ergeben hat in der Reflexion und welche Perspektiven über 2010 hinaus zu erwarten sind.


Wunibald Müller, selbst erfahren im Umgang mit persönlichen Krisen und Befindlichkeiten kirchlicher Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, hat versucht, die verschiedenen Persönlichkeitsstrukturen zusammenzufassen (König, Krieger, Liebhaber und Magier. Wie kann das Leben als Seelsorger/-in gelingen?, in: Wort und Antwort 51 [2010] 23-27). Er spricht von vier Archetypen, die er bei den Seelsorgerinnen und Seelsorgen entdeckt. Das sind - um es in der Sprache Müllers auszudrücken - der König, der Krieger, der Liebhaber und der Magier, denen jeweils eine bestimmte Energie eignet.


Der Seelsorger, der die königliche Energie als schöpferische Kraft versteht, will für die Anderen da sein. Er hilft den Anderen und tut alles dafür, dass es ihnen gut geht. Er will aber auch von den Anderen als König wahrgenommen werden und ist ziemlich getroffen, wenn es einmal kritische Rückmeldungen gibt, denn damit würde sein Narzissmus in Mitleidenschaft gezogen.

Der Krieger ist - wie der Name es schon sagt - ein recht offensiver Archetyp. Dieser Seelsorger-Typ ist sehr präsent, mischt sich ein, eckt auch schon mal an. Zuweilen ist der Krieger ein Workaholic und die Zeit der Ausgeglichenheit, der Muße und der Freizeit kommt tendenziell zu kurz. So gut es ist, dass er fleißig und engagiert arbeitet, so schwierig fällt es ihm, sich auch einmal zurückzunehmen und zu entspannen. Auf Dauer riskiert er, dass ihm alles zur Last wird.

Der dritte Typ ist der Liebhaber-Typ, der emotionale Mensch, der vieles mit dem Herzen bedenkt, enthusiastisch ist und sich begeistert in die Arbeit stürzt. Allerdings fällt es diesem Typus zuweilen nicht leicht, auch Grenzen zu ziehen, wenn es um den Umgang mit anderen Menschen geht. Der vierte und letzte von Müller beschriebene Typ ist der Magier. Der mit Magierenergie ausgestattete Seelsorger sieht in sich den "heiligen Mann". Ihm ist bewusst, dass ihm eine besondere Beziehung zwischen Himmel und Erde eignet und er verhält sich entsprechend. Nach Müller pflegen diese Typen intensiver als andere ihr Gebets- und Meditationsleben.


Solch eine Aufzählung von Archetypen hat natürlich nichts zu tun mit Synkretismus und dem Vertauschen von Religionsbeständen, sondern damit, dass bestimmte Muster generalisierbar sind und auch der Seelsorger, der Priester nicht jenseits des Generellen steht. Begriffe wie Krieger, Magier, Liebhaber und Könige sind nur Bilder, Metaphern, um Muster zu skizzieren, die mal mehr, mal weniger bei Einzelnen zum Tragen kommen. Vermutlich hat jeder gewisse Anteile von allem, aber jeder hat auch seinen jeweils persönlichen Akzent. Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass es solche Archetypen gibt, aber es ist sicherlich hilfreich für den Einzelnen, sich seiner selbst bewusst zu sein, um zu verstehen, warum er so oder so auf dies oder jenes reagiert oder eben nicht, und um zu verstehen, wie und warum er von Anderen so oder so wahrgenommen wird.

Dies erscheint - neben den Unterschiedlichkeiten - als das Gemeinsame an der Auseinandersetzung mit dem Thema bei Wunibald Müller und Bernhard von Clairvaux. Beide schreiben für und über Priester und Seelsorger (auch Päpste sind Priester und Seelsorger!), über ihre Qualitäten und Verpflichtungen, aber auch über ihre Schwächen und Nachlässigkeiten. Beide benutzen natürlich eine unterschiedliche Begrifflichkeit, aber sie stehen gar nicht so weit voneinander entfernt.


Kein Job wie jeder andere

Bei aller Gemeinsamkeit stehen aber doch heute bestimmte Situationen und Wirklichkeiten im Raum, welche die Rolle des Priesters in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen. Nicht nur, dass die Rolle des Priesters sich verändert hat, sondern auch die Interessenlage von Priesteramtskandidaten hat sich gewandelt. Kürzlich erschien eine fundierte soziologische Studie von Karsten Lenz über die Rolle der katholischen Priester in der deutschen Gesellschaft (Katholische Priester in der individualisierten Gesellschaft, Konstanz 2009). Lenz befragte in seiner Untersuchung Priester aller Altersstufen, Berufsspezifika und Diözesen (auf Ordenspriester wird nicht speziell eingegangen). In seiner qualitativ ausgerichteten Studie interviewt er die Priester und kommt dabei zu Ergebnissen, die viel nuancierter sind als wenn er sich auf eine quantitative Befragung beschränkt hätte, die zwar gutes Zahlenmaterial geliefert, die aber weit weniger etwas über Hintergründe und Motive ausgesagt hätte.

Ausgehend von der Frage einerseits, wie der katholische Priester zu dem geworden ist, was er ist, und andererseits, welche Motive dazu führen, dass angesichts gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse ein Mann heute den Beruf des katholischen Priesters ergreift, untersucht die Studie am Beispiel des katholischen Klerus, inwiefern es sich dabei um reaktive Modernisierungsprozesse, also um eine Reaktion auf die Moderne handelt. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein galt der katholische Priester als "Milieumanager"; als Kultverwalter und Amtsperson konnte er sich früher einmal recht gut auf sein Amt stützen. Dies geht heute so natürlich nicht mehr, weil ihm eine solche Autorität - zumindest in Westeuropa - nicht mehr zugesprochen wird.


Das ist kein Drama, aber es ist eine Veränderung der Realität, auf die man sich einlassen muss. Dennoch kann nicht davon gesprochen werden, dass der Priesterberuf ein Job wie viele andere auch ist. Eine solche Deutung wird der Situation nicht gerecht. In der Soziologie unterscheidet man deshalb sehr bewusst zwischen Beruf und Profession. Im Gegensatz zu Berufen welcher Art auch immer zeichnen sich Professionen dadurch aus, dass sie recht wesentliche Bezüge personaler Art repräsentieren. So ist der Priester jemand, der qua Amt das Verhältnis des Menschen zu Gott in den Blick nimmt, sei es als Seelsorger, sei es als Theologe oder auch Beides.

Es verwundert nicht, dass die danach Befragten den Begriff "Seelsorger" gerne für sich verwenden, weil er für sie bedeutet, Menschen zu helfen. Wenn sie beispielsweise über die Beichte sprechen, dann betonen sie eher, dass es sich um ein Gespräch handelt und sie sich eher als Berater verstehen und weniger, dass es ein Ort der Sündenvergebung ist und sie als Priester das Sakrament der Versöhnung spenden. Eine weitere Beobachtung bei der Befragung ist die Bedeutung dessen, was unter "Seelsorge treiben" verstanden wird. Auch hier gilt, dass zunächst nicht von Gott geredet wird, sondern erst einmal die eigene Person mit ihrer Kompetenz und Lebenserfahrung gefragt ist. Bekehrt wird also eher durch Helfen als durch die missionarische Rede. Der Priester von heute, so eines der Ergebnisse dieser Umfrage, sieht sich zwar als Experte in religiösen Dingen und will Sinn anbieten, aber er behauptet nicht von sich, dabei missionarisch, dominant oder autoritär aufzutreten.

Deutlich ist bei der Umfrage, dass das gerne gebrauchte Bild von Priestern, die sich selbstherrlich überschätzen, die sich abheben wollen von der Norm, sich als Amtspersonen qua Repräsentant der Institution Kirche sehen, schon lange nicht mehr stimmt. Der Priester von heute ist sich seiner begrenzten Stellung wohl bewusst und er bleibt auf dem Boden der Tatsachen. Gegenteilige Behauptungen erweisen sich möglicherweise als ungerechtfertigte Vorurteile oder sind faktisch überholt. Die Interviews zeigen, dass Priester auch durchaus interessiert sind, mit Laien und anderen Fachleuten zusammenzuarbeiten und Seelsorge als gemeinsames Projekt betrachten. Karsten Lenz stellt fest, dass der Priester die Tendenz hat, sich mit den Laienmitarbeitern und -mitarbeiterinnen zu solidarisieren, um mit ihnen zu kooperieren. Der Priester von heute sieht sich eher als Berater und Begleiter denn als Autorität. Ausnahmen bestätigen - wie immer - die Regel.


Kirchenmitglieder werden zunehmend Kunden

Gemeinhin stellt sich die Frage, mit welcher konkreten pastoralen und auch institutionellen Form von Kirche der Priester von heute konfrontiert ist. Der Religionssoziologie Michael N. Ebertz skizziert dazu ein paar Spannungsfelder, die für die Seelsorger Konsequenzen zeitigen (Seelsorge in Spannungsfeldern. Arbeiten in der Organisation Kirche, in: Wort und Antwort 51 [2010], 28-34).

Ein erstes und grundsätzliches Spannungsfeld sieht Ebertz zwischen der Organisation und der Person. Die Kirchen in Deutschland sind heute "Organisation von Organisationen" und die Menschen werden in diese Sozialform - seien es die Gläubigen, seien es die Priester und Seelsorger - geradezu hineingedrängt. Man kann sich dieser Struktur kaum entziehen und es fällt zunehmend schwer, sich dem hehren Ideal einer "Rettung der menschlichen Person" zu entziehen. Der Seelsorger wird zunehmend zum Funktionär, der zum einen Antworten zu geben hat und sich zum anderen mit den Konflikten auseinanderzusetzen hat, die Kirche mit Gesellschaft führt. Die Umwelt erwartet von der Kirche viel und die Kirche erwartet von ihrem Umfeld so einiges.


Ein weiteres Spannungsfeld ist das zwischen Organisation und Gemeinschaft. Die Gesellschaft nimmt Kirche zwar durchaus als Faktor wahr, aber die klassische Idee der Kirche als Heils- und Gnadenanstalt wird immer weniger verständlich. Nicht mehr verblüffend ist die Feststellung, dass etwa 20 Prozent der deutschen Katholiken wenig oder gar nicht an die Existenz Gottes glauben und knapp 30 Prozent der Katholiken sich zwar als Christen empfinden, aber wenig Beziehung zur Kirche haben. Die Zahlen sind bekannt, aber dennoch schadet es nicht, sie sich immer wieder von Neuem vor Augen zu halten. Genauso wie zu konzedieren ist, dass der Seelsorger zunehmend gehalten ist, Organisator - Manager - zu sein.

In diesem Zusammenhang sind weitere Spannungsfelder zu nennen, die miteinander zusammenhängen. So ist es eine besondere Form von Mitgliedschaft, die der Kirche eignet. Die Organisation Kirche hat Mitglieder, deren Interessen man sich als Seelsorger oder als Bistumsleitung anpassen muss, weil man ihnen schließlich dienen will. Die Kirchenmitglieder werden zunehmend zu "Kunden", die man zu bedienen, und noch mehr - zu akquirieren hat. In diesem Zusammenhang ist auf die augenblickliche Schwierigkeit zu verweisen, den Gemeindemitgliedern zu erklären, warum die Strukturreformen der letzten Jahre und die Zusammenlegungen pastoral sinnvoll und zukunftsweisend sein können, wenn den Mitgliedern diese Reformen überhaupt nicht plausibel sind und sie den einzigen Grund darin sehen, dass Priestermangel herrscht und die vakanten Stellen nicht durch Laien besetzt werden können oder sollen.


Einen weiteren wichtigen Punkt nennt Ebertz: In der Moderne geht man arbeitsteilig vor. Die klassische Pfarrgemeinde jedoch ist zum einen territorial eingerichtet und macht im Grunde genommen haarscharf das Gleiche, was die Nachbargemeinde tut. Die territoriale Ausrichtung besteht im Wesentlichen auch bei neuen Konzepten. Man hat zwar beispielsweise anstelle einer kleineren Pfarrei einen größeren Verbund, aber letzten Endes wird in einem Verbund das Gleiche angeboten wie im anderen, unbeschadet der Tatsache, dass es in Nuancen sehr wohl differierende Aspekte gibt (ein Innenstadt-Verbund setzt seinen Akzent anders als ein ländlich angelegter).

Der Seelsorger muss, ob er es will oder nicht, alle Variationen von Seelsorge-Themen abdecken und bedienen. In einem solchen Kontext wird es ihm schwerfallen, seine spezifischen Themen und Inhalte besonders herauszuheben, da er gehalten ist, auf breiter Basis möglichst viel abzudecken. Die Frage wird eigentlich immer brisanter, ob die klassische Parochiestruktur wirklich zukunftsträchtig ist, aber dem Pfarrer bleibt zunächst nichts anderes übrig, als die klassische Form weiterhin zu bedienen. Er kann hoffen, in seiner Arbeit Kooperationspartner zu finden, um auf dieser Grundlage sowohl das sichere Stammpublikum zu erfreuen aber auch darauf zu achten, ob und wie er "unsichere Milieus" in seine Gemeinde einbinden kann.

Bei aller Sympathie für soziologische und therapeutische Ansätze soll nicht vergessen sein, dass das Priesteramt auch und vor allem in seiner Hermeneutik eines ist, dass sich vorrangig theologisch begründet. Es ist der Altmeister der Theologie des Priestertums, Gisbert Greshake, der sich in seinen verschiedenen aufeinander aufbauenden Büchern zum Thema mit der theologischen Komponente von Priestertum auseinandergesetzt hat (Priester sein in dieser Zeit. Theologie - Pastorale Praxis - Spiritualität, Würzburg 2005, hier: 192-201). Es ist für ihn evident, dass die innere Mitte des kirchlichen Amts die "repraesentatio Christi et ecclesiae" ist. Die Tradition stellt die Auffächerung der Sendung Christi in der Dreiheit von Lehrer, Priester und Amt dar. Diese Beschreibung ist zwischenzeitlich Konsens. Etwas schwieriger wird es, wenn man versucht, die drei Ebenen zu priorisieren und man sich fragt, welche der drei Vorrang vor den anderen haben könnte.

Diese Frage wird in der Theologie unterschiedlich beantwortet. Sowohl der Dienst am Wort als auch der des sazerdotalen Handelns und des Hirtenamts kann integrativ wirken, also die anderen beiden Ebenen in sich einschließen. Eine vierte Ebene wurde von Josef Ratzinger (Benedikt XVI.) eingebracht, an die Greshake erinnert, nämlich die der Stellvertretung. Priestersein wird zum "Vikariat", zur Stellvertretung. Ratzinger spricht vom besonderen Ruf Christi, der das Wesen priesterlichen Dienstes ausmacht.


Es ist Greshake Recht zu geben, dass es letzten Ende müßig ist, darüber zu befinden, welche Ebene bedeutender ist und welche am ehesten die jeweils anderen mit integriert. Die Akzentsetzung kommt nämlich weniger aus der Theologie, sondern wird vielmehr vorgenommen vom Priester selbst. Es hängt von seiner individuellen Berufung, von seinen Fähigkeiten und nicht zuletzt von seinen persönlichen Interessen ab, wie er sein Amt ausübt. Ein junger Kaplan wird vermutlich ein anderes theologisches Lebenskonzept für sich beanspruchen als ein alter Priestermönch in der Kartause. Damit stößt man auf ein sehr grundsätzliches Thema, nämlich auf die Frage nach der persönlichen Berufung zum Priestertum, die in der Regel auch zu unterschiedlichen anderen Lebens- und Arbeitsfeldern führt.

Und dennoch bleibt, dass essenziell alle vom Gleichen reden, wenn sie von ihrem Priestertum reden, aber dies jeweils individuell ausgestalten. Dabei werden die Schwerpunkte entweder eher auf eine ontologische oder auf eine funktionale Konzeption gesetzt. Es ist am Ende aber weniger die konkrete Aktivität des Einzelnen, an der sich das gemeinsame Priestersein festmacht, sondern eher der Bezug auf die Einheit, auf die Gemeinschaft und auf die Eucharistie als Mitte.


Auf die Bedürfnisse der Priesteramtskandidaten eingehen

Nicht zuletzt aufgrund der sehr niedrigen Eintrittszahlen in die Seminare und Noviziate des deutschsprachigen Raums setzt man sich schon eine geraume Weile mit der Frage nach einer zeitgemäßen Priesterausbildung auseinander. Es ist die Aufgabe von Regenten und Magistri, gemeinsam mit den anderen Ausbildungsverantwortlichen, mit denen sie zusammenarbeiten, auf die Bedürfnisse der Kandidaten einzugehen. Es ist dieses Wechselverhältnis von geistlich-theologischer und pastoraler Ausbildung einerseits und der Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung andererseits, das innerhalb der Ausbildungseinrichtungen reflektiert wird.

Die Kandidaten, die bei den Bischöfen und Provinzialen anfragen, sind bezüglich des Durchschnittsalters mittlerweile reiferen Semesters als noch in den achtziger Jahren. Bei ihnen wird man genau darauf achten, was sie in die Seminare und Noviziate an Lebenserfahrung mitbringen und wie sie auf die Fragen der Zeit eingehen können und wollen. Ist der Weg zum geistlichen Beruf eine Flucht? Ist er eine bewusste und freie Entscheidung? Gibt es bei den Kandidaten persönliche Perspektiven? Und vor allem - was erwarten sie eigentlich vom Priesterberuf? Solche Punkte zu erörtern wird von den Ausbildungsleitern zunehmend geleistet. Sie sind ob dieser Aufgabe nicht immer zu beneiden.


Da gibt es schwierige Kandidaten, deren Vorstellungen sehr unklar sind, vielleicht auch unreif. Für manche der Kandidaten stellt die jeweilige Heimatgemeinde oder ihr Heimatpfarrer das - letztlich recht beschränkte - Ideal dar, dem es zu folgen gilt. Für manche Seminaristen ist das Studium eher lästiges Beiwerk, weil sie nicht sehen können, wie die vieljährige akademische Reflexion in Praxis umgesetzt werden kann. Andere goutieren äußere Formen und legen großen Wert auf Liturgie, was dann wiederum von der Gemeinde nicht mehr recht nachvollzogen wird.

Es gibt sehr unterschiedliche Vorstellungen von Ausbildung und in der Frage, was eigentlich thematisiert werden soll und was nicht. So ist zu fragen, wie man heute "Forum Internum" und "Forum Externum" sinnvoll voneinander trennt. Zu überlegen ist dabei auch, ob die strikte Differenzierung der Foren nicht sogar überholt ist und eine solche "Unterscheidung der Geister" nicht eher zu unnatürlichen Umgangsformen führt. Reicht es, in einem "Forum Externum" über dies und jenes der persönlichen Berufung zu sprechen, aber bestimmte Themen (wie die eigene Sexualität beispielsweise) in einem spiritualisierten Raum geradezu zu verstecken, obgleich sie gesamtgesellschaftlich schon längstens offen und unbefangen angesprochen werden.


Erfreulicherweise kommen im Zusammenhang von Priesterausbildung auch scheinbar profane Begriffe wie "Qualitätssicherung" zur Anwendung (vgl. Stephan Kessler, Priesterausbildung und sexuelle Gewalt von Seelsorgern. Reflexionen eines Regens zu den Bereichen von sexueller Identität und Ehelosigkeit, in: Lebendige Seelsorge 61 [2010], 130-135). Zuweilen entsteht der Eindruck, dass Priesterausbildung heute bedeutet, Labilen und Fragilen unter den Kandidaten eine Brücke zum Leben (als Priester) zu bauen. Bei all zu viel Labilität und Fragilität sei aber die Frage erlaubt, ob man solcherart Kandidaten wirklich für die Aufgaben, die in Zukunft anstehen, braucht. Parallel dazu gibt es manche Bistums- und Ordensleitungen, die insgeheim eine möglichst hohe Zahl von Kandidaten erwarten.

Wie schwierig es ist, angemessen über das Priestertum von heute zu reden und auch dafür zu werben, das zeigen die vielen kirchlichen Dokumente und Broschüren, die zurzeit auf dem Markt der Berufungen und im Zusammenhang mit dem Priesterjahr kursieren. So einiges davon lässt einen bei Lektüre ratlos zurück. Was für ein Priesterbild wird da vertreten, welche Chimären werden da aufgebaut?


Seelsorger, die nachfragen und experimentieren

Das Priesterjahr reflektiert aber nicht nur das Priestersein und den Konnex mit der Seelsorge. Karl Hillenbrand, Generalvikar der Diözese Würzburg, setzt sich beispielsweise weniger mit dem Berufsprofil des Pfarrers, sondern vielmehr mit dem geistlichen Profil des katholischen Priesters auseinander, allerdings im Wesentlichen ohne Berücksichtigung des Spezifikums von Ordenspriestern - wie in den meisten Studien zum Priestertum der Ordensstand weitgehend ausgespart wird (Geistliche Menschen - menschliche Geistliche. Priester sein in veränderter Zeit, Würzburg 2009). Er zeigt auf, dass es durchaus neue Perspektiven gibt: So wird das Priesterseminar nicht mehr so sehr als Schutzraum, sondern vielmehr als suchende Weggemeinschaft betrachtet, in dem die unterschiedlichen Lebenserfahrungen in helfend-konfrontierender Begleitung auf eine Entscheidung hin zu fördern versucht werden.

Formal unabdingbar ist für ihn der priesterliche Zölibat, der aber keinesfalls als eine kirchliche Variante zeitgenössischen Single-Daseins zu verstehen ist, welches Mangel an Bindungsfähigkeit und fehlende Bereitschaft zum Treffen einer Lebensentscheidung bedeutet. Priestersein und "Zeichen der Zeit" gehören zusammen! Deswegen gilt es nach Hillenbrand, auf diese Zeichen zu achten, die da sind in unserer Gesellschaft, die Spezialisierung der Lebensbereiche, Skepsis gegenüber Institutionen und Bindungsängste.

Für ihn ist es die "kooperative Pastoral", die nicht nur Notbehelf aufgrund von Nachwuchsmangel sein kann, sondern auch die Forderung nach Zusammenarbeit und gemeinsamer Leitung beinhaltet. Dies ist eine der Perspektiven für den Priester von morgen, soll er doch in der Beschränkung sakramentale Vollmacht und persönliches Charisma miteinander verbinden, "Kundschafter" der Frohen Botschaft sein, sich zutrauen, "Vorhuterfahrungen" zu machen und diese dann an die Gemeinde weiterzugeben.


Weitere Aspekte führt der Pastoraltheologe Stefan Gärtner auf (Zeit, Macht und Sprache. Pastoraltheologische Studien zu Grunddimensionen der Seelsorge, Freiburg 2009). Er sieht in der Seelsorge drei zentrale Dimensionen: die Zeit, die Macht und die Sprache. Für Gärtner soll Seelsorge ein Ort der Entschleunigung, Endlichkeit, und Neustrukturierung von Zeit sein - schwierig genug bei Seelsorgern, die zumeist arbeitsmäßig hoch belastet sind und die den Eindruck haben, dass ihnen sehr viel Zeit fehlt. Die zweite Dimension der Macht wird seitens der Seelsorger zuweilen verdrängt. Wer Seelsorge betreibt, leitet auch und er hat Macht inne. Aber er muss sie klug abzuwägen haben und sie mit einer entsprechenden Bescheidenheit ineins bringen können.

In eine ähnliche Richtung geht der dritte Aspekt der Sprache in der Seelsorge, die sich im Raum der Spätmoderne permanent einem grundsätzlichen Ideologie- und Ignoranzverdacht ausgesetzt sieht. Zeit, Macht und Sprache - sie stehen paradigmatisch für die Herausforderung nicht nur der Seelsorge, sondern auch des Priesterseins von heute!


Am Ende des Priesterjahres steht der Diskurs also durchaus immer noch zwischen Verklärung und Ernüchterung, nicht zuletzt durch die unerwartete, aber durchaus nachhaltige Konfrontation mit den Missbrauchsskandalen in den eigenen Reihen. Die Skandale haben sicherlich zu manchen recht schnellen Beurteilungen geführt, aber summa summarum zeigt sich doch auch eine neu entfachte Diskussion zu Fragen des Priestertums in einer breiteren Öffentlichkeit. Diese Debatte sollte insofern Wirkung zeigen, als dass sie die binnenkirchliche und -theologische Erörterung bereichert, nicht zuletzt weil sie der christlichen Gemeinde in ihrer Begründung nicht mehr ausreicht.


Zweifellos hat das Priesterjahr dazu beigetragen, das Thema des Priesterseins produktiv aufzugreifen. Wenn der Diskurs gut gelaufen ist, dann hat er ein festes Fundament gebaut. Das bedeutet, dass die Fragen, die gestellt wurden, nicht nur pastorale und theologische oder spirituelle waren, sondern auch auf soziologischem und sozialem Niveau gestellt wurden. Der Priester von heute bezieht sich besser nicht nur auf die Spiritualität eines Johannes Vianney, des Pfarrers von Ars, der gerne als Patron der Priester herangezogen wird und von daher im Priesterjahr als ein besonderes Vorbild dienen sollte, sondern er orientiert sich an den vielen Priestern und Seelsorgern, die versuchen, in der Gegenwart präsent zu sein, die nachfragen und experimentieren, die versuchen, Antworten zu geben und dies - ganz im Sinne des heiligen Bernhard von Clairvaux - auf der Grundlage einer gesunden Spiritualität des "Erwägens" und Umkehrens tun. Es ist gut, wenn bereits in der Ausbildung dazu ermuntert wird, denn dort ist aller Priester Anfang!


Thomas Eggensperger OP (geb. 1963) ist promovierter Theologe, Dozent für Sozialethik an der Phil.-Theol. Hochschule der Kapuziner in Münster und Studienregens der Dominikanerprovinz Teutonia. Er ist Direktor des Berliner Instituts M.-Dominique Chenu.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 6, Juni 2010, S. 298-303
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2010