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STANDPUNKT/285: Wozu Theologie? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion 3/2007

Wozu Theologie?

Von Ulrich Ruh


Die Freiheit der Theologie ist die Zumutung,
die Konzentration auf das Notwendige zu wagen.
(Eberhard Jüngel)


Die Theologie, speziell die katholische, steht in einem Beziehungsgefüge, das sie von jeder anderen Wissenschaft unterscheidet. Sie ist verwiesen auf den gelebten und bekannten christlichen Glauben, der ihr vorausgeht und den sie mit ihren verschiedenen Methoden zu reflektieren und auszulegen versucht. Sie ist bezogen auf die Institution Kirche, für die sie Dienstleistungen wie die wissenschaftliche Ausbildung von Priestern und Religionslehrern erbringt und die über ihre Rechtgläubigkeit wacht. Und schließlich vollzieht sie sich in einer Gesellschaft, deren Überzeugungen und Lebensvollzüge sie herausfordern, zu deren religiös-kulturellem Profil sie aber auch einen konstruktiven Beitrag leisten möchte.

Dieses Beziehungsgefüge ist in seinen konkreten Chancen und Problemen nicht ein für allemal festgeschrieben, sondern in ständigem Wandel begriffen. So hatte die Theologie beispielsweise in der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine ausgesprochene Hochkonjunktur. Die neuen Weichenstellungen des Konzils, für die Theologen maßgebliche Vorarbeiten geleistet hatten, mussten in ihrer Umsetzung begleitet und unterfüttert werden. Das galt für das neue Verständnis der Offenbarung ebenso wie für die Öffnung zur "Welt von heute" und zu den anderen christlichen Kirchen. An die Stelle der hergebrachten Schultheologie traten Neuentwürfe und -ansätze in Dogmatik wie Moraltheologie, die teilweise kontroverse Diskussionen auslösten und in einer breiteren Öffentlichkeit Beachtung fanden.

Heute ist die Theologie zwar keinesfalls "klein und hässlich" (Walter Benjamin). Sie verfügt gerade in Deutschland nach wie vor über eine ansehnliche institutionelle Präsenz in der Hochschullandschaft mit einer stattlichen Anzahl von Fakultäten und Instituten und kann auf eine steigende Zahl von Studierenden verweisen. Theologieprofessoren leisten in ihrem jeweiligen Fach, sei es die Exegese oder die Kirchengeschichte, die Dogmatik oder das Kirchenrecht, solide Arbeit, veröffentlichen Lehrbücher und Monographien, führen Forschungsprojekte durch.


Die Koordinaten haben sich verändert

Aber gleichzeitig haben sich die Koordinaten für die Theologie in den letzten Jahrzehnten in mehrfacher Hinsicht verändert. Das beginnt mit der unleugbaren Erosion von Kirchenbindung einerseits und Vertrautheit mit der christlichen Überlieferung andererseits, die der katholischen Kirche in ganz Westeuropa längst zu schaffen macht. Natürlich hängen die Möglichkeiten theologischer Arbeit nicht unmittelbar davon ab, wie viele Katholiken regelmäßig zum Gottesdienst kommen oder einen Grundbestand an Gebeten, biblischen Geschichten oder Kirchenliedern kennen.

Aber wenn die Basis des kirchlichen Lebens durch Überalterung oder zunehmende - wenn auch durchaus freundliche - Distanzierung bröckelt, schrumpft auch der Resonanzraum, auf den die Theologie als kirchlich gebundene Glaubenswissenschaft letztlich angewiesen ist. Ihre primären Adressaten sind schließlich Gläubige mit kirchlicher Beheimatung, die gleichzeitig Interesse am intensiveren Nachdenken über den Glauben und seine Geschichte aufbringen. Davon gibt es heute sicher weniger als vor 30 oder 40 Jahren.

Die Kirche als Institution wiederum hat derzeit alle Hände voll zu tun, ihre Strukturen den geringer werdenden finanziellen und personellen Ressourcen anzupassen. In einer solchen kritischen Phase wird die Aufmerksamkeit von Haupt- und oft auch von Ehrenamtlichen weitgehend durch Sparmaßnahmen und Umstrukturierungen absorbiert. Theologie kann dann leicht als Luxus erscheinen, der für anstehende Entscheidungen wenig austrägt. So wird Seelsorge und Gemeindearbeit noch stärker zum theologiefreien Raum, als es ohnehin schon der Fall ist. Auch so kann Theologie ihre Basis verlieren.

Gleichzeitig kommen aus einer anderen Richtung auf die Theologie neue Herausforderungen zu. Sie hängen mit dem Stichwort Religion beziehungsweise Religionen zusammen. Kein Thema beschäftigt die "normalen" Zeitgenossen, unabhängig vom Grad ihrer Kirchenbindung, derzeit so sehr wie der Islam, sowohl als deutsches Phänomen als auch allgemein als religiöse Weltmacht. Vor allem durch den Islam drängt sich Religion auf eine irritierende und beunruhigende Weise in den Vordergrund. Es macht die Sache so brisant, dass sich dabei religiöse und politische Aspekte vermischen, sich konkrete Erfahrungen vor Ort mit pauschalen Vorurteilen und Generalverdächtigungen verbinden.


Die Theologie muss ihr spezifisches Profil schärfen

Nicht zuletzt, aber nicht nur durch den Islam und die Probleme seiner Integration in die deutsche Gesellschaft sind auch grundsätzliche Fragen zur Religion und ihrer gesellschaftlichen Rolle neu oder wieder auf der Tagesordnung weit nach oben gerückt. Dazu gehört die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt, aber auch die nach dem Verhältnis von Religion und Vernunft, die spätestens seit der Regensburger Vorlesung Benedikts XVI. im Raum steht. Man möchte wissen, was "gute Religion" ist und was nicht, auch ohne dass man in einer konkreten Religion fest verankert wäre.

Gleichzeitig wird man sich zunehmend dessen bewusst, dass auch das Christentum im Weltmaßstab ein anderes Bild bietet, als man es von den etablierten Kirchen in Deutschland und anderswo in Europa mit ihrer eher temperierten und rational eingehegten Religiosität gewohnt ist. Man registriert das schnelle Wachstum von Pfingstkirchen und unabhängigen Kirchen in Südamerika und Afrika und ist auch davon irritiert. Sind die mit einer differenzierten, rationalen Theologie ausgestatteten Teile der Weltchristenheit vielleicht doch ein Auslaufmodell, unter Druck durch einen selbstbewussten Islam einerseits und durch ein Christentum mit so auffälligen wie handfesten Ausdrucksformen andererseits?

Die Frage nach der Religion als Stachel für die Theologie hat so nicht zuletzt eine europäische Dimension. Die Diskussion um den Gottesbezug und die ausdrückliche Erwähnung des christlichen Erbes im EU-Verfassungsvertrag ist dafür nur ein, wenn auch herausragendes Symptom. Letztlich geht es darum, wie sich unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts in einem Europa der religiösen und konfessionellen Pluralität ein gemeinsames ethisches Fundament stabilisieren lässt, das den geschichtlichen Prägungen Rechnung trägt, allen Religionen Heimat und die Möglichkeit gibt, sich einzubringen, und auch die Tatsache berücksichtigt, dass viele Bewohner des Kontinents in Distanz zu jeder Religion leben, auch wenn sie religiöse Überzeugungen respektieren.

Die Theologie in Deutschland wie in Europa insgesamt kann die kirchlichen und gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen des beginnenden 21. Jahrhunderts nur adäquat annehmen, wenn sie sich über ihr spezifisches Profil klar ist und es entsprechend schärft, wenn sie sich öffnet, ohne ihre Identität aufs Spiel zu setzen. Das ist allerdings leichter gesagt als getan, nicht zuletzt weil die gesellschaftlichen Erwartungen teilweise in eine andere Richtung gehen.

Es gibt vielerorts in Europa den Trend, sowohl in der Schule wie in der Universität stärker auf allgemeine oder vergleichende Religionskunde beziehungsweise Religionswissenschaft zu setzen als auf konfessionelle Theologien und konfessionellen Religionsunterricht. Man argumentiert dabei mit dem verbreiteten religiösen Analphabetismus, dem sich durch Religionskunde für alle am ehesten entgegenwirken ließe, wie mit der Notwendigkeit, Toleranz als gesellschaftlich notwendige Grundtugend einzuüben und das Verhältnis zwischen den Religionen zu entspannen. "Religion" gilt als anschlussfähiger für allgemein interessierende Fragestellungen als Theologie, die alles nur in ihrer verengten christlichen oder gar konfessionellen Optik wahrnehme.

Demgegenüber muss die Theologie darauf bestehen, dass sie Glaubenswissenschaft, also bleibend auf die Offenbarung in Jesus Christus als ihren Maßstab bezogen ist. Das macht sie in gewisser Hinsicht sperrig, in der Universität wie in der allgemeinen Öffentlichkeit, trägt aber gleichzeitig zur Klarheit bei. Gerade weil das Bekenntnis zu Jesus Christus als Sohn Gottes alles andere als selbstverständlich ist, öffnet es einen Raum für Nachfragen und Anfragen, die die Theologie bei der Erfüllung ihres kirchlichen wie gesellschaftlichen Auftrags umtreiben müssen und sie nicht zur Ruhe kommen lassen.


Keinem Thema der öffentlichen Debatte über Religion ausweichen

Dabei darf die Theologie gerade heute keinem Thema der öffentlichen Debatte über Religion beziehungsweise Religionen ausweichen oder es unter Niveau behandeln. Sie muss alle Möglichkeiten nutzen, sich interdisziplinär mit der Religionswissenschaft, Religionsgeschichte und Religionssoziologie ebenso zu vernetzen wie mit der Philosophie und den Kulturwissenschaften. Das kann in einzelnen Forschungsprojekten geschehen, aber auch durch die Gestaltung von entsprechenden Studiengängen. Auch im Studium der Theologie selber müssen Kenntnisse und Fragestellungen aus dem Bereich Religionen eine größere Rolle spielen als bisher, sowohl für künftige Religionslehrer wie für künftige Pfarrer und hauptberufliche Laien in der Pastoral.

Die Pointe für die Theologie bestünde gerade darin, jeweils die spezifische Sichtweise und den eigenen Standpunkt so zur Geltung zu bringen, dass er das Gespräch anregt und nicht blockiert, neue Einsichten eröffnet, ohne sie dem anderen aufzuzwingen. Bewährungsproben dafür könnten sich in der Begegnung mit der zeitgenössischen "nachmetaphysischen", aber religionsoffenen Philosophie ergeben, aber auch in der Auseinandersetzung mit dem Islam, die ja hierzulande bisher noch kaum auf einer theologischen Ebene stattfindet. In beiden Fällen wird es kaum zu einer Verständigung in der Hauptsache kommen, weil es letztlich um Glaube und Unglaube beziehungsweise um das Nebeneinander religiöser Grundentscheidungen geht. Aber dennoch könnten jeweils beide Seiten von einem ernsthaften Gespräch profitieren.

Theologie kann heute genauso wenig wie früher Glauben hervorbringen. Sie kann höchstens durch vernünftige Argumente und historisches Anschauungsmaterial das Interesse am Christentum und seinem "heißen Kern" wecken, oder mit denselben Mitteln Steine aus dem Weg räumen, die den Zugang zum Glauben versperren.

Bei aller Einsicht in ihre Grenzen sollte sich die Theologie hier nicht unter Wert verkaufen. Zum einen kann sie entscheidend dazu beitragen, dass über den Glauben, seine Geschichte und über die vielgestaltige Christenheit von heute kompetent informiert wird. Hier haben alle theologischen Fächer ihren Beitrag zu leisten, ohne dass sie immer einen Alleinvertretungsanspruch erheben könnten. Über Christentumsgeschichte kann man unter Umständen von einem Profanhistoriker genauso viel Erhellendes erfahren wie von einem Kirchenhistoriker. Orte und Gelegenheit für die Vermittlung theologischer Information gibt es viele, vom Vortrag im Rahmen der Erwachsenenbildung oder in einer Katholischen Akademie bis zur Lektüre eines entsprechenden Sachbuchs.

Es wäre auch Aufgabe und Herausforderung für die Theologie, die kirchliche Praxis reflektierend zu begleiten und zu unterstützen, sei es die Gottesdienstgestaltung in den Gemeinden, seien es Entscheidungen über pastorale Planungen oder über Schwerpunktsetzungen in einer Diözese. Schließlich kommt es der Theologie generell zu, durch historische wie systematische Argumente die Nachdenklichkeit im kirchlichen Leben in seinen verschiedenen Bereichen zu befördern.

Das kann für Menschen hilfreich sein, die sich auf dem Weg zum Glauben befinden und spüren, dass ihre Fragen ernst genommen werden, dass man sie in einen Prozess des gedanklichen Austauschs über den Glauben hinein nimmt, ohne dass das Ergebnis von vorneherein feststehen müsste. Es kann auch treuen und engagierten Kirchenmitgliedern nützen, die ja oft viel mehr Anfragen und Zweifel in Bezug auf Glaube und Kirche haben, als ihnen meist zugetraut wird.


Die eigenen Stärken müssen offensiv ins Spiel gebracht werden

Es kann kein Zweifel daran bestehen: Theologie wird gerade heute gebraucht, für die Kirche wie für die weitere Öffentlichkeit. Dennoch sollte man sich keinen Illusionen hingeben, was ihre faktischen Möglichkeiten auf beiden Feldern anbelangt. Im Übrigen dürften sich auch kaum Theologen in Deutschland finden, die sich solchen Illusionen hingeben.

Es gibt in der Theologie derzeit kaum herausragende Figuren, die in der Kirche meinungsbildend wirken oder in der Öffentlichkeit allgemeines Ansehen genießen. An den Universitäten muss die Theologie kämpfen, um ihr "Standing" in der Wissenschaftslandschaft zu sichern, und sie tut sich zumindest in manchen Fächern schwer mit ihrem wissenschaftlichen Nachwuchs. Es gab zwar in letzter Zeit keine spektakulären Konflikte zwischen einzelnen Theologen und dem bischöflichen oder päpstlichen Lehramt. Aber das heißt nicht, dass die Arbeit der Theologie überall in der Kirche so geschätzt würde, wie sie es verdiente.

In einer solchen Situation braucht die Theologie in Deutschland vor allem Mut und Kreativität. Sie muss den Mut haben, die eigenen Stärken offensiv ins Spiel zu bringen, in den einzelnen Disziplinen wie als Theologie insgesamt: Reflexionsvermögen und methodische Sorgfalt, bei gleichzeitiger Nähe zum gelebten Christentum und zur kirchlichen Wirklichkeit; Breite der Fragestellungen und Ansätze, bei gleichzeitiger Konzentration auf das Grundanliegen, den Glauben intellektuell redlich und möglichst allgemein verständlich zur Sprache zu bringen, ihn als Angebot und Anspruch so ins allgemeine Gespräch zu bringen, dass er Aufmerksamkeit erweckt.

Genauso ist Kreativität gefragt, bei der Suche nach Kooperationspartnern innerhalb und außerhalb der Universität, bei der Gestaltung von Publikationen wie bei der Vermittlung theologischen Wissens in der Lehre wie für die Öffentlichkeit. Hermetische Sprachwelten, gedankliche Verstiegenheiten, fromme Ergüsse oder flachen Jargon, welcher Herkunft auch immer, kann sich die Theologie gerade heute nicht mehr leisten. Dafür steht zuviel auf dem Spiel, für die Theologie selbst wie für ihr kirchliches und gesellschaftliches Umfeld.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
61. Jahrgang, Heft 3, März 2007, S. 109-111
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Das Einzelheft kostet 12,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Mai 2007