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STANDPUNKT/288: Der Fall Jon Sobrino (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion 4/2007

Moderne Qualitätssicherung?
Der Fall Jon Sobrino ist eine Anfrage an die Arbeit der Glaubenskongregation

Von Peter Hünermann


Jon Sobrino ist einer der bekanntesten lateinamerikanischen Theologen. Die Glaubenskongregation hat jetzt zwei seiner Bücher verurteilt. Mit Sobrino sitzen die angesehendsten Exegeten und systematischen Theologen - katholische wie evangelische - auf der Anklagebank. Das wirft die Frage auf, ob die Glaubenskongregation der ihr zugedachten Aufgabe einer theologischen Qualitätssicherung gewachsen ist.


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In einer Erklärung vom 15. März 2007 hat die Glaubenskongregation die beiden zentralen und weitverbreiteten theologischen Bücher des Jesuiten Jon Sobrino aus San Salvador verurteilt. Es handelt sich um das in fünf Sprachen verbreitete Werk: "Jesucristo liberador" (Jesus Christus, der Befreier, 1991), und das zweite Buch, erschienen in vier Sprachen unter dem Titel: "La Fe en Jesucristo" (Der Glaube an Jesus Christus, 1999). Sobrino dürfte unter den lateinamerikanischen Theologen der international wohl bekannteste und auch im evangelischen Bereich am meisten geschätzte lateinamerikanische Theologe sein. Im August 2004 wurden Sobrino die Vorwürfe mitgeteilt. Er antwortete darauf im März 2005 mit einem umfangreichen Text von über hundert Seiten.

Sobrino hat seine Bücher vor der Publikation von anderen, und zwar renommierten, Theologen gegenlesen lassen. Es handelt sich um Theologen aus Lateinamerika ebenso wie aus Europa. Auf Grund der Vorwürfe wurde dies durch einen europäischen Theologen 2004 wiederholt. In diesen theologischen Stellungnahmen wird festgestellt, dass die Darstellungen der Christologie Sobrinos keine Irrtümer enthalten.

Die Kongregation für die Glaubenslehre reagierte darauf ein Jahr später: "Man stellte fest, dass die Antwort nicht zufriedenstellend ist, auch wenn der Autor in verschiedenen Punkten teilweise sein Denken nuanciert hat, denn in der Substanz bleiben die Irrtümer, welche der Grund für die Übersendung der Liste der erwähnten Sätze waren". Die Kongregation stellt in mehreren Punkten "bemerkenswerte Diskrepanzen mit dem Glauben der Kirche" fest. Man wolle zwar nicht die subjektiven Intentionen des Autors beurteilen, sondern beziehe sich auf bestimmte Sätze, "die nicht in Übereinstimmung mit der Lehre der Kirche sind". Sechs Komplexe werden genannt: Methodologische Voraussetzungen des Autors; die Göttlichkeit Jesu Christi; die Menschwerdung des Sohnes Gottes; die Beziehung zwischen Jesus Christus und dem Reich Gottes; das Selbstbewusstsein Jesu Christi; der heilbringende Wert seines Todes.

Der erste Vorwurf lautet: Der "fundamentale theologische Ort" aller Theologie, insbesondere auch der Christologie, ist "alleine der Glaube der Kirche", es sind nicht die Armen oder die "Kirche der Armen". Angeblich respektiere Sobrino diese fundamentale Voraussetzung nicht. Diese Aussage ist schlicht falsch und beruht auf einer flüchtigen Lektüre: Sobrino unterscheidet - bereits in der Überschrift des entsprechenden Kapitels (Jesucristo liberador 1,2) - den "Kirchlichen Ort" vom "Sozialen Ort" der Christologie. Er erklärt dies so: Die "erste und völlig selbstverständliche" Quelle für eine Christologie sind "jene Texte, in denen die Offenbarung ausgesprochen ist", das "Neue Testament im Besonderen, das in normativer Weise durch das Magisterium interpretiert wird" (51 f. der spanischen Ausgabe von 1991).

Dieses normative und fundamentale Zeugnis aber kann und wird jeweils von ganz spezifischen Gesichtspunkten her gesehen und gedeutet. Es geht ja darum, dieses Vermächtnis des Glaubens für die jeweilige Zeit und in der jeweiligen Zeit zu erschließen. Es geht um Christus, der gegenwärtig ist. Ausdrücklich spricht Sobrino davon, dass es um den Modus geht, in dem und durch den man sich dem Zeugnis nähert. In Bezug auf diese Art und Weise der Annäherung spricht er vom "Ort" oder von dem "sozialen Ort", der in Lateinamerika einzunehmen ist, um das Zeugnis von Jesus Christus in einer angemessenen Weise auszulegen.

Seit Melchior Cano spricht man in der Methodologie der Theologie von "Loci alieni", fremden Orten, die nicht die "loci proprii", die "eigenen theologischen Orte" sind. Diese anderen "Orte" sind aber notwendig, um die Sachverhalte, welche aus den theologischen Orten gewonnen werden, recht einzuordnen und zu vollziehen. Das Gefüge aus der Anerkennung des Depositum Fidei und dieser jeweiligen Verortung des Auslegers des Depositums Fidei fasst Sobrino durch den Terminus "Kirche der Armen", eine Formel, die in Medellin gebraucht wurde und bereits in den Diskussionen des Zweiten Vatikanischen Konzils auftauchte.

Dadurch wird die Grundlage, das Depositum Fidei, in keiner Weise ersetzt oder ausgeschaltet. Ausdrücklich spricht Sobrino deswegen von der "allgemeinen Kirchlichkeit" (ecclesialidad general) der Christologie und ihrer "Konkretion" von der Kirche der Armen her. Melchior Cano schimpft zu seiner Zeit über die Verachtung und die Leugnung der Loci alieni in ihrer Bedeutung für die Theologie, wie er sie bei den Reformatoren vorfindet. Sie hätten sich von Philosophie und Vernunft abgewandt: das verwandle die Theologie in eine "Heilige Tölpelhaftigkeit" (sancta rusticitas).


Welche exegetischen Werke haben die Verfasser dieser Notifikation konsultiert?

Der zweite methodologische Vorwurf besteht darin, Sobrino würde die Aussagen des Neuen Testaments über die Göttlichkeit Christi, sein Sohnesbewusstsein, den heilbringenden Sinn seines Todes nicht entsprechend würdigen und die großen Konzilien in Differenz zum Inhalt der neutestamentlichen Texte sehen und nicht nur von dem begrenzten Charakter von dogmatischen Formeln, sondern auch von einer gewissen Gefährlichkeit dieser Formeln reden. Dieser zweite Vorwurf wird nicht weiter substanziert.

Der erhobene Vorwurf lautet: "Verschiedene Behauptungen des Autors tendieren dahin, die Bedeutung der Passagen des Neuen Testamentes zu verringern, welche aussagen, dass Jesus Gott ist (...) Nach dem Autor wird im Neuen Testament die Göttlichkeit Jesu nicht klar behauptet, sondern es werden nur die Voraussetzungen gegeben: Im Neuen Testament (...) gibt es Aussagen, welche im Keim (en germen) zum gläubigen Bekenntnis an die Göttlichkeit Jesu führen"'. Der Abschnitt mit diesem Vorwurf schließt mit dem Satz: "Das Bekenntnis der Göttlichkeit Jesu Christi ist ein absolut wesentlicher Punkt des Glaubens der Kirche von ihren Anfängen an und ist bezeugt seit dem Neuen Testament."

Diese undifferenzierte Behauptung widerspricht dem weit überwiegenden Konsens katholischer und evangelischer Exegeten. Rudolf Schnackenburg schreibt in seinem Kommentar zu Joh 20,28, dem Thomasbekenntnis in der Begegnung mit dem auferstandenen Herrn: "Man wird sich bei diesem Bekenntnis zur Gottheit Jesu auf den Lippen des Thomas sowohl vor einer Abschwächung als auch vor einer dogmatischen Fixierung hüten müssen (...) Im Sinne des Evangelisten verdeutlicht das Thomasbekenntnis, dass der von der Gemeinde geforderte Glaube an Jesus, den Sohn Gottes [vgl. 20,31] das Gott-Sein Jesu impliziert. Er ist der einzige wahre Gottessohn, nicht nur im Wirken, sondern auch im Wesen mit dem Vater eins [vgl. Exkurs 9 im Band 2], aber der Evangelist denkt noch nicht von der Zwei-Naturen-Lehre her, sondern bindet das Gott-Sein Jesu an die offenbarende und erlösende Funktion des Sohnes: Er ist der Messias, der Sohn Gottes, d. h. er ist der Messias, insofern er der Sohn Gottes ist und der Sohn Gottes in seinem messianischen Wirken. Dieses funktionale Verständnis kann man auch in der persönlichen Bekenntnisformulierung, 'mein Herr und mein Gott' ausgedrückt finden" (397).

In einer Anmerkung zu diesem Text spricht Schnackenburg von einer "implizierten Wesensaussage". Genau diese Differenzierung, welche Schnackenburg hier anspricht, hat Sobrino im Blick. Auf solche Differenzierung hatte schon Alois Grillmeier in seinem großen dreibändigen Werk über das Konzil von Chalkedon aufmerksam gemacht, in dem Bernhard Welte dieser Problematik einen ausführlichen Artikel systematischer Art gewidmet hat.

Hinsichtlich der angeführten Stellen des neutestamentlichen Kanons fragt man sich unwillkürlich, welche exegetischen Werke die Verfasser dieser Notifikation konsultiert haben mögen. Wenn in der Notifikation behauptet wird, Sobrino leugne die "continuidad" zwischen dem Neuen Testament und den konziliaren Aussagen, er sage ja, die neutestamentlichen Texte enthielten "en germen" die Göttlichkeit Jesu Christi, so kann man nur mit Irritation reagieren. Was heißt denn "Keim"? Und was besagt das Bild vom "Keim"?

Auf Grund eines kurzen Zitates von Sobrino wird unterstellt, dass er eine "Homo-assumptus-Theologie" vertrete, die nicht kompatibel sei mit dem katholischen Glauben. Er bekenne nicht die Einheit der Person Jesu Christi in zwei Naturen, der menschlichen und der göttlichen.

Sowohl in seinem Buch "Jesus Christus, der Befreier", wie in dem zweiten Buch "Der Glaube an Jesus Christus" - und hier noch wesentlich ausführlicher - setzt sich Sobrino mit den Ergebnissen der modernen Exegese auseinander. Der Titel "Sohn Gottes" umfasst eine erhebliche Bandbreite von Bedeutungen, die bei den Synoptikern anders aussieht als in den Paulinen und Deuteropaulinen oder bei Johannes. Sobrino beruft sich ebenso auf Oskar Cullmann und Ferdinand Hahn wie auf Martin Hengel, Anton Vögtle oder Joseph Moingt. Sie haben sich mit den Fragen um die Titel "Sohn Gottes - Menschensohn" befasst.

Fußend auf diesen Vorarbeiten stellt Sobrino die unterschiedlichen Bedeutungen nebeneinander. Es stellt eine Verkehrung seiner Intention und seiner Aussagen dar, wenn ihm unterstellt wird, er vertrete einfach eine "Homo-assumptus-Theologie". Zu diesem Schluss kann man nur kommen, wenn man von Chalkedon als einziger Aussagemöglichkeit ausgeht, um das Geheimnis Jesu Christi, seine Verbindung mit dem Vater anzusagen. Eine solche ungeschichtliche Sicht aber verengt die Christologie in einer ungebührlichen Weise.

Im Zusammenhang damit wird bei Sobrino ein Satz kritisiert, in dem er sich in einer kurzen und unangemessen vereinfachenden Form zur Idiomenkommunikation äußert. Sobrino hat in seiner Stellungnahme darauf hingewiesen, dass er zum Theologumenon der communicatio idiomatum nicht ausführlicher Stellung genommen hat, da es sich hier nicht um einen Sachverhalt handle, der für sein Verständnis der Inkarnation zentral sei, und dass er bereit sei, diesen Ausdruck zu korrigieren beziehungsweise ihn völlig herauszunehmen.

Sobrino unterscheidet in seinen theologischen Werken Jesus Christus als Mittler des Reiches Gottes. Er ist für ihn der "definitive, letzte und eschatologische Mittler" des Reiches Gottes. Deswegen kann man auch mit den "so schönen Worten des Origenes Christus die ,autobasileia Gottes, das Reich Gottes in persona'" nennen. Von diesem Mittler unterscheidet Sobrino die universale Vermittlung des Reiches Gottes, zu der Mose und die Verheißung des Landes ebenso gehört wie "Bischof Romero und eine ersehnte Gerechtigkeit". Der Vorwurf lautet: "Es ist nicht zureichend, von einer inneren Verbindung oder einer Beziehung zwischen Jesus und dem Reich Gottes oder von einer 'Letztheit als Mittler' zu sprechen, wenn dies uns auf etwas verweist, was von ihm unterschieden ist. Jesus Christus und das Reich identifizieren sich in einem gewissen Sinn."

Der Vorwurf ist nicht plausibel, insofern Sobrino genau diesen "gewissen Sinn" zu klären und zu bestimmen sucht. Ebenso wenig wird von Sobrino in irgendeiner Weise die "Einzigkeit und Einmaligkeit" der Vermittlung durch Christus geleugnet, genauso wenig wie die "Universalität" und die "Unüberbietbarkeit" dieser Vermittlung. Dies bedeutet aber nicht, dass nicht von einer universalen Vermittlung im Sinne Sobrinos zu sprechen wäre. In diesem Sinn ist schließlich die Kirche mit der Sendung Jesu Christi betraut, vollzieht sie im Geist und vermittelt sie. Im Übrigen gilt, dass der Geist weht, wo er will, und dass er in der Geschichte der Menschen im Hinblick auf das Reich Gottes am Werk ist.

Ferner wird Sobrino in diesem Kontext vorgeworfen: "Die Voraussetzung, Mittler zu sein, kommt Jesus allein von seiner Menschheit her zu: ,Die Möglichkeit, Mittler zu sein, kommt Jesus nicht von einer Wirklichkeit zu, die dem Menschlichen hinzugefügt wäre, sondern sie kommt ihm zu durch den Vollzug des Menschlichen' (La Fe en Jesucristo, 257)". Der Sinn dieser Aussage wird durch den Autor deutlich präzisiert: Es ist nicht die Rede von der natura humana, sondern vom "Menschlichen" (lo humano), von der menschlichen Wirklichkeit, die der Menschensohn so vollzieht, dass darin das zutiefst und vollendet Menschliche, das eschatologisch Menschliche, aufscheint, und zwar als das, was zugleich heilbringend ist.

Es handelt sich folglich nach Sobrino nicht um irgendeine spezielle Vollmacht, die zum Menschsein Jesu Christi hinzukäme. Dass Jon Sobrino hier einen wesentlichen patristischen Topos aufgreift, wie er sich etwa bei Maximus Confessor in seiner theologischen Anthropologie findet, wird übersehen. ("Über den Menschen hinaus wirkt er [Jesus Christus] das Menschliche (...) erweisend, dass die menschliche Energeia mit der göttlichen Dynamis zusammengewachsen ist"). Vielmehr wird unterstellt, dass damit vernachlässigt würde, dass Christus der "vielgeliebte Sohn" Gottes ist.

Jesus Christus wird von Sobrino - unter Berufung auf Hans Urs von Balthasar, Karl Rahner, Helmut Riedlinger und andere Theologen - als jener charakterisiert, der seinen Weg im Glauben an Gott, und zwar in einem abgrundtiefen und vollendeten Glauben geht. Sobrino bezieht sich bei diesen Darstellungen aber nicht nur auf systematische Theologen, sondern ebenso auf Exegeten, welche die verschiedenen einschlägigen Texte des Neuen Testamentes interpretiert haben.

Gegen diese Position wird eingewandt: "Die hypostatische Union und seine Sendung zur Offenbarung und zur Erlösung erfordern die Vision des Vaters [gemeint ist offensichtlich die visio beatifica, F. H.] und die Einsicht in den Plan der Erlösung". Dazu verweist die Notifikation auf Joh 6,46; 1,18, aber auch auf Texte wie Mt 11,25-27; Lk 10,21-22. Es entgeht den Verfassern der Notifikation, dass zwar Pius XII. in "Mystici corporis" noch von der visio beatifica Jesu Christi in seinem Erdenleben spricht, Johannes Paul II. diesen Terminus "visio beatifica" (beseligende Schau) ebenso vermeidet wie der Weltkatechismus. Johannes Paul II. spricht von einer "einzigartigen Kenntnis und Erfahrung Gottes" und der Katechismus von einer "inneren und unmittelbaren Kenntnis" des Vaters.


Sorgfältige Unterscheidungen

Die Frage, wie Jesus auf seinen Tod zuging und wie er ihn selbst verstand, war im Anschluss an die Behauptung Bultmanns heiß diskutiert worden: "Schwerlich kann diese Hinrichtung [Jesu, F. H.] als die innerlich notwendige Konsequenz seines Wirkens verstanden werden; sie geschah vielmehr auf Grund eines Missverständnisses seines Wirkens als eines politischen. Sie wäre dann - historisch gesprochen - ein sinnloses Schicksal. Ob oder wie Jesus in ihm einen Sinn gefunden hat, können wir nicht wissen. Der Möglichkeit, dass er zusammengebrochen ist, darf man sich nicht verschließen". Diese Ausführungen, 1960 publiziert, haben damals eine Fülle von exegetischen Arbeiten ausgelöst, welche Sobrino in seinen Darlegungen aufnimmt.

Seine Zusammenfassung erinnert stark an die damals vorgelegten Thesen von Heinz Schürmann. Schürmann unterscheidet - wie die ganz überwiegende Mehrheit der Exegeten - sorgfältig zwischen den Deutungen des Todes Jesu, die nach den Osterereignissen formuliert worden sind, und den Worten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Jesus selbst in seinem Leben zugeschrieben werden können. Bei der Bestimmung der zuletzt genannten Aussagen des Neuen Testamentes gibt es bei den Exegeten selbstverständlich etwas differierende Positionen, so zählt etwa Rudolf Pesch das Becher-Wort Mk 14,24 zu den geschichtlichen Worten Jesu und schreibt den Sühnegedanken in den vor-österlichen Kontext ein.

Sobrino - er verweist in genereller Weise auf die neutestamentlichen Auslegungen von Leonardo Boff, Edward Schillebeeckx, Xavier-Léon Dufour, González Faus - ist in diesem Punkt zurückhaltender (vgl. Jesucristo liberador, 321), zugleich aber betont er, dass die nach-österliche Deutung des Todes "einen wichtigen historischen Kern hat, der auf das hindeutet, was Jesus selbst von seinem eigenen Tod dachte. Das Entscheidende besteht darin: Jesus bejaht, dass sein Leben ein 'Leben für', 'zugunsten' der Anderen ist und dass es eine positive Frucht in den Anderen hervorbringt. Es ist das Verständnis des Lebens Jesu als 'Dienst' und am Ende als 'Opferdienst'" (322). Sobrino übersetzt so ins Spanische eine Formel, die Wilhelm Thüsing viel gebraucht hat: Jesus Christus vollzieht sein Leben und Sterben als "Pro-Existenz". Treue gegenüber Gott bis zum Ende, bis zum Äußersten, Dienst für die Menschen bis zum Ende, bis zum Äußersten: dies ist die Weise, wie Jesus lebt, dem Tod entgegengeht und stirbt. Damit aber kommt im Leben und Sterben Jesu Christi "lo humano verdadero", der wahre, der tiefste, ja abgründige Sinn von Menschlichkeit zum Vorschein, und diese vollendete Menschlichkeit ist der Ort der Präsenz Gottes. Die Liebe Gottes ist im Kreuz real und präsent in ihrer ganzen Abgründigkeit. "Jesus ist die Initiative Gottes, und genauso ist es auch - welch ein Skandal! - das Kreuz: 'Gott hat seinen eigenen Sohn für uns dahingegeben' (Röm 3,28)" (374). "Das letzte Wort des NT über das Kreuz Jesu ist, dass sich im Kreuz die Liebe Gottes ausgesprochen hat" (375).

Der Vorwurf gegen die Kreuzestheologie Sobrinos schließlich lautet: "Die Erlösung scheint sich auf das Erscheinen des wahren Menschen zu beschränken, der sich in der Treue bis zum Tod manifestiert. Der Tod Christi ist ein Beispiel (exemplum) und nicht ein sacramentum (Geschenk). Die Erlösung reduziert sich auf einen Moralismus". Erläuternd wird angeführt: "Es handelt sich nicht um eine Wirkursächlichkeit, sondern um eine Exemplar-Ursächlichkeit". Der Satz, in dem Sobrino auf das Begriffspaar "Wirkursächlichkeit" "Exemplarursächlichkeit" anspielt, lautet: "Die heilbringende Wirksamkeit manifestiert sich eher (mas bién) in der Art einer Exemplar-Ursache als einer Wirkursache. Aber das bedeutet nicht, dass sie nicht wirksam sei: hier steht Jesus, der treu und barmherzig ist bis zum Ende, der die Menschen einlädt und animiert, in sich den homo verus [den wahren Menschen], das wahrhaft Menschliche hervorzubringen" (374).

Diese einzige Anspielung auf dieses Begriffspaar aus der aristotelischen und scholastischen Tradition manifestiert zum einen deutlich, dass es ihm nicht um diese Ursachenlehre geht und ihre genau bestimmte Begrifflichkeit, dass er sie vielmehr in einem weiteren Sinn als Erklärungsmoment benutzt, er greift damit auf einen patristischen Topos zurück. In der augustinischen Christologie ist Jesus Christus wesentlich gefasst als "Exemplar" (Wilhelm Geerlings), wobei die bewegende Kraft zutiefst der Geist Jesu Christi ist, der der Geist des Vaters ist. Und so wie von Sobrino Jesus selbst und sein Kreuz als "Initiative Gottes" gekennzeichnet werden, so ist sein Kreuz als Ausdruck der Liebe Gottes Gabe an die Menschen (vgl. 375). In diesem Kontext verweist Sobrino auf zahlreiche Schrifttexte, wie etwa Joh 4, 10; Röm 5,6-8 etc. Es ist nicht ersichtlich, wie er sich damit in Widerspruch zum Trienter Rechtfertigungsdekret oder zur Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanums (Nr. 7) setzen soll.

Die Skizze der Vorwürfe wie der Blick auf die Aussagen und Argumentationsweisen Sobrinos dürften dem theologisch gebildeten Leser verdeutlicht haben, dass mit Jon Sobrino die angesehendsten Exegeten und systematischen Theologen - katholische wie evangelische - auf der Anklagebank sitzen. Die Notifikation setzt gegen seinen Entwurf eine Christologie, in der die Aussagen der Konzilientheologie in Identität bereits in den neutestamentlichen Texten gefunden werden sollen.


Kondensat neuscholastischer Christologie

Die Argumentationen bewegen sich völlig in den "metaphysischen" Begriffsschemata, welche auch die Konzilien benutzen, die entscheidenden Begriffe sind: die göttliche und die menschliche Natur Jesu Christi, die hypostatische Union, die Lehre von der Anhypostasie der menschlichen Natur Jesu Christi, die aristotelische Ursachenlehre in ihrer scholastischen Form. Es handelt sich um ein Kondensat neuscholastischer Christologie als Kriterium für die heutige Theologie.

Daraus erklärt sich der Schock, den die Notificatio bei den Theologen ausgelöst hat. Man kann in dieses Schema weder die inzwischen erarbeiteten exegetischen Befunde noch die neueren systematischen Aussagen einbringen. Die bange Frage steht im Raum: Ist dieser Typus der Theologie - ein wirkliches Nadelöhr - das "Portal", durch welches hindurch der Weg der theologischen Arbeit und Forschung in der Zukunft führt? Schließlich stellt diese Notificatio den ersten großen und öffentlichen Akt des neuen Präfekten der Glaubenskongregation und seines Mitarbeiterstabes dar. Ist sie aber auch das neue Modell für die Theologie-Politik Benedikts XVI.? Beides wäre fatal und ruft nach einer Korrektur.

Bereits vor über 50 Jahren hat Bernhard Welte eine sorgfältige Analyse der denkerischen Voraussetzungen der konziliaren Christologie, insbesondere Chalkedons, vorgelegt und damit zugleich die Grenzen Chalkedons und die unabgegoltenen Fragen aufgedeckt, die sich der Christologie heute stellen. Er hat in der Mitte der siebziger Jahre diese Analysen und die Aufgabenstellung nochmals präzisiert (vgl. Gesammelte Schriften IV/2). Thesenhaft zusammengefasst und somit verkürzend: "Die Bibel spricht (...) die Botschaft und die Offenbarung Jesu vorwiegend als das Ereignis der Nähe des Reiches Gottes aus, welches sich in einer spezifischen Reihe weiterer und konkreter Ereignisse kundtat. Darum wird in der Bibel weniger beschrieben, was ist, als vielmehr erzählt und verkündet, was geschah (...) Im Ereignis geschieht etwas, und es geschieht so, dass es aus sich selbst hervortretend und sich öffnend den Glaubenden oder den zum Glauben bereiten hörenden Menschen angeht und anruft, und, falls er sich öffnet, in dessen Eigenstes eintritt oder doch ihn in sein Eigenstes hineinruft" (125).

Hingegen gilt, "dass in Nikaia in der Kirche und im theologischen Denken die Metaphysik zur Herrschaft gekommen ist. Dies heißt dann: das ursprüngliche Ereignis der Offenbarung ist in seiner Ereignishaftigkeit zurückgetreten. Die Leitfrage lautet nun nicht mehr: Was ereignete sich, und was ereignet sich noch? Vielmehr entsteht jetzt die ganz anders gestimmte Frage als Leitfrage: Was ist? Diese Frage hat offenbar einen statischen Sinn: Sie schließt die andere, was geschehen ist und was geschieht, zwar nicht aus, aber sie läuft in eine andere Richtung. Sie fragt: Was ist in Jesus das beständig Vorliegende? Und wie lässt sich solches feststellen? So wird aus dem Heilsereignis und seiner Erzählung und Verkündigung der Gegenstand als 'ousia' für eine neue Weise des Denkens. Das Ereignishafte des älteren christlichen und christologischen Denkens bildet sich gleichsam ab auf einer neuen, nämlich der metaphysischen Ebene, und so erscheint das Ereignis als Wesen - 'ousia' - und nicht mehr als Ereignis" (127).

Als Ziel der theologischen Arbeit bezeichnet es Welte "durch die metaphysische Sprache hindurch auf die biblische Sprache" zu blicken. "Es entstände so eine bewegliche Interpretationsmöglichkeit, welche durch die Dogmatik und die Konzilien hindurch die Bibel lebendig vernehmen kann, ohne ihr Gewalt anzutun, und die zugleich die großen Konzilien und ihre Aussagen verstehen könnte als eine verbindliche Auslegung der biblischen Botschaft für eine große und unermesslich fruchtbare und unermesslich fragwürdige Epoche unserer Geschichte, die aber nach allem an ihr Ende gekommen ist" (130). Es ist kein Zufall, dass bei Welte wie bei Sobrino die gleichen zentralen Kategorien auftauchen: statt "menschliche Natur" beispielsweise "el apparecer del verdadero humano" bei Sobrino beziehungsweise bei Welte das "Ereignis des ganzen Menschen" (130).

Überall wird an einer solchen theologischen Herausforderung gearbeitet. Sobrino steht in Lateinamerika ebenso dafür wie zahlreiche andere Theologen in Nord- und Südamerika, in Europa, Asien und Afrika. Ein solcher Prozess ist nicht nur in der Christologie im Gang. Er betrifft ebenso das schwierige und noch fundamentalere Problem der Trinitätslehre. Man darf froh sein, dass es zahlreiche philosophische Arbeiten gibt, die gerade auch der systematischen Theologie bei dieser schwierigen Begriffsarbeit zugute kommen.


Die Glaubenskongregation bedarf einer intelligenten Neugestaltung

Die Beziehung zwischen Papst und Bischöfen auf der einen Seite und den Theologen auf der anderen Seite ist von unhintergehbarer Bedeutung für den Weg der Kirche in die Zukunft. Die Glaubenskongregation nimmt heute die wichtigste Funktion in der Qualitätssicherung der Theologie wahr. Sie soll dafür sorgen, dass die Theologie wahrhaft die ratio fidei entfaltet. Wenn es seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hier immer wieder zu gravierenden, das Ansehen der Kirche und ihren Weg im Glauben schädigenden Konflikten gekommen ist, liegt dies nicht einfach an den Personen, die dort arbeiten, ihrer umfassenden oder weniger tiefen Bildung. Solche Defizienzen fließen als Konfliktpotenzial ein. Der Grund liegt im Wesentlichen darin, dass die Glaubenskongregation - Nachfolgeorganisation des Heiligen Offiziums - im Grunde immer noch die Struktur einer frühneuzeitlichen Zensurbehörde trägt, wie es sie in allen europäischen Staaten gab.

Moderne Qualitätssicherung im Bereich der Wissenschaften ist anders strukturiert, arbeitet wesentlich mit den Wissenschaften zusammen und bezieht - nach Möglichkeit - die wissenschaftlichen Autoritäten in die Entscheidungsprozesse wissenschaftspolitischer und wissenschaftsadministrativer Art mit ein. Die ratio fidei ist heute in einer hochkomplexen Bildungsgesellschaft mit ihren gravierenden, sozialen, wirtschaftlichen, humanen Problemen und Verwerfungen zu erarbeiten. Sie weist von daher einen Komplexitätsgrad auf, dem eine Zensurbehörde früherer Art organisationstechnisch nicht gewachsen ist. Die Glaubenskongregation bedarf einer intelligenten Neugestaltung.

Im Blick auf den hier vorliegenden Einzelfall, die Verurteilung der Schriften von Jon Sobrino, wäre es mehr als angebracht, es wäre notwendig, auf die gegenwärtige Notificatio - ähnlich wie bei den Verlautbarungen zur Befreiungstheologie - eine zweite Notificatio folgen zu lassen, die einen anderen Duktus aufweist.


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Peter Hünermann (geb. 1929) war bis zu seiner Emeritierung 1997 Ordinarius für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen und ist Ehrenpräsident der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
61. Jahrgang, Heft 4, April 2007, S. 184-188
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juni 2007