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STANDPUNKT/289: "Sie haben uns die Bagdader Nächte gestohlen" (ÖRK)


Ökumenischer Rat der Kirchen - Pressemitteilung vom 28. Juni 2007

"Sie haben uns die Bagdader Nächte gestohlen"

Ein prominenter irakischer Christ legt in einem Interview mit Juan Michel (*) seine Ansichten zur Situation in dem von Gewalt heimgesuchten Land dar.


"Ich komme aus dem verwundeten Irak und dem schwerverwundeten Bagdad", sagte der Mann im schwarzen Habit vor rd. 130 schweigenden Kirchenvertretern und -vertreterinnen von sechs Kontinenten, die zu einer Friedenskonferenz für den Nahen Osten zusammengekommen waren. "Die Lage in meinem Land ist tragisch", fuhr er fort. "Man hat uns Freiheit versprochen, doch was wir heute brauchen, ist die Freiheit, Strom zu haben und sauberes Wasser, die Möglichkeit, unsere grundlegenden Lebensbedürfnisse zu befriedigen und ohne Angst vor Entführung zu leben."

Der Mann, der dies auf der internationalen Konferenz des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) sagte, die unter dem Motto "Kirchen gemeinsam für Frieden und Gerechtigkeit im Nahen Osten" in Amman (Jordanien) stattfand, war Bagdads armenischer Erzbischof Avak Asadourian, Primas der Armenischen Apostolischen Kirche (Hl. Stuhl von Etschmiadsin) im Irak.

Asadourian nahm in Amman als Vertreter des Rates christlicher Kirchenführer in Bagdad teil. Dieser Rat wurde im Juni vergangenen Jahres ins Leben gerufen. Ihm gehören 17 Kirchenführer, darunter zwei Patriarchen, aus vier christlichen Familien an: der katholischen, der orientalisch-orthodoxen, der östlich-orthodoxen sowie der traditionellen protestantischen Familie. Der armenische Primas ist Generalsekretär des Rates.

FRAGE: Warum haben die Kirchenführer diesen Rat eingerichtet?

Um für die Gläubigen in diesen schweren Zeiten da zu sein und den Kontakt mit anderen christlichen Gremien aufrechtzuerhalten. Der Rat informiert die humanitären Organisationen über die Bedürfnisse der Menschen hier und leitet die Hilfe weiter.

FRAGE: Wie sieht die Situation heute für die irakischen Christen aus?

Die Situation ist dieselbe für alle Iraker und Irakerinnen, ob Christen oder Muslime, und sie ist tragisch. Gewehrkugeln unterscheiden nicht zwischen den Religionen. Jeden Tag gelten terroristische Anschläge Menschen, die den Eckstein eines neuen Irak bilden könnten: Fachleute, Ärzte, Ingenieure. Dies führt zu einer allgemeinen Abwanderung von qualifizierten Fachkräften, was umso bedauerlicher ist, als es Jahrzehnte braucht, um qualifizierte Leute auszubilden.

FRAGE: Werden Christen aufgrund ihrer Religion angegriffen?

Eigentlich nicht, außer neulich, als Christen, die in einem bestimmten Stadtteil von Bagdad lebten, bedeutet wurde, sie sollten dort verschwinden oder sie würden umgebracht. Generell sind alle gleichermaßen Zielscheibe der Gewaltakte. In einem Kontext totaler Gesetzlosigkeit machen Verbrecher, was sie wollen. Sie können Sie bedrohen, kidnappen oder umbringen.

Unlängst sind zwei christliche Priester umgebracht worden; einer war orthodox, der andere chaldäisch. In meiner Kirche sind seit 2003 27 Mitglieder der Gewalt zum Opfer gefallen. Zwar waren sie nicht persönlich Zielscheibe, doch waren sie zur falschen Zeit am falschen Ort. Weitere 23 Mitglieder sind entführt worden. Da viele Christen relativ wohlhabend sind, kommen sie für die Zahlung von Lösegeld in Frage genauso, wie gut situierte Muslime.

FRAGE: Laut dem UN-Hochkommissar für Flüchtlinge sind seit Beginn letzten Jahres rd. 1,2 Millionen Menschen aus dem Irak geflohen. Wie steht es mit den irakischen Christen?

Vor dem Krieg machten die Christen etwa 7-8% der Gesamtbevölkerung aus. Heute sind es 3-4%. Die Christen ziehen auch innerhalb des Landes weiter nach Norden in relativ sicherere Gebiete. Die Kirchen werden immer leerer. In meiner Kirche kamen jeden Sonntag ca. 600-700 Gläubige zum Gottesdienst. Heute sind es 100-150. Dafür gibt es mehrere Gründe: manche haben vielleicht Angst, auf die Straße zu gehen; oder sie haben schlicht und einfach kein Benzin - die Schlangen an den Tankstellen sind drei bis fünf Kilometer lang; oder sie sind aus Bagdad weggezogen.

FRAGE: Wie sahen die Beziehungen zwischen Muslimen und Christen vor dem Krieg aus und wie sind sie heute?

Wir Christen waren schon vor dem Islam hier im Land, speziell im nördlichen Teil. Aber Glaubensunterschiede - ob sunnitische Muslime, schiitische Muslime oder Christen - waren nie ein Thema. Unsere Beziehungen waren sehr freundschaftlicher Natur. Diese Unterschiede wurden erst nach Ausbruch des Krieges thematisiert.

Wir setzen uns aber dafür ein, die Beziehungen aufrechtzuerhalten. Zweimal haben wir dem prominentesten schiitischen Geistlichen, Ayatollah Ali al-Sistani, einen Besuch abgestattet wie auch der sunnitischen Führungsspitze. Und ich möchte sagen: Ehre, wem Ehre gebührt. Hochrangige muslimische Geistliche verdienen Anerkennung für ihre Bemühungen, zu verhindern, dass sich der gegenwärtige Konflikt zu einem totalen Bürgerkrieg auswächst.

FRAGE: Ist das, was Sie erleben, ein Kampf der Kulturen?

Was ich sehe, ist kein Kampf der Kulturen, sondern ein verpfuschter Krieg mit tragischen Resultaten auf beiden Seiten. Mir scheint, als hätten die Besatzungsmächte ihre Hausaufgaben nicht gut gemacht. Ein Land zu besetzen ist eine Sache, es so zu verwalten, dass die Menschen ihre Freiheiten ausüben können, eine andere. Damit eine Demokratie lebensfähig ist, muss Sicherheit gewährleistet sein. Demokratie ist nicht nur ein Konzept, sondern eine Lebensart. Was wir heute im Irak brauchen, sind Grundfreiheiten wie die Freiheit, ohne Angst leben zu können, die Freiheit, zu arbeiten, zu reisen, um Grundbedürfnisse befriedigen zu können. Einer der tragischen Aspekte der aktuellen Situation ist, dass sie uns die Bagdader Nächte gestohlen haben.

FRAGE: Wie könnte Ihrer Ansicht nach ein Ausweg aus der jetzigen Lage gefunden werden?

Die Besatzungsmächte müssen die Genfer Konventionen durchsetzen und die Sicherheit des Landes gewährleisten. Wenn es ihnen gelänge, für Sicherheit im Land zu sorgen, wären schon viele Probleme gelöst. Unser Land ist reich. Wir haben Grund und Boden, Wasser, Intelligenz, die zweitgrößten Erdölreserven der Welt - was letztlich ein Fluch geworden ist, anstatt ein Segen zu sein.

Meine Botschaft an meine Gemeinde lautet: Fürchtet euch nicht, aber seid wachsam. Begegnet dieser schlimmen Situation mit Optimismus und betet und arbeitet für eine bessere Zukunft.

FRAGE: Wie können die Kirchen außerhalb des Irak Ihnen helfen?

Ich frage mich, ob die Kirchen außerhalb des Irak mutig genug über dieses Thema sprechen, so dass sie auch gehört werden. Wenn es ihnen gelingen sollte, erfolgreich bei ihren Regierungen vorstellig zu werden, dann sollten sie die Besatzungsmächte daran erinnern, dass sie dem irakischen Volk ein besseres Leben versprochen haben. Es ist an der Zeit, das Versprechen einer glänzenden Zukunft einzulösen. Ein entscheidender Aspekt der Geschichte vom barmherzigen Samariter ist ja, dass er nicht nur Hilfe leistete, sondern dass seine Hilfe vollständig und effizient war.

FRAGE: Eine Reihe von US-Kirchen haben einen Zeitplan für den Abzug der US-Truppen aus dem Irak gefordert. Was halten Sie davon?

Zum jetzigen Zeitpunkt weiß ich das nicht so recht... Es ist ein zweischneidiges Schwert. Würde das den Frieden bringen oder den Terroristen in die Hände spielen? Eine Besetzung ist jedoch niemals annehmbar und immer etwas Vorläufiges, das eines Tages beendet werden sollte.

Meine Botschaft an die Kirchen außerhalb des Irak und besonders an die in den Besatzungsstaaten lautet: Helft uns, das Leben für die irakische Bevölkerung erträglicher zu machen und seine Leiden zu lindern; setzt euch dafür ein, dass die Besatzungsmächte ihre Versprechungen einer besseren Zukunft für alle Gesellschaftsschichten einlösen; und bittet um Gottes Hilfe bei diesen humanitären Anstrengungen.


(*) Juan Michel ist Medienbeauftragter des ÖRK und gehört der Evangelischen Kirche am La Plata in Buenos Aires, Argentinien, an.

Die Meinungen, die in ÖRK-Features zum Ausdruck kommen, spiegeln nicht notwendigerweise die Position des ÖRK wider.


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Der Ökumenische Rat der Kirchen fördert die Einheit der Christen im Glauben, Zeugnis und Dienst für eine gerechte und friedliche Welt. 1948 als ökumenische Gemeinschaft von Kirchen gegründet, gehören dem ÖRK heute mehr als 347 protestantische, orthodoxe, anglikanische und andere Kirchen an, die zusammen über 560 Millionen Christen in mehr als 110 Ländern repräsentieren. Es gibt eine enge Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche. Der Generalsekretär des ÖRK ist Pfr. Dr. Samuel Kobia, von der Methodistischen Kirche in Kenia. Hauptsitz: Genf, Schweiz.


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Quelle:
Pressemitteilung vom 28. Juni 2007
Herausgeber: Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK)
150 rte de Ferney, Postfach 2100, 1211 Genf 2, Schweiz
E-Mail: ka@wcc-coe.org
Internet: www.wcc-coe.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juni 2007