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STANDPUNKT/290: Begegnung mit den Armen (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 6/2007

Begegnung mit den Armen
Was Exposure-Programme bewirken können

Von Karl Osner


Exposure-Programme sind in den letzten beiden Jahrzehnten zu einem festen Bestandteil der Entwicklungspolitik geworden. Sie ermöglichen Menschen aus dem Westen eine direkte Begegnung mit Armen in der Dritten Welt, deren Leben sie für einige Tage teilen. Dadurch entsteht ein neuer Zugang zu den Problemen von Armut und Unterentwicklung.


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Die direkte Begegnung mit den Armen in Exposure-Programmen haben nicht nur mich und meinen Blick auf die Welt der Armen verändert. Die Programme haben mir auch dabei geholfen, Solidarität neu zu verstehen: Solidarität meine ich dabei im Sinne von Nell-Breunings "scharf geschliffenem" Begriff als ein "Auf Gedeih und Verderb Miteinander-Verbundensein". Dieser Bericht fußt auf Erfahrungen. Sie sollen uns helfen, eine Antwort auf folgende Frage zu finden: Sind die Exposure-Programme, wie sie in unterschiedlichen Formen und mittlerweile seit vielen Jahren existieren, tatsächlich Modelle für Solidarität?

Eröffnet die direkte Begegnung und der Dialog mit den Armen vor Ort neue Wege zur praktischen Solidarität mit den Armen? Lassen sich mit der Exposure-Methode strukturelle Wirkungen im Kampf gegen Armut erzielen? Kann schließlich die direkte Begegnung mit den Armen für den einzelnen Teilnehmenden an einem Exposure-Programm Anstoß für das eigene spirituelle Wachsen sein?


Mit den Armen leben

Exposure bedeutet Begegnung, Begegnung von Person zu Person. In einem Exposure begleiten Menschen aus entwickelten Ländern für ein paar Tage andere Menschen - Menschen, die in Armut leben und aus eigener Kraft um ein menschenwürdiges Leben ringen. Es ist eine Begegnung vor Ort, für kurze Zeit, in der Realität von Armut und Ausgrenzung.

Exposure markiert für die Teilnehmenden den Beginn oder die Vertiefung eines persönlichen Weges. Er führt, soweit er gelingt, in Stufen zu persönlichen Antworten auf mehrere Fragen, wie dieser: Habe ich mir Armut so vorgestellt? Was verbindet mich mit der Person, der ich im Exposure begegne? Ist es mehr als Mitleid? Ist mein Wille zur praktischen Solidarität mit den Armen gewachsen? Habe ich meine Kompetenz - welcher Art immer - für wirksame Lösungen im Kampf gegen Armut erweitert? Und auch: Welche innere Verbindlichkeit gehe ich der Person gegenüber, bei der ich zu Gast bin und die mich in ihrem Haus aufgenommen hat, ganz persönlich ein? Will ich überhaupt so weit gehen?

Drei Phasen bestimmen die organisatorische Struktur eines in der Regel fünf- bis achttägigen Aufenthaltes vor Ort:

In der ersten Phase der Begegnung wohnen die Teilnehmenden in kleinen Gruppen zu zweit für zwei bis drei Tage bei ihrer Gastfamilie: sie nehmen am Alltagsleben teil, an den Arbeiten im Haushalt und auf dem Feld. Sie wohnen, essen und schlafen - wenn immer möglich - bei ihrer Gastfamilie.

In einer zweiten Phase reflektieren die Teilnehmenden für ein bis zwei Tage über ihre Erfahrungen im Exposure, in individueller und gemeinsamer Reflexion. In dieser Phase geht es um die Signifikanz der Erfahrungen und um Vertiefung: Was ist nicht nur zufällig oder einmalig, sondern exemplarisch und typisch? Wie ist die Mikroebene mit den Rahmenbedingungen und der Makroebene verbunden?

In einer dritten, ebenfalls ein- bis zweitägigen Schlussphase, dem Dialog, treffen sich alle Teilnehmenden, die gastgebenden Familien, besonders die Gastgeberin, die externen Teilnehmenden, die "Facilitatoren", also sachkundige Mittler für die Kommunikation und die gastgebende Organisation: jetzt geht es um das Fazit und um Folgerungen für die eigene Arbeit.

Der Prozess verläuft also in drei Phasen. Er gewinnt sein ganz eigenes Profil, wenn das einzelne Exposure-Programm folgenden Prinzipien entspricht:

Die Familien, die besucht werden, werden von der Partnerorganisation ausgewählt und haben dem Besuch zugestimmt. Es sind Menschen, meist Frauen, die sich auf die eine oder andere Weise, zum Beispiel mit Hilfe von Kleinkrediten, auf den Weg aus der Armut gemacht haben - mit unterschiedlichem Erfolg. Die Teilnehmer lernen also nicht nur Armut kennen, sondern auch Strategien zu ihrer Überwindung. Sie sehen mit eigenen Augen, wie Ansätze zur Armutsbekämpfung wirken.

Reflexion und Dialog haben die Erfahrungen der Teilnehmenden zur Grundlage. Sie sprechen und reflektieren über ihre Begegnungen mit den Gastgebern. Es ist ein streng induktiver Prozess. Die Begegnung mit einer Person in ihrem familiären und sozialen Umfeld birgt die Chance, Armut und Entwicklung ganzheitlich zu verstehen. Die bewußte Konzentration der Begegnung auf eine einzige Person und deren Umfeld, deretwegen - zugespitzt - ein Teilnehmer auf die Philippinen reist, hat hier ihren Grund. Im Mittelpunkt des Exposure-Programms steht die Person.

Die drei Phasen - Exposure, Reflexion und Dialog - finden zwar hintereinander statt. Dennoch werden sie auch in jedem Baustein des Programms ständig praktiziert: immer sind die Teilnehmenden im Dialog, mit der Gastgeberin, mit dem Exposure-Partner, immer ereignet sich etwas, was zur Reflexion einlädt. 'Tana Vana' nennt SEWA, eine indische Frauengewerkschaft, diesen intensiven Prozess des Verflechtens.


In der Kirche Asiens entstanden

Die Teilnehmer bestimmen den Prozess. Sie verhalten sich im Sinne des Mottos: "Dies ist ein Buch, dem sich jeder selbst hinzufügt". Christa Wolf hat es für ein Buch mit Lebensgeschichten von Frauen in der früheren DDR formuliert. Was ein Teilnehmer hinzufügt, bleibt ihm oder ihr überlassen. Es kann die niedergeschriebene Lebensgeschichte der Gastgeberin sein. Andere haben ihre Erfahrung in ihrer Arbeit genutzt und eine Bilanz des Haushaltsunternehmens der Gastgeberin erstellt. Eine Geographin hat eine geographische Karte über den gewachsenen Bewegungsspielraum der Gastgeberin gefertigt. Andere wahren die Begegnung einfach in ihrem Herzen.

Exposure-Programme sind Mitte der siebziger Jahre in der Kirche in Asien entstanden. Wir haben die Methode in Deutschland, angepasst an die hiesigen Verhältnisse, ab Mitte der achtziger Jahre beim Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und bei Justitia et Pax übernommen.

Die Exposure-Programme der Kirche in Asien werden von dem Büro für menschliche Entwicklung (OHD) der Föderation der asiatischen Bischofskonferenzen (FBAC) organisiert. Seit Mitte der siebziger Jahre bis Ende des vergangenen Jahres wurden in einem zeitlichen Rhythmus von jeweils etwa zehn Jahren je sieben, also insgesamt 21 Programme angeboten: asienweit zur Sensibilisierung der Bischöfe für Armutsfragen und der Option der Kirche für die Armen unter der Bezeichnung BISA (Bishops Institute for Social Action); auf nationaler Ebene in mehreren Ländern Asiens zur innerkirchlichen Verankerung der Exposure-Methode in der pastoralen Praxis und zur theologischen Reflexion unter der Bezeichnung AISA (Asian Institute for Social Action); und ebenfalls sieben Exposure-Programme, die dem interreligiösen Dialog über brennende soziale Fragen wie Migration gewidmet waren, unter der programmatischen Bezeichnung "Glaubensbegegnung in sozialer Aktion" - "Faith Encounter in Social Action" (FEISA). Ende 2006 hat zu Fragen von Gerechtigkeit und Versöhnung ein vierter Zyklus begonnen, unter der Bezeichnung BICA (Bishops Institute for Christian Advocacy). In Deutschland wurden Exposure-Programme erstmals genutzt, als die staatliche Entwicklungszusammenarbeit stärker auf partizipative Armutsbekämpfung ausgerichtet wurde. Sowohl das BMZ wie auch Justitia et Pax haben dazu seit Mitte der achtziger Jahre Exposure- und Dialogprogramme durchgeführt. Von BMZ und staatlichen Durchführungsorganisationen wurden in den Jahren zwischen 1983 bis 1995 eine Serie von Exposure-Programmen organisiert. Der wichtigste Anwendungsfall in dem mehr als zehnjährigen Prozess war die finanzielle Selbsthilfe, also Mikrofinanz. Gemeinsam mit Mikrobanken aus dem Süden wurden sieben Exposure- und Dialogprogramme durchgeführt. An diesen Programmen haben ein Drittel der an dem Reorientierungsprozess des BMZ direkt Beteiligten, insgesamt etwa fünfhundert Fachleute und Akteure aus Nord und Süd, teilgenommen.

Dass diese Programme strukturelle Wirkungen hatten, belegen die drei folgenden Beispiele, die mitursächlich auf Beiträge von Teilnehmenden an den Exposure-Programmen zurückzuführen sind:

Die Verankerung des Mikrofinanzwesens in dem Sektorkonzept des BMZ "Finanzsystementwicklung" von 1995; zwei Öffentliche Anhörungen des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (AWZ) und drei Plenarbeschlüsse des Deutschen Bundestags zur Armutsbekämpfung von 1990, 1993 und 1998; ein Anteil der jährlichen Mittel für Projekte der direkten Armutsbekämpfung vor allem im Bereich Mikrofinanz - beispielsweise die Grameen-Bank - von immerhin 15 Prozent an der staatlichen Entwicklungshilfe am Ende des Prozesses 1995.

Was die Kirche in Deutschland angeht, bietet die Deutsche Kommission Justitia et Pax - heute der Exposure- und Dialogprogramme e. V. - Exposure seit 1985 an. jährlich sind es etwa drei Exposure- und Dialogprogramme, vorwiegend für Schlüsselpersonen aus Politik, Wirtschaft, Kirche und Gesellschaft. Seit 1985 wurden über 60 Exposure-Programme unterschiedlicher Art und Dauer mit etwa 900 Teilnehmenden organisiert. Die strukturell relevante Wirkung dieser Programme entsteht durch die Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bundestag und die zunehmende Teilnahme von Abgeordneten an Programmen und durch ihre Verankerung im Bereich Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz sowie durch die Kooperation mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken.

Ein vierter Träger neben der asiatischen Kirche, dem BMZ und Justitia et Pax, der die Methode von Exposure und Dialog nutzt, ist die Grameen-Bank selbst. Die Mitwirkung der Grameen-Bank an dem erwähnten Prozess der Reorientierung der staatlichen EZ in der Bundesrepublik führte 1987 zu einem Exposure-Programm im Schwarzwald. Daraus entstand ein eigenes Dialog-Programm der Grameen-Bank. Dessen Ziel ist die weltweite Verbreitung des Grameen-Bank-Ansatzes. Inzwischen sind es über 50 internationale Dialogprogramme. Die strukturelle Bedeutung der Dialog-Programme der Grameen-Bank liegt in der weltweiten Verbreitung der Mikrobanken.

Wie die Grameen-Bank entwickelte SEWA, eine große Frauengewerkschaft in Indien mit über 700.000 Mitgliedern, als Folge der Zusammenarbeit mit dem BMZ und später auch Justitia et Pax seit 1991 ein eigenes Exposure-Programm. Es hat erhebliche strukturelle Wirkung. Es dient der Sicherung der ursprünglichen Mission von SEWA als einer Organisation von sehr armen Frauen, der Bildung des Führungsnachwuchses aus eigenen Reihen und der Verbreitung der Organisation in Indien. Zudem wirkt es daran mit, die nationalen politischen Rahmenbedingungen zum Beispiel für das Versicherungswesen auf die Bedürfnisse der Armen und Ärmsten in der informellen Wirtschaft auszurichten.

Ein sechster Träger ist FIDES (Finances pour le Dévelopment Economique et Social), eine französische Spezialorganisation für Mikrofinanz. FIDES setzt die Exposure-Methode für vielfältige Zwecke ein: zum Beispiel beim Aufbau von Mikrobanken und in Forschungsprojekten zur Entwicklung von innovativen Finanzprodukten. Die strukturellen Wirkungen liegen vor allem in dem Aufbau von nachhaltigen Kleinkredit-Banken auch für absolut arme Kundengruppen sowie in der Integration der Elemente von Exposure und Dialog in andere Methoden.


Beispiele für praktische Solidarität

Der siebte Anwendungsfall ist schließlich der Dialog über Fragen der Arbeitsmarktpolitik zwischen den "mainstream"-Ökonomen der Cornell-Universität/USA und Wissenschaftlern des internationalen Netzwerkes WIEGO (Women in Informal Employement - Globalizing and Organizing), den so genannten Basisforschern. Ziel des Dialogs, beispielsweise über die Rolle von Gewerkschaften ist ein besseres Verständnis der beiderseitigen Positionen. Nach zwei Exposure-Programmen bei SEWA und zwei Folgeseminaren in den USA beginnt der Dialog sich zu verstetigen. Im März 2007 hat ein weiteres Programm in Südafrika mit der Universität Durban stattgefunden. Ein strukturelles Moment liegt in der weiten Verbreitung des Dialogansatzes und der Ergebnisse in der wissenschaftlichen Welt.

Kern aller Exposure-Programme ist die direkte Begegnung von Person zu Person vor Ort in der Realität von Armut. Allen Programmen gemeinsam ist die Suche nach konkreten, umsetzbaren Erfahrungen und weiterführenden Ansätzen, wie Armut dauerhaft überwunden werden kann. Die Schlüsselkriterien hierfür lauten Motivierung für Armutsbekämpfung und größere Gestaltungskompetenz.

Die Teilnehmenden sind Schlüsselpersonen, Personen, die Einfluß auf die Gestaltung von Strukturen und Rahmenbedingungen haben. Strukturelle Wirkungen sind der entscheidende Faktor für die Legitimation der Exposure-Programme.

Nie können Exposure-Programme, vor allem mit einem einzelnen Programm, für sich alleine strukturelle Wirkungen zeitigen: Strukturelle Veränderungen sind komplexen Natur und bedürfen zu ihrer Bewältigung nachhaltiger Anstrengungen und einer Vielzahl von Akteuren. Das Programm kann aber das Nachdenken über den Status quo und den Wandel anregen oder sogar einleiten. Es kann Bausteine für notwendige Veränderungen bilden und Wege aufzeigen.

Eine Reihe von Fragen bleiben gleichwohl: Welches ist eigentlich der spezifische Beitrag von Exposure-Programmen? Was sind die praktischen Konsequenzen, zum Beispiel, was die institutionelle Einbindung der Programme angeht?

Dafür bietet die kirchliche Soziallehre in der Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über die christliche Freiheit von 1986 einen guten Anhaltspunkt: Strukturen können Ungerechtigkeit erzeugen. Sie hängen jedoch, so die Instruktion, von der Verantwortung des Menschen ab, der sie verändern kann. Unter Strukturen versteht die Instruktion das Gesamt an Institutionen und Praktiken (Nr. 74). Und Praktiken hängen zu einem ganz erheblichen Teil von den Betreibern der Institutionen ab, von ihrer Kompetenz ebenso wie von ihren Überzeugungen!

Die Wichtigkeit einer institutionellen Nutzung der Exposure-Programme liegt auf der Hand: Sie bringt das operationelle Interesse der Trägerinstitution ins Spiel, das auf umsetzbare Ergebnisse gerichtet ist und auch die Finanzierung der Programme erleichtert. Es besteht weitgehend Konsens, dass Mikrofinanz das erfolgreichste einzelne Förderinstrument unter den Armutsstrategien darstellt. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Grameen-Bank und Professor Muhammad Yunus macht dieses Instrument für viele zu einem Hoffnungsträger im Kampf gegen die Armut. Bleiben wir gleichwohl realistisch: Für viele Haushalte bleibt die Lage prekär. Sie sind verletzlich und können infolge von Krankheit, Unruhen und Naturkatastrophen aller Art wieder in Armut zurückfallen.

Hinzu kommt, dass nach jüngsten Untersuchungen zahlreiche Mikrobanken noch nicht nachhaltig sind. Zudem ist heftig umstritten, ob nachhaltige Mikrobanken auch für absolut arme Haushalte aufgebaut werden können. Damit sind die etwa eine Milliarde der Ärmsten der Armen gemeint, die mit weniger als einem US-Dollar täglich ihr Leben fristen müssen. Vielfach besteht die Auffassung, dass absolut Arme generell nicht bankfähig sind, sondern Sozialtransfers brauchen, also Subventionen.

Gleichwohl gibt es zunehmend Beispiele dafür, dass nachhaltige Mikrobanken auch für absolut arme Kundengruppen aufgebaut werden können. Für Exposure-Programme erschließt sich hier also in mehrfacher Hinsicht ein weites Betätigungsfeld für praktische Solidarität.


Ein Weg, der von außen nach innen führt

Die Spiritualität des Exposure-Programms könnte man mit dem Motto eines kürzlich abgehaltenen Symposiums der Katholischen Akademie Schwerte zur Enzyklika 'Deus caritas est' ausdrücken: "Liebe bewegt".

Die Teilnehmenden lassen sich im Exposure auf einen Weg ein, der über Begegnung und Dialog zu wirksamer Solidarität im Kampf um menschenwürdige Lebensbedingungen für alle führen kann: Es ist ein ganz persönlicher Weg. Und es ist ein konstruktiver, bewegender Gedanke.

Die Enzyklika bietet für die Reflexion zur Spiritualität einen inspirierenden Referenzrahmen. Einige Eckpunkte: "Jeder, der meine Hilfe braucht, ist mein Nächster", so formuliert die Enzyklika den "universalisierten" Begriff und Adressaten der Nächstenliebe (Nr. 15). In der Solidarität mit den Geringsten der Brüder begegnen wir Christus und in Jesus Christus begegnen wir Gott, führt der Text weiter aus. Als Konsequenz und an die Adresse der Helfer gerichtet, also auch an uns: Wir sollen das uns Mögliche tun und das Rechte auf die richtige Weise (Nr. 31), also "mit Kompetenz", kommentiert Kardinal Karl Lehmann diese Stelle. Schließlich das Entscheidende, sehr Aktuelle: "Wenn wir aus der Perspektive Christi sehen, können wir dem anderen mehr geben als die äußerlich notwendigen Dinge - den Blick der Liebe, den er braucht" (Nr. 18).

In den ersten zehn Jahren, bis etwa 1986, hatten ihre Exposure-Programme vor allem das Ziel, den oft aus Mittel- und Oberschichten stammenden Bischöfen in Asien die konkrete Erfahrung von Armut zu vermitteln und so die Option der Kirche für die Armen zu verstehen.

Als Ergebnis einer umfassenden Evaluierung der ersten sieben Exposure-Programme wurde in einem zweijährigen Reflexions- und Dialogprozess Mitte/Ende der achtziger Jahre ein neues Konzept entwickelt: Es heißt nun Exposure-Immersion. Dieses Konzept, das bis heute gilt, beinhaltete eine neue Qualität. Es ergänzt das einzelne Programm durch einen nachhaltigen Prozess des spirituellen Wachsens der Teilnehmenden in der praktischen Solidarität mit den Armen.

Exposure - sich der Armut aussetzen - bildet nur noch den Ausgangspunkt des persönlich verstandenen Weges. Es geht, so wurde sinngemäß formuliert, im übertragenen Wortsinn des lateinischen ex-ponere um das Aufgeben von jeglicher Art von gewohnter Sicherheit und gewohntem Schutz, um Aufbruch und Bewegung um einen Weg, der außen beginnt.

In der ergänzenden Immersion führt der Weg weiter, nach innen. Dafür steht der lateinische Stamm von immersion, also mergere, eintauchen im Sinne von ganz und immer tiefer eintauchen und sich eins machen mit den Armen. Die Protagonisten dieses Konzepts bezeichnen den Ansatz als "Dialogue of Life".

Exposure-Immersion ist demnach kein Kurzbesuch, sondern soll für den einzelnen Teilnehmenden Ausgangspunkt eines dauerhaften Prozesses der Bewusstwerdung und Verinnerlichung werden. "Es geziemt sich für einen Christen", sagt BISA VII, den armen Nächsten bewusst als "ständigen Referenzpunkt" zu sehen: "Heute zeigt sich das Gesicht Christi im Leben der leidenden und kämpfenden Armen."

In der praktischen Konsequenz betont BISA VII die große Bedeutung der Reflexion und die Notwendigkeit eines kontinuierlichen Prozesses der Kontemplation. Die spirituelle und kontemplative Dimension sollte als eine Ressource verstanden werden. Wie könnte unser eigener Weg aussehen? Wie könnte Begegnung und Dialog als Chance für das spirituelle Wachsen in der Solidarität mit den Armen besser genutzt werden, die diesem Programm innewohnt?

"Gott meint es gut mit mir." So hat Fatima Begum, eine arme Frau aus Bangladesch, das Fazit ihres schweren Lebens und Kampfes aus Armut zusammengefasst. Petra Pinzler hat einem Artikel über das Exposure-Programm in der "Zeit" diese Überschrift gegeben.

Fatima ist Muslima, keine Christin. Bezeugt sie nicht aber doch mit ihrem kraftvollen Fazit die Formel christlicher Existenz, wie das Leitwort von "Deus caritas est" diese formuliert: "Wir haben die Liebe erkannt, die Gott zu uns hat, und ihr geglaubt." Wären Begebenheiten dieser Art nicht Anlass für die spirituelle Reflexion im Exposure?

Die Enzyklika betont die spirituelle Bedeutung der Solidarität mit den Geringsten der Brüder. Bieten nicht Exposure-Programme genau dies, die spirituelle Erfahrung der Armut und der Solidarität und können sie nicht genau deswegen bei der Bekämpfung der absoluten Armut helfen?

Schließlich geht es um den "Blick der Liebe", mit dem wir laut Enzyklika unsere Solidarität mit den Armen verbinden sollen. Für mich ist das übrigens der zentrale Gedanke der Enzyklika. Er illustriert zugleich, warum ich die Exposure-Programme für ein so wichtiges Instrument halte, ihre Kernbotschaft - "Liebe bewegt" - in die Welt zu tragen.

Aus Erfahrung wissen wir, dass wegen der sprachlichen und kulturellen Hindernisse Begegnung von Person zu Person im Exposure nur möglich ist mit Hilfe von "Facilitatoren" und vielfältigen Formen non-verbaler Kommunikation. Aus Erfahrung wissen wir auch, dass die wichtigste Form der Blick-Kontakt zwischen Gast und Gastgeberin ist. Gelungene Begegnung heißt: Die Gastgeberin versteht, daß der Gast ihretwegen gekommen ist. Der Gast versteht, dass er aufgenommen wurde und bei ihr zu Hause ist. Es sind dies die schwierigsten und zugleich bewegendsten Momente in einem Exposure. Kann der Blick dieses inneren Verstehens nicht auch den Blick der Liebe tragen?


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Karl Osner war Ministerialdirigent im Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und in den achtziger und neunziger Jahren verantwortlich für die Initiative des BMZ zur Ausrichtung der staatlichen deutschen Entwicklungszusammenarbeit (EZ) auf partizipative Armutsbekämpfung. 1992 initiierte er die Gründung eines eigenen Trägers für die Exposure- und Dialogprogramme als Instrumente der kirchlichen Entwicklungsarbeit. Sein Beitrag fußt auf einem Vortrag in der Katholischen Akademie Schwerte aus Anlass des ersten Jahrestages des Erscheinens der Enzyklika "Deus caritas est".

Literatur:
Auf Wunsch kann ein ausführliches Verzeichnis der verwandten Literatur zur Verfügung gestellt werden. Anfragen unter der E-Mail-Adresse:
osnerkarl@yahoo.de


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
61. Jahrgang, Heft 6, Juni 2007, S. 317-322
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. August 2007