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STANDPUNKT/295: Warum Todsünde wieder aktuell ist (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 10/2007

Die Wurzel allen Übels?
Warum die Todsünde wieder aktuell ist

Von Andreas Lukas Fritsch


Die Todsünden-Thematik ist wieder präsent, nicht nur im Fernsehen und mit einigen Neuerscheinungen in der Literatur. Dabei scheint sie als "anthropologische Konstante" gerade für die Psychologie von neuem Interesse zu sein. Dem steht ein rein metaphorischer Gebrauch des Begriffs "Todsünde" gegenüber. Theologische Bezüge findet man in beiden Fällen nur selten.


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Der klischeehafte Eindruck von "mittelalterlicher Düsterkeit", gefolgt von Verwunderung, konnte schon aufkommen bei dem, der in den letzten Wochen freitags gegen 22.30 Uhr vor dem Fernseher saß und allein schon den dunkel gehaltenen Vorspann einer neuen "Dokutainment-Reihe" des Privatsenders Pro Sieben sah. "Der Abgrund in uns" - mit diesem Untertitel hat ein Themengebiet Einzug in das deutsche Privatfernsehen erhalten, das lange als rückständig und aus längst vergangenen Zeiten angesehen wurde: Die Todsünden.

In sieben Folgen wurden Aufsehen erregende Kriminalfälle der letzten zehn Jahre untersucht und medial aufbereitet, die mit Hochmut, Neid, Zorn, Trägheit, Habgier, Völlerei und Wollust in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Wenn man so will: Der in diesem Zusammenhang oft und gern genannte Hollywood-Streifen "Seven" von David Fincher "in real life", ergänzt durch medizinische und psychologische Hintergründe von Wissenschaftlern, Fachleuten und Zeugen.

Theologische Deutungsversuche der Todsünden sucht man hier freilich vergebens. Fällt der Begriff "Todsünde" während der Serie auch immer wieder, was an Todsünde tödlich ist und was die Laster mit der eigenen Beziehung zu Gott zu tun haben, bleibt unbeantwortet. Stattdessen haben allein die Psychologen das Wort. Sie suchen Antworten auf die Frage, wie zum Beispiel Neid oder Hochmut im Gehirn überhaupt entstehen können.

Eines wird dabei deutlich: Das Thema "Todsünde" ist hochaktuell, psychologisch unglaublich interessant, der Begriff allerdings wird seines religiösen Kontextes enthoben. Der Sender scheint damit den Zeitgeist zu treffen. Todsünden sind "in" - im Fernsehen, in der Werbung, in Vortragsreihen, nicht zuletzt auch in der Kunst und der Literatur. So konnten zum Beispiel die Einwohner des Utrechter Museumsviertels vor kurzem ihre Altlasten, Abfälle und Sünden loswerden. Um auf eine Museumsnacht, welche die Sieben Todsünden zum Thema hatte, aufmerksam zu machen, haben die Ausstellungsmacher besonders gestaltete "Sündensäcke" ausgeliefert, in denen neben dem üblichen Abfall genug Raum für begangene Sünden sein sollte.


Die sieben Todsünden sind mitten in der Gesellschaft angekommen

Ein ganzes Arsenal an aktuellen Bezügen liefert das dünne Buch "Geil & Geizig. Die Todsünden als Gebote der Stunde" (Echter Verlag, 2.Aufl., Würzburg 2005), das von den Theologen und Redakteuren Klaus Hofmeister und Lothar Bauerochse herausgegeben wurde. In sieben Beiträgen wollen die Autorinnen und Autoren, allesamt im Journalismus tätig, einerseits auf die Tradition und andererseits auf die gesellschaftliche Gegenwart der Sieben Todsünden blicken. Ersteres bleibt dabei allerdings mehrheitlich auf der Strecke. Eher phänomenologisch berichten die Autoren von aktuellen Berührungspunkten.

Die Beispiele sind anschaulich, wirken aber durch fehlende Systematik beliebig. Primär als Beiträge für eine Sendereihe des Hessischen Rundfunks ins Leben gerufen, ist Lesevergnügen garantiert. Theologische Hintergründe und Informationen zur Entstehungsgeschichte fehlen allerdings genauso wie Hinweise auf entsprechende Literatur. Das Buch ist erfrischend und humorvoll geschrieben, und der Leser kann sich sicher sein, dass er sich nicht nur einmal bei dem ein oder anderen Laster ertappt fühlen wird.

Da berichtet zum Beispiel Birgit Schönberger von Geizkrägen, die lange als "genussfeindlich, grimmig und unsozial" galten, sich inzwischen aber "von der Witzfigur zum Vorbild gemausert" (26) hätten. Als Beleg dafür, dass Geiz sich von der Todsünde zur Tugend wandelte, eine These, die sich in der gegenwärtigen Literatur durchgehend hält, sieht sie die überaus beliebten Internetseiten "geizkragen.de" und "pfennigfuchser.de". Ob hier nicht aber einfach markante Begriffe zu Marketingstrategien benutzt wurden und die Beliebtheit der Seiten eher nur mit guten Angeboten und nicht unbedingt mit Geiz zu tun hat, darf angefragt werden. Denn scheint es nicht vielmehr so zu sein, dass die persönliche Grundhaltung und Einstellung gegenüber Besitz, Geld, Macht usw. darüber entscheidet, ob jemand geizt oder nicht?

Weiter zitiert Schönberger die Psychoanalytikerin Eva Jaeggi, die der Überzeugung ist, dass unsere Gesellschaft vor allem mit der Zeit geizt. "Zeitgeiz liegt im Trend. Wer Zeit hat, macht sich geradezu verdächtig. Hat die etwa nichts zu tun?" (30). Außerdem lässt Schönberger den Theologieprofessor Reiner Marquard zu Wort kommen, der kritisiert, dass immer mehr Paare mit Vertrauen und Versprechen geizen.

Schnell ist klar, dass die Einsicht, wie aktuell die Todsünden sind, stark zusammenhängt mit den Begriffen, die für sie gefunden werden. Während "Hoffart" den Hochmut noch recht antiquiert erscheinen lässt, wird er durch die Begriffe "Eitelkeit" und "Stolz" ziemlich schnell "geerdet". Während "Zorn" sich noch recht unpersönlich und wenig konkret anhört, wird er als "Aggression", die sich in mehr oder weniger deutlichem "Mobbing" äußern kann, immer alltäglicher.

Ähnliches schildert auch der Hörfunkjournalist Matthias Morgenroth. Er berichtet in dem Büchlein von einem Wirt, der sich gezwungen fühlt, immer größere Schnitzel in immer kürzerer Zeit zuzubereiten und von einer Frau, die in immer kürzerer Zeit immer Größeres leisten muss. Ein Zuviel an Essen, ein Zuviel an Wahlmöglichkeiten, ein Zuviel an Leistungsdruck mit "Burnout" zur Folge, kurz: Zuviel des Guten - klassisch ausgedrückt: Maßlosigkeit oder Völlerei. Auf welche Todsünde genau ein jeweiliges Laster zurückgeht, ist dabei nicht so leicht zu unterscheiden. Zu stark sind die Beziehungen und Zusammenhänge der Todsünden untereinander. So dürfte etwa auch "Mobbing" eine gefährliche Mixtur aus Zorn und Neid sein.


Die Todsünden als Beschreibungssystem von menschlichen Verhaltensweisen

Warum sind die Todsünden so aktuell? Sebastian Engelbrecht, promovierter Theologe und Journalist, äußert sich in "Geil & Geizig" zur Todsünde Trägheit. "Gemeint ist ein destruktives Nichtstun, eine Starre des Geistes und des Leibes, ein Dahinvegetieren im Hier und Heute, ohne Vergangenheit, ohne Ziel, ohne Pflicht, ohne Verantwortung" (99). Wer kennt diese Antriebslosigkeit nicht, wenn auch nicht in diesem ausgeprägten Maße? "Mittagsdämon" nennt schon im vierten Jahrhundert der Mönch Evagrius Ponticus dieses Laster.

So resümiert Engelbrecht, dass das Nachdenken über die Trägheit wie über die anderen Todsünden immer auch ein Nachdenken über das Wesen des Menschen ist. Das macht sie so aktuell. "Die mittelalterliche Deutung der überlieferten sieben Todsünden ist mehr Anthropologie als Theologie - oder zumindest Theologie, die auch für Atheisten leicht verständlich, ja übernahmefähig zu sein scheint" (107). Offensichtlich handelt es sich bei den Todsünden um anthropologische Konstanten. Das Buch schafft es in der Tat, den Leser hin und wieder zum Stocken zu bringen und die Gedanken schweifen zu lassen, inwiefern die eigenen Neigungen in einer der sieben Todsünden wurzeln. Dass dabei gerade die Acedia - Trägheit des Geistes und des Herzens - immer wieder in den Alltag eintritt, ist nicht zuletzt der Grund dafür, dass auch der Generalabt der Trappisten, Bernardo Olivera, seinen Rundbrief für das Jahr 2007 mit dem Titel "Eine Traurigkeit, die das Verlangen nach Gott zersetzt" zu diesem Thema verfasst hat (www.ocso.org/HTM/aglet2007-germ.htm).

Dass die Todsünden heute so große Beachtung finden, liegt an dem derzeitigen Interesse für den Grenzbereich von Psychologie und Spiritualität. In seinem Buch "Wie uns der Teufel reitet. Von der Aktualität der 7 Todsünden" (Ullstein Verlag, Berlin 2006) zählt der Diplom-Psychologie und Chefredakteur der Zeitschrift "Psychologie heute" Heiko Ernst mehrere Gründe für dieses Interesse auf: Die Todsünden seien ein hilfreiches und aussagekräftiges Beschreibungssystem von menschlichen Verhaltensweisen. Eine Einsicht, die Jahrhunderte zuvor auch schon die ganze Tradition der Mönchsväter hatte. Sie allerdings hatten zweifelsohne noch die Beziehung zu Gott dabei im Blick, die durch das Sündigen gestört würde. Heute bleibt der Blick vermutlich weitgehend auf das eigene Selbst gerichtet. "Die alten Todsünden sind heute keine Sünden mehr, die uns in göttliche oder menschliche Ungnade stürzen: Sie gelten (...) höchstens noch als abweichendes Verhalten, als pathologische oder moralische Verirrungen, als Charakterdefekte" (31).

Dass für den Blick auf sich selbst und die Auseinandersetzung mit den eigenen Verhaltensweisen kein religiöser Kontext gegeben sein muss, wird auch bei Ernst deutlich: Die Todsünden seien auch für Nicht-Gläubige "eine erhellende, manchmal ernüchternde und verstörende Möglichkeit der Selbstdiagnostik und der Selbsterkenntnis" (10). Eine Neubetrachtung des Todsünden-Katalogs kommt für Ernst gerade auch daher in Frage, weil Moral im 21. Jahrhundert "eine veränderliche Größe, eine Konvention, ein Konstrukt" sei, "eine pragmatische Verhandlungsmoral". Gerade deshalb stelle sich die Frage nach der Verantwortung in neuer Schärfe: "Das Konzept der Todsünden beinhaltet, unsere Fähigkeit zum Bösen anzuerkennen und Verantwortung zu übernehmen" (33).

Die Todsünden-Thematik ist zweifelsohne präsent, aber auch noch in ihrer ursprünglichen Intention? Die Idee der sieben Todsünden geht zurück auf die Achtlasterlehre, deren "Begründer" im vierten Jahrhundert der christliche Mönch, Asket, Schriftsteller und, wie man heute sagen würde, Psychologe Evagrius Ponticus (345 bis 399) war. Genau genommen war es keine "Idee", die ihm blitzartig eingefallen wäre, sondern Neigungen, die Evagrius Ponticus aus seiner Umwelt abgelesen hat. Er spricht in seinen lebenspraktischen Schriften (Praktikos, Kap. 6-14) von acht schlechten Gedanken (logismoi), von denen die Mönche heimgesucht werden: Völlerei, Unzucht, Habsucht, Traurigkeit, Zorn, Trägheit, Ruhmsucht und Hochmut.


Die Todsünde bedeutet Beziehungstod

Johannes Cassian (um 360 bis 433) übernahm diese Überlegungen und entwickelte sie in seiner Schrift "Über die Grundsätze der Koinobiten und die acht Hauptlaster" ("De institutis coenibiorum et de octo principalibus vitiis") weiter. Er behielt die Reihenfolge von Evagrius Ponticus im Wesentlichen bei und arbeitete die einzelnen Hauptlaster (vitia principalia) ausführlich aus. Mit den Mönchsvätern bekam die Anordnung so ein Ordnungsschema, das die Laster vom Leiblichen zum Geistigen aufsteigen lässt: Die drei Grundtriebe Völlerei, Unzucht und Habgier als begehrlicher Teil, die drei Stimmungen Traurigkeit, Zorn und Trägheit als emotionaler Teil sowie zuletzt Ruhmsucht und Stolz als geistiger Teil.

Papst Gregor der Große (um 540 bis 604) schließlich organisierte das Schema neu und machte es jedermann zugänglich. Er setzte den Hochmut an oberste Stelle, weil daraus alle anderen sieben Hauptlaster stammen würden. Gregor war der Überzeugung, dass vom Geistigen das Sinnliche beherrscht würde. Außerdem verschwindet in seiner Zählung die Trägheit von der Liste, er ordnet aber einige Aspekte davon der Traurigkeit zu. Der Neid wird nun zum ersten Mal der Liste neu hinzugefügt. Da nun der Hochmut - nicht mehr eigens gezählt - als Quelle über den anderen Lastern ruhte, waren es jetzt genau sieben: Ruhmsucht, Neid, Zorn, Traurigkeit, Habsucht, Völlerei und Unzucht.

Nun wurde die Siebenzahl zunehmend zur Symbolzahl. Sie stand zum Beispiel den klassischen sieben Gaben des Heiligen Geistes gegenüber. Da versteht es sich von selbst, wie wichtig die Siebenzahl war, hätten den Sieben Gaben des Heiligen Geistes doch nie acht Todsünden gegenüberstehen dürfen. Wie es von anderen so genannten "Septenaren", wie etwa den Sieben Weltwundern bekannt ist, geht es um die Aussagekraft der Siebenzahl. Welche Laster beziehungsweise Weltwunder allerdings nun genau dazugezählt wurden, konnte freilich variieren.

Die ursprüngliche Intention der Todsünden-Thematik blieb dabei von zentraler Wichtigkeit: Es geht um Beziehung; die Beziehung zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst. Mit der Sünde trennt sich der Mensch aktiv von Gott, er distanziert sich vom Nächsten und von sich selbst. Bleiben diese getrennten Beziehungen unversöhnt, folgt nach klassischer Lehre der "ewige Tod", ein Beziehungstod, der Mensch bleibt in sich gekrümmt, entfremdet.

Vor dem geistigen Auge wäre dabei das Bild von "eisigkalter Starre" wohl viel passender als die alte Vorstellung vom "glühenden Höllenfeuer". Der Hochmütige zum Beispiel ist dann nicht nur der, der sich selbst wichtiger nimmt als Gott und somit die Beziehung zu seinem Schöpfer abbricht, sondern auch der, dem die heutige Psychologie eine "narzisstische Persönlichkeitsstörung" diagnostizieren würde und der durch seine Selbstverliebtheit schon lange keine Beziehung mehr mit Mitmenschen auf gleicher Augenhöhe führen kann.


Der Todsündenbegriff wurde profanisiert und trivialisiert

Lebendige Beziehungen sind dagegen das, was am Leben hält. In deutlichen Worten drückt das der Katechismus der Katholischen Kirche so aus: Die Todsünde "zerstört in uns die göttliche Tugend der Liebe ohne die es keine ewige Seligkeit geben kann" (Nr. 1874). Der Abbruch von Beziehungen geschieht nicht unerwartet und aus heiterem Himmel. Daher sind die Sieben Todsünden auch zunächst einmal nicht mehr als (schlechte) Charaktereigenschaften, welche die Palette der Versuchungsmöglichkeiten des Menschen deutlich machen. Als Hauptlaster verstanden, sind sie eher der Ursprung von Sünden, so dass die Bezeichnung Hauptsünde oder Wurzelsünde heute treffender zu sein scheint.

Um als Todsünde (schwere Sünde) bezeichnet zu werden, müssen für die katholische Kirche die drei Kriterien der schwerwiegenden Materie, des vollen Bewusstseins und der Entscheidungsfreiheit erfüllt sein. Daher kennt sie die Unterscheidung zwischen Todsünde (schwere Sünde) und lässlicher Sünde. Die lässliche Sünde "lässt die Liebe bestehen, verstößt aber gegen sie und verletzt sie" (Katechismus, Nr. 1855).

Diese Differenzierung ist allerdings in den Hintergrund gerückt, fragt man sich doch eher, wie der Mensch zur Sünde generell steht beziehungsweise ob diese Unterscheidung dem menschlichen Handeln gerecht wird. In der evangelischen Theologie spielte diese Unterscheidung daher auch gar keine Rolle, bestand hier doch ausgehend von Luther die alleinige Überzeugung, dass der Mensch Sünder sei und Christus alle Sünden auf sich genommen hat. Dass die Todsünden als Anzeiger menschlicher Charaktereigenschaften dennoch auch bei Protestanten auf großes Interesse stoßen, zeigen einschlägige Vortragsreihen, die auch im evangelischen Raum zunehmen.

Dem (neuen) Interesse der Psychologie an schuldhaftem Verhalten, das seine Wurzeln in einer der sieben Todsünden hat, wie es bei Heiko Ernst und auch in der "Todsünden-Reihe" von Pro Sieben zum Ausdruck kommt, steht ein rein metaphorischer Gebrauch der Todsünden gegenüber. In diesen Fällen wird höchstens noch der Begriff benutzt, um gewisse Assoziationen zu wecken. Ist mit dem Begriff etwa ein Kaufreiz verbunden? Konnte man sich vor einigen Jahren noch die Sieben Todsünden in Form von Eis eines beliebten Herstellers auf der Zunge zergehen lassen, war dieser Genuss immer "eine Sünde wert".

Mittlerweile wimmelt es in Bücherregalen geradezu von Ratgebern, die ohne Bezugnahme auf die Todsünden nicht auszukommen scheinen: Die zehn Todsünden im Marketing, die sieben Todsünden der Gesundheitsindustrie, die unbekannten Todsünden in der Homöopathie... Der Kaufreiz liegt hier aber wohl nicht in der "Lust an der süßen Sünde", sondern eher im Gegenteil, an dem Wunsch, die entsprechenden Kapitalfehler unbedingt zu vermeiden. Der Kaufreiz ist also ambivalent, der Begriff "Todsünde" jedoch funktioniert in beiden Fällen. Hob man im Falle des Eises noch auf die Siebenzahl ab, indem man für jede Todsünde ein "passendes" Eis anbot, scheint bei den Buchtiteln auch das keine Rolle mehr zu spielen. Allein der Begriff mit seiner Vorstellungswelt hat seinen Reiz. Nach der Profanisierung des Todsündenbegriffs wird er mit dem metaphorischen Gebrauch zudem trivialisiert.

Wieder um eine ernsthaftere Auseinandersetzung bemüht, ohne aktuelle Anlehnungen zu verschweigen, tritt das gerade erst erschienene Buch "Auf Teufel komm raus. Von Wollust, Geiz und anderen Todsünden" (hg. v. Ulrike Murmann, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2007) auf. Ganz ähnlich wie "Geil & Geizig", nur in der Autorenauswahl prominenter besetzt, bietet es sieben persönliche Annäherungen von Personen des öffentlichen Lebens, die ursprünglich in einer Vortragsreihe über die sieben Todsünden in der evangelisch-lutherischen Hauptkirche St. Katharinen in Hamburg gehalten wurden.

Da spricht Ole von Beust, Erster Bürgermeister von Hamburg, über Hochmut (superbia) und bricht eine Lanze für die Politikerzunft, die seiner Meinung nach weit weniger unter diesem Laster leide als gemeinhin angenommen werde. Ob er Recht hat, darf offen bleiben. Zumindest stellt er überzeugend heraus, dass die eigene Einstellung darüber entscheidet, ob eine schlechte Eigenschaft, eine Neigung, auch zur Sünde oder gar Todsünde wird. Sehen wir eine Leistung als reinen Ausdruck unseres eigenen Könnens an, führen wir unsere Erfolge allein auf uns zurück? Oder gestehen wir uns ein: "Es war verdammt viel Glück - oder Gnade - dabei" (2l)? Die Grenze zwischen Demut und Hochmut ist fließend.

Oder aber Reinhold Beckmann, der nicht nur zugibt, dass er zur Wollust eigentlich nichts sagen könne (wirklich nichts?), sondern auch auf den veralteten drohenden Höllenvorstellungen der katholischen Kirche zu seiner Jugendzeit als Ministrant herumreitet. Er bevorzugt es zudem das Positive der "Sinnenlust" herauszustellen. "Sie ist für mich Ausdruck von Vitalität. Ich verbinde damit die Augenblicke des Lebens, in denen ich spüre, dass ich Mensch bin. Und ich bin es gerne" (99). Jetzt würde von dem Lebemann nur noch das bekannte "und das ist gut so" fehlen. Aber stattdessen macht er auf eine interessante oder zumindest amüsante Homepage aufmerksam: www.7todsuenden.ch.

Die Schweizer Internetseite entstand im Rahmen einer Abschlussarbeit von drei Schülerinnen und einem Schüler der Neuen Kantonsschule Aarau. Sie realisierten in ihrem Abschlussjahr vor dem Abitur einen multimedialen Literaturevent zum Thema "die Sieben Todsünden". Mit Besuch der Webseite wird man aufgefordert, sich seinen Lastern zu stellen. In einem Todsünden-Test kann man nach Beantwortung weniger Fragen über die eigenen verborgenen Sündentendenzen aufgeklärt werden. Das Ergebnis lautet dann etwa: "Sie haben latenten Hang zu Habsucht mit nicht zu vernachlässigender Affinität zu Wollust".

In der Einleitung zu "Auf Teufel komm raus" meint Herausgeberin und Hauptpastorin an St. Katharinen Ulrike Murmann, dass "Sünde" in der Kirche auf dem Index für bedrohte Worte stünde. Mit dem Urteil mag sie richtig liegen, ob allerdings ihr Büchlein dazu beiträgt den Begriff wieder fundiert ins Gespräch zu bringen, darf trotz (oder gerade wegen?) prominenter Besetzung angezweifelt werden. Zwangsläufig drängt sich die Frage auf: Wer entschied, welcher Prominente zu welcher Todsünde spricht beziehungsweise schreibt? Hätte man Bild-Chefredakteur Kai Diekmann nicht lieber zum Thema "Maßlosigkeit" oder "Hochmut" als zum Thema "Zorn" gehört?

Da ist es wohltuend, ein Buch beziehen zu können, das nicht allein auf beliebig viele aktuelle Bezüge schaut, das nicht versucht, mit Prominenz für das Thema "Sünde" zu werben, sondern sachlich und fundiert über die Todsünden-Thematik informiert. Ein solches Buch ist mit dem schlichten Titel "Die sieben Todsünden. Über Laster und Tugenden in der modernen Gesellschaft" Anfang des Jahres von dem emeritierten Professor für Soziologie Alfred Bellebaum und dem Diplomtheologen Detlef Herbers herausgegeben worden (Aschendorff Verlag, Münster 2007).


Nie Hauptthema der Kunst und doch von großem künstlerischen Interesse

Nach einer kurzen (und leider etwas knappen) geistesgeschichtlichen und moraltheologischen Einordnung des Themas durch den Fuldaer Moraltheologen Peter Schallenberg liefert der Kunsthistoriker und Konservator Holger Jacob-Friesen einen beeindruckenden Überblick über die sieben Todsünden in der Kunst - von Illustrationen aus Handschriften, die Kämpfe zwischen Tugenden und Lastern zeigen, bis zum schon erwähnten Film "Seven".

Obgleich die sieben Todsünden nie ein Hauptthema etwa der Bildenden Kunst waren, sind sie ein Thema, mit dem sich zahlreiche Künstler über die Jahrhunderte hinweg befasst haben, wie etwa Hieronymus Bosch (um 1450-1516), Otto Dix (1891-1969) oder in den achtziger Jahren dann Bruce Naumann. Da verwundert es nicht, dass auch das Murnauer Schlossmuseum derzeit das Thema "Todsünde" aufgreift und eine Sonderausstellung präsentiert: Ausgangspunkt ist hier ein Zyklus des österreichischen Graphikers Alfred Kubin (1877-1959).


Mehr als ethnologisches Material aus weit zurückliegenden Zeiten

Das sehr gut lesbare und ausschließlich von Fachvertretern geschriebene Buch, das auf eine wissenschaftliche Tagung im April 2006 zurückgeht, argumentiert immer wieder gegen den Bamberger Soziologen Gerhard Schulze, der mit seinem Buch "Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde" (Carl Hanser Verlag, München 2006) eine "Laubsägearbeit aus dem soziologischen Hobbykeller" darbrachte, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung prompt kritisierte.

So rügt der Regensburger Soziologe Robert Hettlage Schulzes Sichtweise, dass sich der modern verstehende Mensch entscheiden müsse zwischen einem Leben für Gott (welches antimodern sei) und einem eigenen Leben im Diesseits (259). "Für Schulze sind die Tugend- und Lasterkataloge nur noch ein Kontrastmittel, um den modernen, unausgesprochenen Kodex des 'schönen Lebens' [...] umso deutlicher hervortreten zu lassen" (260). Hettlage macht darauf aufmerksam, dass darin ein Rückschritt liegen könne. "Der 'aufrechte Gang' besteht nicht nur in der Selbstbefreiung, sondern auch in der Selbstkontrolle" (263).

Der Soziologe Manfred Hennen kritisiert, dass es sich Schulze zu leicht mache, wenn er die Todsünden "als ethnologisches Material und als Zeugen einer fremden weit zurückliegenden Zeit" (174) ansehe. Hennen schreibt über die Todsünden Zorn und Hochmut. Er sieht in der "Selbstvergottung" (194) den Grund, warum traditionell der Hochmut als schlimmste der Sünden betrachtet wurde. Welches aber ist die aktuellste Todsünde, welche trifft uns heute am meisten?

In der Literatur ist oft die Rede davon, dass derzeit der Geiz in unserer Gesellschaft auf dem ersten Platz sei. Auf der Homepage www.7todsuenden.ch der vier Abiturienten ist in der "Sündenstatistik" von allen Befragten mit 18 Prozent die Wollust an oberster Stelle. Nach Erhalt des Ergebnisses des "Todsünden-Tests" wird "der Proband" ermuntert, den Befund in einem zweiten Testdurchlauf "mit neuen Fragen je nach Wunsch und Bedürfnis" ändern oder bestätigen zu lassen.

Welche Todsünde nun auch immer den derzeitigen ersten Rang in der Gesellschaft einnimmt, sie ist für Psychologen, Soziologen und Theologen so aktuell, weil sie immer auch mit dem Wesen des Menschen zu tun hat. Vermutlich deswegen spricht die Homepage - ob man sich nun einem zweiten Test unterzieht oder auch nicht - den eindringlichen Hinweis aus: "Wir empfehlen so oder so eine eingehende Auseinandersetzung mit ihren Lastern". Mag diese Webseite auch einen noch so hohen Unterhaltungswert haben, zumindest dieser Empfehlung dürften auch die meisten Psychologen, Soziologen und Theologen zustimmen.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
61. Jahrgang, Heft 10, Oktober 2007, S. 520-524
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Oktober 2007