Schattenblick →INFOPOOL →RELIGION → CHRISTENTUM

STANDPUNKT/310: Extremistenbeschluß für Gläubige (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 7/2008

Extremistenbeschluss für Gläubige
Kleine Polemik gegen fundamentalistische Nichtgläubige

Von Saskia Wendel


Die so genannten "neuen Atheisten" kritisieren, dass religiöse Überzeugungen nicht nur unvernünftig und unwissenschaftlich sind, sondern letztlich auch gewaltförmig und damit unmoralisch beziehungsweise politisch gefährlich. Man kann dieser Position aber nicht nur mit Empörung begegnen. Vielmehr bedarf es des Nachdenkens darüber, was religiöse Überzeugungen sind.


*


"Wer glaubt, ist ein potenzieller Gewalttäter!" Wer diesen Satz zu Recht als Pauschalurteil, ja als Kurzschluss ansieht, muss jedoch zur Kenntnis nehmen, dass Pauschalurteile dieser Art mittlerweile offenbar salonfähig geworden sind. Ist doch die Meinung, dass Gläubige potenziell zur Gewalt neigen, in abgeschwächter, verbrämter Form eine zentrale These von Autoren, deren Bücher inzwischen die Bestseller-Listen zieren und in den Feuilletons rezensiert und diskutiert werden.

So kritisieren etwa die "neuen Atheisten" Richard Dawkins, Daniel Dennett, Sam Harris oder Christopher Hitchens, dass religiöse Überzeugungen nicht allein unvernünftig und unwissenschaftlich, sondern letztlich auch gewaltförmig und damit unmoralisch und politisch gefährlich seien: Jeder religiös gebundene Mensch sitzt Dawkins und Co. zufolge schon auf der Rutschbahn in den Fundamentalismus, eben weil er gläubig ist, weil er sich zu religiösen Überzeugungen bekennt.

Jeder Gläubige ist dieser Position gemäß dann aber genau besehen kraft seiner religiösen Überzeugung schon ein potenzieller Terrorist und damit eine Bedrohung für plurale Gesellschaften - eine Position, die so zwar von den "neuen Atheisten" nicht ausdrücklich formuliert wird, die aber die logische Konsequenz der These ist, dass Religionen per se gewaltförmig und damit politisch gefährlich sind. Denn religiöse Überzeugungen werden so letztlich als Form totalitärer Ideologien verstanden, die es dann aber zu bekämpfen gilt, um den inneren wie äußeren Frieden garantieren zu können.

Zwar stünde dann das Grundrecht der Religionsfreiheit zur Disposition, doch mit Hinweis auf die mit religiösen Überzeugungen verbundene Gefahr könnte man durchaus zu der Auffassung gelangen, dass es "keine Freiheit für die Feinde der Freiheit" geben kann: Im Namen der Freiheit wäre dann die Religionsfreiheit einzuschränken oder gar ganz abzuschaffen; im Kampf gegen den Terrorismus wäre letztlich die Religion zu bekämpfen und zu verbieten. Und man könnte dann durchaus auf die Idee kommen, gegen Gläubige jedweder Couleur einen neuen Extremistenbeschluss einführen zu müssen, um die Freiheit zu schützen.

Diese Konsequenz mag absurd oder überspitzt erscheinen, dennoch aber wäre es eine legitime Position, handelte es sich bei religiösen Überzeugungen tatsächlich per se schon um Überzeugungen, die kraft ihres Absolutheitsanspruches gewaltförmig sind und damit auch als politisch gefährlich einzustufen sind. Und selbst wer diese Konsequenz scheut, könnte dennoch der Meinung sein, dass Religionen zumindest latent zur Gewalt neigen und daher ständiger Kritik, besser noch Kontrolle zu unterwerfen sind. Der Satz: "Wer glaubt, ist ein potenzieller Gewalttäter!" erscheint dann dieser Position gemäß gar nicht mehr so abwegig, auch wenn er so von den gegenwärtigen Religionskritikern nicht explizit formuliert wird, vielleicht aus Scheu, die letzte Konsequenz aus der eigenen Kritik zu ziehen - verwunderlich, weil man ja ansonsten nicht gerade zimperlich ist, was Religion und Glaube betrifft.


Religiöse Überzeugungen bedürfen rationaler Rechtfertigung

Bei der radikalen Kritik der "neuen Atheisten" handelt es sich jedoch nur um die Spitze des Eisberges. Dass Religion und Gewalt womöglich Geschwister sind, dass religiöse Überzeugungen per se schon den Keim der Gewalt in sich tragen, diese Überzeugung ist weit verbreitet, auch wenn nicht jeder, der diese Überzeugung teilt, schon den Satz unterschreiben würde, dass jeder Gläubige ein potenzieller Gewalttäter ist.

Für liberale Gläubige, aber auch für liberale Nichtgläubige, denen die verallgemeinernde Verdächtigung von Gläubigen ebenso ein Dorn im Auge ist wie die ideologisch motivierte Verurteilung von Nichtgläubigen, bedeutet es eine große Herausforderung, dass Religionen auf diese Art und Weise unter Generalverdacht gestellt werden - von der vergleichsweise harmlosen Variante, die nach der Gewaltförmigkeit religiöser Überzeugungen fragt, bis hin zur radikalen Position der Absage an die Religionsfreiheit im Namen der Freiheit.

Man kann diesen Positionen mit Empörung begegnen und den Totalitarismusvorwurf mittels eines "Du auch"-Argumentes an die kämpferischen Religionsbestreiter zu retournieren versuchen. Oder man kann auf das Paradox hinweisen, Freiheit im Namen der Freiheit beschneiden zu wollen. Doch mit Empörung oder Hinweisen darauf, dass man sich im Erheben von Totalitarismusvorwürfen schlichtweg totalitär verhalte, kann dem Vorwurf, dass Religionen schon immer den Keim der Gewalt in sich tragen, nicht begegnet werden. Dazu bedarf es des Nachdenkens darüber, was religiöse Überzeugungen sind, wieso diejenigen, die religiöse Überzeugungen besitzen, für diese Überzeugungen zu Recht einen Anspruch auf universale Geltung dieser Überzeugungen erheben, und welche Bedeutung solche universalen Geltungsansprüche in pluralistischen Gesellschaften haben.

Religiöse Überzeugungen beziehen sich auf die Inhalte religiöser Traditionen und sind somit Teil von Religionen beziehungsweise religiöser Systeme. So sind zum Beispiel im christlichen Glaubensbekenntnis die zentralen religiösen Überzeugungen zusammengefasst, die den christlichen Glauben bestimmen und ihn dabei zugleich von anderen religiösen Traditionen mit ihren jeweiligen Überzeugungen unterscheiden. Hinsichtlich dieser Überzeugungen erheben diejenigen, die sich zu einer bestimmten Religion bekennen, einen universalen Geltungsanspruch, weil sie sich auf "letzte Gedanken" beziehen, das heißt auf Gedanken, die die Lebensführung und Lebensdeutung des Menschen als Ganze betreffen, und zwar die Lebensführung und Lebensdeutung aller Menschen unabhängig davon, wo, wann, wie sie leben.

Religiöse Überzeugungen bedürfen, gerade weil sie einen universalen Geltungsanspruch erheben, einer rationalen Rechtfertigung, andernfalls droht die Inanspruchnahme der Gültigkeit religiöser Überzeugungen allein durch Bezug auf die Autorität einer religiösen Tradition, der die jeweiligen Überzeugungen zugehören, oder durch Verweis auf die Autorität derjenigen, die diese Tradition weitergeben, hüten und bewahren. Traditions- und Autoritätsargumente sind jedoch stets die schwächsten Argumente, wenn es um die Rechtfertigung von Geltungsansprüchen geht. Deshalb sind diejenigen, die religiöse Überzeugungen vertreten und damit zugleich einen Anspruch auf universale Gültigkeit des Gehalts erheben, durch den sich die Überzeugung bestimmt, dazu gezwungen, gute Gründe zu liefern, die die Zustimmung zu dieser Überzeugung und den mit ihr verknüpften Geltungsanspruch rechtfertigen können.

Wer religiöse Überzeugungen vertritt, formuliert außerdem nicht allein eine emotionale Befindlichkeit, sondern ein Bekenntnis, von dessen Realität, von dessen Wirklichkeitsbezug er oder sie überzeugt ist: So sind beispielsweise Anhängerinnen und Anhänger monotheistischer Religionen von der Existenz Gottes überzeugt, und Christinnen und Christen vom realen Geschehen der Selbstoffenbarung Gottes in einer konkreten historischen Person mit dem Namen Jesus von Nazareth. Oder anders formuliert: Gläubige verpflichten sich in ihrer Zustimmung zu konkreten Glaubensüberzeugungen auf die Existenz dessen, was sie glauben.

Religion tritt allerdings niemals im Singular auf; es gibt nicht "Religion an sich" beziehungsweise eine universale Religion, sondern es gibt Religion nur in der Vielfalt verschiedener Religionen mit ihren jeweiligen Inhalten beziehungsweise Überlieferungen und dementsprechenden religiösen Überzeugungen. Wenn nun jedoch religiöse Überzeugungen sich auf die Inhalte der Religion beziehen, deren Teil sie sind, und wenn Religion faktisch jedoch immer schon im Plural auftritt, also in der Vielfalt und Differenz konkreter gelebter Religionen, dann existieren ebenso viele unterschiedliche religiöse Überzeugungen wie Religionen.


Religiöse Überzeugungen als Form von Glauben

Wenn mit dem Bekenntnis zu religiösen Überzeugungen das Erheben universaler Geltungsansprüche verbunden ist, dann existieren in der Pluralität religiöser Überzeugungen ebenso viele Ansprüche auf universale Gültigkeit dieser Überzeugungen, die in ihrem pluralen Auftreten miteinander konkurrieren. Denn gerade weil sie mit universalen Geltungsansprüchen verknüpft sind, können religiöse Überzeugungen für diejenigen, die sie vertreten, nicht gleich gültig sein. Wer eine religiöse Überzeugung erhebt und zugleich behauptet, dass sie gleich gültig ist wie eine andere religiöse Überzeugung - eine Überzeugung, die womöglich der eigenen widerspricht - verstrickt sich in einen Selbstwiderspruch hinsichtlich der eigenen Überzeugung.

Deshalb aber treten die jeweiligen Geltungsansprüche ebenso wie die Inhalte, die mit ihnen verknüpft sind, in Widerstreit zueinander beziehungsweise in Konkurrenz miteinander. Die Anhängerinnen und Anhänger konkreter Religionen streiten um die Gültigkeit der Überzeugungen der jeweiligen Religionen, die sie bestimmen und darin auch voneinander unterscheiden, und sie können auch gar nicht anders als darum streiten, wenn sie ihre jeweiligen Überzeugungen, wenn sie ihr jeweiliges Bekenntnis wirklich ernst nehmen.

Impliziert dieses Ringen um die Gültigkeit der je eigenen Position schon die Tendenz, die jeweils andere Position als "unwahr" und dann auch als "unrechtmäßig" zu diskreditieren? Führt der Streit um den "rechten Glauben" mit Notwendigkeit zur Unterscheidung von Freund und Feind, von Rechtgläubigem und Andersgläubigem, ja von Gläubigem und Ungläubigem und dann in letzter Konsequenz zur Anwendung von Gewalt zur "Rettung der Seelen"? Dieser Kurzschluss lässt sich vermeiden, wenn man zum einen die Erkenntnisform analysiert, die religiösen Überzeugungen zugrunde liegt, unabhängig von den einzelnen Glaubensinhalten. Zum anderen ist zu überlegen, dass und wie universale Geltungsansprüche gewaltfrei in pluralistischen Gesellschaften erhoben werden können.

Häufig wird davon ausgegangen, dass religiöse Überzeugungen sich auf Sachverhalte beziehen, die "gewusst" werden können, und dementsprechend werden diese Überzeugungen als wahr beziehungsweise falsch beurteilt. Doch dieses Verständnis religiöser Überzeugungen als Form von "Wissen" ist problematisch, bedeutete dies doch einen Rückfall hinter die Metaphysikkritik Immanuel Kants in der "Kritik der reinen Vernunft": Die Inhalte, auf die sich religiöse Überzeugungen beziehen, können nicht gewusst werden; sie sind kein Teil theoretischer Vernunft, denn sie sind keine Gegenstände möglicher Erfahrung, auf die sich Wissen bezieht. Somit sind sie in theoretischer Hinsicht weder wahr noch falsch. Gleichwohl sind sie nicht irrational oder Resultat bloßen Meinens oder gar Wünschens, ebenso wenig ausschließlich Ausdruck eines subjektiven Gefühls, denn sie lassen sich der Erkenntnisform "glauben" zuordnen.

Im alltäglichen Sprachgebrauch drückt "glauben" eine geringere Gewissheit aus als "wissen" und steht in großer Nähe zu "meinen". Doch von diesem schwachen Verständnis von "glauben" lässt sich ein starker Glaubensbegriff unterscheiden im Sinne von "fest überzeugt sein, dass", "sich sicher sein, dass". Wenn es sich aber bei "glauben" um ein Überzeugtsein handelt, dann ist zu betonen, dass Überzeugtsein kein momentaner Akt ist, sondern eine grundsätzliche Disposition, also von Dauer.

Dieses Überzeugtsein, welches sich von Wissen unterscheidet, ist durch die Haltung des Vertrauens bestimmt: Glauben ist als ein Akt des Vertrauens und der Anerkennung, als ein ursprüngliches Verstehen im Sinne eines Ur-Vertrauens beziehungsweise Grundvertrauens zu bezeichnen, welches noch dem Überzeugtsein von konkreten Sachverhalten vorausgeht. Denn dieses "von etwas überzeugt sein" basiert auf dem Grundvertrauen, dass Überzeugungen nicht per se illusionär sind, basiert also auf dem Vertrauen, dass es nicht sinnlos und unvernünftig ist, von etwas überzeugt zu sein.

Dementsprechend bedeutet "glauben" nicht allein einen Glauben im Sinne eines Glaubens von bestimmten Sachverhalten, sondern einen Glauben im Sinne eines Aktes des Vertrauens und des Verlassens auf etwas beziehungsweise überhaupt eines Aktes des Vertrauens, der sich mit dem Glauben an Sachverhalte verbinden kann. Dieses Glaubensverständnis wiederum verbindet sich mit einer Haltung des Sichbindens, des Sichfestmachens an etwas oder jemandem - ein Haltung, die traditionell mit "religio" bezeichnet wird.


Glauben als Vertrauen ist weder irrationale Entscheidung noch blinde Überzeugung

"Glauben" als Haltung des Vertrauens gründet also "glauben" im Sinne eines Überzeugtseins von etwas, folglich auch konkrete religiöse Überzeugungen. Wer eine religiöse Überzeugung besitzt und vertritt, vertraut somit auf etwas, bindet sich an etwas, was nicht gewusst, aber eben geglaubt werden kann. Glauben als Vertrauen jedoch ist weder als irrationale oder willkürliche Entscheidung, als bloßer Sprung über den Abgrund der Vernunft beziehungsweise als Aufopferung des Verstandes, noch als blinde, unkritische Überzeugung zu verstehen. Denn zum einen ist "glauben" eine Form von Erkenntnis, somit Teil, nicht Gegenstück der Vernunft. Zum anderen handelt es sich bei Glaubensüberzeugungen um Überzeugungen, die wie alle Überzeugungen auf Rechtfertigung hin angelegt sind, auch wenn sie im Unterschied zu Wissensüberzeugungen niemals bewiesen werden können: Jedes demonstrierende Verfahren, jede Form von "Beweiswissen", scheidet aus. Wohl aber müssen auch religiöse Überzeugungen rational gerechtfertigt und plausibel sein, andernfalls wären sie willkürlich und beliebig.

Doch diese rationale Rechtfertigung folgt der Erkenntnisform "glauben", der Vorgabe Kants entsprechend: "Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen." Folgt man der Kantischen Perspektive weiter, dann wird man religiöse Überzeugungen dem von Kant so bezeichneten "praktischen Vernunftglauben" beziehungsweise "moralischen Glauben" zurechnen müssen und damit dem Feld der praktischen Vernunft. Dann aber steht die Lebensführung im Zentrum, das Handeln und damit der Aspekt der normativen Richtigkeit und der Wahrhaftigkeit, des im praktischen Sinne Richtigen und Falschen, Rechten und Unrechten, Guten und Schlechten.

Die Wahrheitsfrage religiöser Überzeugungen steht somit unter dem Vorzeichen der Praxis. Gemäß der Kantischen Vorgabe suchen religiöse Überzeugungen zudem Antworten auf die Frage "Was darf ich hoffen?" zu geben, nicht aber Antworten auf die Frage "Was kann ich wissen?", auch nicht in erster Linie auf die Frage "Was soll ich tun?", wenn sich auch die Frage nach dem, was wir erhoffen dürfen, auf die Frage nach dem, was wir tun oder unterlassen sollen, anschließt. In diesem Zusammenhang wird die Interpretation von "glauben" als Vertrauen durch den Aspekt des Hoffens erweitert, doch diese Hoffnung unterscheidet sich von bloß irrationalem Wünschen, denn sie basiert auf rational gerechtfertigten Gründen praktischer Vernunft.


Keine zwingende Gewissheit der Glaubensinhalte, von deren Gültigkeit man überzeugt ist

Diese Bestimmung religiöser Überzeugungen sowie ihrer Rechtfertigung als Form von "glauben", ihre Zuordnung zum Bereich der praktischen Vernunft sowie die damit verbundene Verknüpfung von religiösen Überzeugungen mit einer Haltung der Hoffnung kann nun verdeutlichen, weshalb das Vertreten religiöser Überzeugungen nicht notwendigerweise gewaltförmig ist. Denn handelt es sich bei religiösen Überzeugungen nicht um "wissen", dann kommt ihnen auch nicht die Sicherheit und Gewissheit zu, die mit Wissen verbunden ist, und darum können sie auch auf vielfache, auch einander widersprechende Weise, material bestimmt werden.

Wer nicht "weiß", sondern "glaubt" verfügt somit nicht über zwingende Gewissheit hinsichtlich der Glaubensinhalte, von deren Gültigkeit er gleichwohl überzeugt ist. Allein derjenige sitzt somit auf der Rutschbahn in den Fundamentalismus, der "glauben" mit "wissen" verwechselt und dabei seine eigenen religiösen Überzeugungen mit überzogenen Erkenntnisansprüchen verknüpft. Diese "metaphysische Erschleichung" (Kant) angeblicher Gewissheiten verführt zum Einnehmen absoluter Positionen und dementsprechend auch zur Unterscheidung von "wahren" und "falschen" Religionen. Von dort aus ist es dann kein weiter Weg mehr zur Unterscheidung von Freund (dem der eigenen Religion Zugehörigen) und Feind (den Anhängern der "falschen" Religion) und dann auch zu entsprechenden gewalttätigen Praxen.


Universale Geltungsansprüche religiöser Überzeugungen in der Pluralität der Religionen

Fundamentalistisch ist jedoch nicht allein das Erheben überzogener Erkenntnisansprüche in Glaubensfragen, sondern auch die Verweigerung, die je eigenen Überzeugungen überhaupt rational zu rechtfertigen. Der Anspruch auf absolute Gewissheit paart sich dann paradoxerweise mit der Weigerung, für das Erheben dieses Anspruches Gründe zu nennen beziehungsweise die eigene religiöse Überzeugung argumentativ zu rechtfertigen. In den Fundamentalismus rutscht der Gläubige somit auf zwei Wegen: zum einen auf dem Weg der Überstrapazierung des Wissens, zum anderen auf dem Weg der Unterstrapazierung der Rechtfertigungskraft der Vernunft überhaupt.

Folgen religiöse Überzeugungen der Erkenntnisform "glauben", so heißt das keineswegs, dass sie nicht mit universalen Geltungsansprüchen verbunden sind. Auch Glaubensüberzeugungen können Anspruch auf universale Gültigkeit haben, weil es sich nicht um Überzeugungen handelt, die auf einem bloßen subjektiven Meinen, purer Überredung oder Konvention beruhen. Religiöse Überzeugungen treten jedoch wie bereits ausgeführt im Plural auf, der Pluralität der Religionen entsprechend. Damit konkurrieren verschiedene Geltungsansprüche miteinander.

Diese Konkurrenz führt dann nicht zu Gewalt, wenn diejenigen, die die Ansprüche erheben, sich darüber bewusst sind, dass ihre Überzeugungen nicht auf "wissen", sondern auf "glauben" basieren. Denn dann gelingt es, der jeweils anderen Position zuzusprechen, dass sie ihre Überzeugungen ebenso auf der Basis von "glauben" einnimmt. Zugleich anerkennen die, die um den Unterschied von Wissen und Glauben hinsichtlich religiöser Überzeugungen wissen, dass jede und jeder, der religiöse Überzeugungen vertritt, dies zwangsläufig mit dem Anspruch auf universale Gültigkeit tut, eben weil es sich um religiöse Überzeugungen handelt. Ihren Geltungsanspruch anzuerkennen bedeutet aber nicht zwangsläufig, die Überzeugungen selbst anzuerkennen. Genau hier entspringt denn auch der produktive Wettstreit verschiedener religiöser Überzeugungen.

Sind alle Religionen gleich hinsichtlich ihres auf der Erkenntnisform "glauben" basierenden Erkenntnisanspruches und hinsichtlich der Legitimität ihres Anspruches auf universale Gültigkeit, so sind sie doch aus der Perspektive einer bestimmten Religion gesehen nicht gleich gültig, was ihre jeweiligen materialen Gehalte betrifft. Das setzt jedoch die Anerkenntnis des Gegenübers als gleichen Partner voraus, mit dem auf Augenhöhe um den "rechten Glauben" gestritten werden kann. Dieser Streit schließt übrigens durchaus die Möglichkeit ein, dass die Streitenden voneinander lernen, gegebenenfalls auch eigene Positionen beziehungsweise Überzeugungen revidieren oder andere Positionen übernehmen, wenn sie mit der eigenen Überzeugung vermittelt werden können.

Das hat Folgen für den vielbeschworenen Dialog der Religionen: Ein wirklicher, fundierter Dialog zwischen den Religionen findet nämlich dann statt, wenn man einerseits die Würde einer jeden Religion als Ausdruck von "glauben" anerkennt, was einen fundamentalistischen Exklusivismus ausschließt, und wenn man andererseits zugleich die Differenz und Konkurrenz der Religionen untereinander anerkennt, die aufgrund ihrer universalen Geltungsansprüche gegeben ist. Das schließt aber auch einen religiösen Pluralismus aus, der in Beliebigkeit abzugleiten droht, weil er im Plädoyer für die Gleichgültigkeit aller religiösen Überzeugungen die Differenz der Inhalte der Religionen nicht wirklich ernst nimmt, aber die grundsätzliche Pluralität der Religionen anerkennt.

Dieser Dialog ist als Diskurs, somit als rationale Rechtfertigung miteinander konkurrierender religiöser Überzeugungen zu führen. Im Diskurs aber entscheidet die Macht des besseren beziehungsweise stärkeren Argumentes, nicht die Macht des Stärkeren. Dazu bedarf es allerdings der Anerkennung eines Prinzips, das genau dort zum Tragen kommt, wo es um den Streit um Überzeugungen mit universalen Geltungsansprüchen geht, die das Feld "glauben" betreffen: das Prinzip der Toleranz. Wer sich anderen Überzeugungen gegenüber tolerant verhält, teilt diese Überzeugungen nicht, erkennt aber die Legitimität an, diese Überzeugungen zu vertreten und sie mit Geltungsansprüchen zu versehen.

Das Toleranzprinzip gehorcht so dem Verhältnis der wechselseitigen Anerkennung der jeweiligen Geltungsansprüche von Überzeugungen und derjenigen, die sie erheben, und dabei kommt auch das Prinzip formaler Gleichheit nicht nur unterschiedlicher religiöser Überzeugungen zum Tragen, sondern auch derjenigen, die diese Überzeugungen vertreten. Beide, das Toleranz- wie das Gleichheitsprinzip, gehören zu den Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates. Toleranz ist allen gegenüber geboten, die ihre Überzeugungen unter Anerkennung der Würde auch der Andersdenkenden und damit gewaltfrei vertreten und bezeugen - nichts anderes besagt übrigens das Recht auf Religionsfreiheit.

Wer dagegen seine religiösen Überzeugungen mit Gewalt durchzusetzen beabsichtigt, missachtet die Würde der Andersgläubigen beziehungsweise Nichtgläubigen, missachtet deren Recht, ihre je eigenen Überzeugungen öffentlich zu vertreten. Dann aber erweist sich nicht der religiöse Gehalt der Überzeugungen als Problem, sondern die Haltung derjenigen, die sie vertreten, genauer gesagt deren Verwechslung von Glauben und Wissen einerseits wie auch deren Unfähigkeit, die prinzipielle formale Gleichheit unterschiedlicher Überzeugungen und die mit ihnen verbundenen Geltungsansprüche anzuerkennen sowie die unantastbare Würde derjenigen, die Überzeugungen besitzen.

Nicht Religion an sich ist dann aber das Problem, sondern die Unfähigkeit, das Einnehmen einer religiösen Haltung mit der Anerkenntnis der Grundprinzipien der Moderne und damit auch des modernen demokratischen Rechtstaates zu verknüpfen - gemeinhin bezeichnet man diese Position als fundamentalistisch. Dieses Problem besitzen alle Anhängerinnen und Anhänger totalitärer Ideologien, nicht allein religiöse Fundamentalisten.

An diesem Punkt greift dann doch wieder das "Du auch"-Argument gegen die selbsternannten "neuen Atheisten", weil diese in ihrem Generalverdacht gegen die Religionen auf genau die fundamentalistische Rutschbahn geraten, auf der sie alle Gläubigen platzieren, und dies schlicht und ergreifend deshalb, weil sie im Namen der Moderne gegen deren Grundprinzipien verstoßen, gegen die Anerkennung der Subjektivität und Freiheit jeder einzelnen Person, gegen die Anerkennung des Toleranzprinzips, gegen die Anerkennung des Prinzips formaler Gleichheit auch von Überzeugungen, die dem ein oder anderen als nicht tragfähig erscheinen mögen. Sie erweisen sich somit quasi als fundamentalistische Nichtgläubige, die jedoch allein die Gläubigen - und diese ausnahmslos - des Fundamentalismus zeihen. Aber da gilt dann doch das alte Sprichwort: "Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen."


*


Die in Münster promovierte und habilitierte Theologin und Philosophin Saskia Wendel (geb. 1964) ist seit Oktober 2007 Fellow des Max-Weber-Kollegs der Universität Erfurt; von 2003 bis 2006 Professorin für Systematische Philosophie mit Schwerpunkt Metaphysik und Religionsphilosophie an der Theologischen Fakultät und an der Philosophischen Fakultät der Universität Tilburg/Niederlande; von 2005 bis 2006 zusätzliche Berufung als Professorin für Fundamentaltheologie.


*


Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
62. Jahrgang, Heft 7, Juli 2008, S. 359-364
Anschrift der Redaktion:
Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg i.Br.
Telefon: 0761/27 17-388
Telefax: 0761/27 17-488
E-Mail: herderkorrespondenz@herder.de
www.herder-korrespondenz.de

Die "Herder Korrespondenz" erscheint monatlich.
Heftpreis im Abonnement 10,40 Euro.
Das Einzelheft kostet 12,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. August 2008