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STANDPUNKT/352: Migration - Kirchen als Brücken über Angst und Vorurteil (ÖRK)


Ökumenischer Rat der Kirchen - Feature vom 8. Juli 2010

Migration: Kirchen als Brücken über Angst und Vorurteil

Von Annegret Kapp


In Zeiten explodierender Haushaltsdefizite und Arbeitslosenzahlen werden Migranten oft zu Sündenböcken für alle gesellschaftlichen Probleme gemacht. In dieser Situation ist es Aufgabe der Kirche, für die Menschenrechte und Würde aller Menschen einzutreten - erklärten die Mitglieder des Globalen ökumenischen Netzwerks für Migrationsfragen des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) anlässlich ihrer Jahrestagung.

"Wir glauben, dass die Kirchen den Auftrag und die biblische Sendung haben, den Aufbau einer Gesellschaft zu fördern, in der sich alle Völker der Welt in einem Geist der Liebe, der Gerechtigkeit und der Gleichberechtigung der Gaben erfreuen, die Gott allen Menschen geschenkt hat", erklärte Seta Hadeshian vor den anderen Mitgliedern des globalen Netzwerks, das vom 24. bis 30. Juni in Genf, Schweiz, tagte. Hadeshian ist Direktorin der Abteilung für Diakonie und soziale Gerechtigkeit des Rates der Kirchen im Mittleren Osten.

Die Mitglieder des Globalen ökumenischen Netzwerks für Migrationsfragen (GEM) kommen aus Kirchen, kirchlichen Organisationen und ökumenischen Gremien, die sich mit Migrationsfragen befassen. Das Netz hat sich zur Aufgabe gemacht, das Verständnis globaler Migrationsfragen zu vertiefen, Prioritäten zu setzen, Fürsprachepotenzial zu bündeln und einen nachhaltigeren Einfluss auf internationale politische Debatten zu nehmen.

Eines der Hindernisse für die Verwirklichung der kirchlichen Vision besteht mit den Worten von Franca Di Lecce, Leiterin des Flüchtlings- und Migrationsdienstes des Bundes evangelischer Kirchen in Italien, darin, dass "die heutigen Gesellschaften von Angst beherrscht sind".

Ausgehend von den Erfahrungen in Italien erklärte Di Lecce, die Kirche müsse auf die Logik aufmerksam machen, die sich hinter der Migrationspolitik verberge. Es handele sich um "eine Logik des Krieges", die dazu diene, "die Unfähigkeit der Regierung" zu kaschieren, "für Sicherheit, Arbeit, Gerechtigkeit, Frieden und Entwicklung" zu sorgen.

In Di Lecces Augen besteht die Förderung von Sicherheit darin, "Legalität zu fördern, organisiertes Verbrechen und Korruption zu bestrafen und Arbeitslosigkeit und Armut durch Maßnahmen sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Integration aller Bürger, Migranten und Einheimische, zu bekämpfen." Stattdessen werde Sicherheit oftmals als ein Slogan eingesetzt, um Migranten zu stigmatisieren.


Die Flüchtlingskrisen in Europa sind künstliche Krisen

"Flüchtlingskrise" ist eines der Schlagwörter, die Migrationsfachleute irritieren. "In den letzten zehn Jahren, ist die Zahl der Asylbewerbungen innerhalb der Europäischen Union Jahr für Jahr und bis zum vergangenen Jahr zurückgegangen", erklärte Doris Peschke, Generalsekretärin der Kommission der Kirchen für Migranten in Europa.

2008 habe die Anzahl der Bewerbungen "10 Prozent des Niveaus von vor 20 Jahren" entsprochen, fügte sie hinzu. Während die Zahl der Asylsuchenden in einigen Ländern, die der EU in jüngerer Zeit beigetreten sind, zunehme, verringerten sich die Zahlen sogar in Ländern wie Spanien, Portugal, Italien und Griechenland.

Deshalb "lassen sich die Internierungsbedingungen in Griechenland und die Abschiebung von italienischen Küsten [nicht] mit Zahlen rechtfertigen", erklärte Peschke.

Es gebe allerdings "künstliche Krisen", wie die auf Lampedusa. Das dortige Aufnahmezentrum sei nach einem Beschluss der italienischen Regierung, die Flüchtlinge nicht mehr aufs Festland zu transferieren, hoffnungslos überbelegt. "Wenn sie die Flüchtlinge weiterhin aufs Festland gebracht hätten, wäre in dem Lager niemals eine Krise entstanden", so Peschke.

Die Tatsache, dass in mehreren Ländern undokumentierte Migranten unter Bedingungen interniert seien, die "schlimmer sein können, als die, unter denen Strafgefangene leben", stelle den Rechtsstaat in Frage. Gleichzeitig führe dies dazu, dass Migranten zunehmend als Kriminelle wahrgenommen werden. Die weit verbreitete Meinung sei: "Wenn man sie in Internierungslager steckt, dann muss das auch einen Grund haben."

Auf der anderen Seite misstrauten undokumentierte Migranten den Behörden des Aufnahmelandes und fürchteten sie. Dies behindere ihren Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen, selbst dort, wo der Staat dies vorsehe.


Eine Brücke zwischen den Gemeinschaften

In einer Situation, in der Vorurteile und Ängste Einheimische und Migranten voneinander abgrenzen, "muss die Kirche als Brücke dienen, die die beiden Gemeinschaften zusammenführt", meint Apostel Adejare Oyewole vom Rat afrikanischer und karibischer Kirchen in Großbritannien.

Um den Kirchen bei dieser Aufgabe zu helfen, lädt die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) ihre Mitglieder dazu ein, die Ferienzeit zu nutzen, um mit Sommerlagern und Festen vermehrt Begegnungsmöglichkeiten für Migranten und Einheimische zu schaffen.

Diese Einladung zum Aufeinanderzugehen ist Teil der KEK-Kampagne Migration 2010 [1]. Das ganze Jahr hindurch werden die europäischen Kirchen jeden Monat migrationsbezogene Themen aufgreifen.

In dem Zeitraum, in dem die Kirchen den Schöpfungstag feiern (1. September bis 4. Oktober), wird der Schwerpunkt auf Vertreibung durch Umweltzerstörung liegen. Heutige Formen der Sklaverei werden anlässlich des Europäischen Tages gegen den Menschenhandel am 18. Oktober herausgestellt. Und im Zusammenhang mit dem Internationalen Tag der Migranten am 18. Dezember sind Aktionen zur Förderung der Migrantenrechte geplant.

Di Lecca zufolge ist es auch für die Gesamtgesellschaft wichtig, dass die Kirchen protestieren, wenn Hartherzigkeit gegen Fremde "normal" wird. Sie berichtete den Netzwerkmitgliedern von einem Seemann, der an der Abschiebung von Migranten nach Lybien beteiligt war und sich zu sehr schämte, um seinem Sohn davon zu erzählen.

Danach schilderte sie den Fall eines Vaters und seines Sohnes, die in Mailand gemeinsam einen Italiener afrikanischer Herkunft getötet hatten, weil sie ihn verdächtigten, Kekse gestohlen zu haben. "In was für einer Gesellschaft leben wir denn?", fragte Di Lecce und rief zur Buße auf.

Dr. Amélé Ekué, die am Ökumenischen Institut in Bossey lehrt, brachte ihre Kenntnisse als Professorin für ökumenische Sozialethik ein und lud ihre Zuhörerschaft ein, Verletzlichkeit als eine gemeinsame Eigenschaft aller Menschen zu entdecken. Migranten wie Nicht-Migranten teilten diese - und selbst Jesus Christus.

Für Ekué ist die Kreuzigung ein "Akt der Versöhnung", in dem "wir Gottes eigener Verletzlichkeit ausgesetzt sind, was impliziert, dass Opfer unmenschlicher Behandlung mit der Auferstehung wieder aufgerichtet werden".

In einer theologischen Reflexion am Ende der Tagung sagte Bischof Francis S. Nabieu von der Gesamtafrikanischen Kirchenkonferenz, dass Kirchen Migranten nicht nur als Last ansehen sollten: "Wir alle haben Gaben, die wir zum gemeinsamen Tisch bringen können. Einwanderer und Flüchtlinge bringen einen langen Atem mit."


Annegret Kapp, Webredakteurin im ÖRK, ist Mitglied der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Genf.

[1] http://www.oikoumene.org/index.php?RDCT=e0cfed2dc95f9d25eadc


Mehr Informationen über Migration 2010 (pdf):
http://www.oikoumene.org/index.php?RDCT=a0a82da477b633c1c099

Globales ökumenisches Netzwerk für Migrationsfragen:
http://www.oikoumene.org/index.php?RDCT=8ca64881add76d45da58

Tonaufnahmen theologischer Reflexionen und Beiträge über regionale Erfahrungen in verschiedenen Teilen der Welt, die auf der Tagung vorgelegt wurden (auf Englisch).
http://www.oikoumene.org/index.php?RDCT=5161144e68b6820ca74d

Die Meinungen, die in ÖRK-Features zum Ausdruck kommen, spiegeln nicht notwendigerweise die Position des ÖRK wider. Dieses Material darf unter Angabe der Autorin nachgedruckt werden.


Der Ökumenische Rat der Kirchen fördert die Einheit der Christen im Glauben, Zeugnis und Dienst für eine gerechte und friedliche Welt. 1948 als ökumenische Gemeinschaft von Kirchen gegründet, gehören dem ÖRK heute mehr als 349 protestantische, orthodoxe, anglikanische und andere Kirchen an, die zusammen über 560 Millionen Christen in mehr als 110 Ländern repräsentieren. Es gibt eine enge Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche. Der Generalsekretär des ÖRK ist Pfarrer Dr. Olav Fykse Tveit, von der (lutherischen) Kirche von Norwegen. Hauptsitz: Genf, Schweiz.


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Quelle:
Pressemitteilung vom 8. Juli 2010
Herausgeber: Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK)
150 rte de Ferney, Postfach 2100, 1211 Genf 2, Schweiz
E-Mail: ka@wcc-coe.org
Internet: www.wcc-coe.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juli 2010