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FRAGEN/003: Friedrich Wilhelm Graf zu Multireligiosität, Kirchenkritik, Orientierungsbedürfnis ... (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2014

Multireligiosität, Kirchenkritik, Orientierungsbedürfnis und Radikalisierung

Welche Rolle spielen Religion und Kirchen in der heutigen Gesellschaft?

Gespräch mit Friedrich Wilhelm Graf von Thomas Meyer



Die Einheit von Glaube und Kirchenzugehörigkeit löst sich zunehmend auf. Unsere multireligiöse Gesellschaft bietet vielfältigste Orientierungsangebote. Radikalisierte Glaubensbewegungen, nicht nur innerhalb des Islam, haben Zulauf. Auch die Frage nach staatlicher Gleichstellung der Religionsgemeinschaften ist virulent. Das religiöse Feld befindet sich also zweifellos im Umbruch. Der protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf, u.a. Autor des Buches »Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird«, ordnet im Gespräch mit Thomas Meyer die aktuellen Entwicklungen der Religion und erklärt, wo Politik und Kirchen gestalten sollten.


NG/FH: Wie würden Sie die Situation der Religion heute, vor allem ihr Verhältnis zur Politik charakterisieren? Was ist das im globalen Maßstab Auffällige der letzten 20 Jahre?

Friedrich Wilhelm Graf: Wir erleben Radikalisierungsprozesse und zwar nicht etwa nur im Islam, sondern auch in anderen Religionskulturen. Etwas flapsig formuliert: Die Anbieter harter Religionsprodukte haben im Moment besonders gute Absatzchancen. Das ist nicht so leicht zu erklären. Sicherlich hat es mit veränderten religiösen Kommunikationsbedingungen zu tun, Stichwort Internet. Und in einer Welt, die sich durch den globalen Kapitalismus, durch neue Informationstechnologien und die Individualisierung von Lebensstilen dramatisch wandelt, sind Sinnanbieter«, die harte, klare Identitäten entwerfen, besonders attraktiv. Wenn alles so relativ oder beliebig erscheint, ist die Flucht in ein festes, Orientierung bietendes Gehäuse für viele offenkundig attraktiv.

NG/FH: Gilt das mehr oder weniger für alle Teile der Welt oder nur für bestimmte Regionen?

Graf: Die meisten Religionsanalytiker sind sich inzwischen einig, dass Europa ein besonderer Fall ist. In anderen Teilen der Welt treffen radikalisierte Angebote auf vielfältige Nachfrage. Das zeigt sich etwa auf dem Religionsmarkt der USA, wo die protestantischen Mainline Churches erodieren und die eher konservativen, traditionalistischen, fundamentalistischen Strömungen Zulauf haben. Es zeigt sich in Lateinamerika, es zeigt sich im südlichen, also Subsahara-Afrika und auf dem indischen Subkontinent.

NG/FH: Die klassische Säkularisierungsthese, nach der Modernisierung Säkularisierung bedeutet, ist etwas unklar. Meint man die Trennung von Religion und Staat, die Rolle von Religion im gesellschaftlichen Leben oder die Glaubensüberzeugungen der einzelnen Menschen?

Graf: Wenn man unter Säkularisierungsthese versteht, dass es einen notwendigen inneren Zusammenhang von mehr Moderne und weniger Religion gibt, ist die Säkularisierungsthese falsch. Man kann sie anders formulieren: Offenkundig können wir säkulare Institutionen entwerfen, uns sozusagen im Bereich von Technologien usw. höchst rational verhalten und zugleich zutiefst irrationale Wesen sein. Man benötigt einen differenzierteren Begriff von Vernunft und Moderne, um die bleibende Bedeutung von Religion für viele Menschen wahrnehmen zu können.

NG/FH: Es gibt sehr interessante Theorien über die Lebenswirklichkeit der Menschen und ihr Verhältnis zur Religion, etwa die weltweite Vergleichsstudie der amerikanischen Politikwissenschaftler Ronald Inglehart und Pippa Norris (Sacred and Secular. Religion and Politics Worldwide). Die Grundthese lautet: Wo die Unsicherheit der Menschen groß ist, sind die Religionen stark.

Graf: Diese Studie hat mich nicht wirklich überzeugt. Das ist zwar eine spannende These, aber wenn Sie genauer hinschauen, gibt es etwa in Europa sozialstaatlich organisierte Gesellschaften mit einer hohen Religionsproduktivität. Da passt dieses Modell überhaupt nicht. Denken Sie auch an Polen oder an Großbritannien, wo es sehr viele starke, nicht-christliche Akteure gibt, obwohl keiner von uns bestreiten würde, dass der britische Sozial- oder Wohlfahrtsstaat auch einiges an sozialer Sicherheit produziert. Insofern mache ich bei dieser These einige Fragezeichen.

Was wir derzeit erleben sind neue Legierungen von Religion und Nation. Worüber wir zu wenig nachgedacht haben, ist das Phänomen der Ethnoreligion, der religiösen Aufladung von Nationalismus. Das erleben wir in den verschiedenen Spielarten des orthodoxen Christentums. Man kann dies derzeit leider gut am Beispiel der Ukraine studieren. Dort gibt es die zwei großen, konkurrierenden orthodoxen Kirchen, die sich unterschiedlich positionieren. Andere Beispiele sind der Hindunationalismus oder bestimmte japanische religiöse Gruppen. Wenn religiöse Symbole mit nationalen Konstruktionen verschmolzen werden, hat das offenkundig eine hohe emotionale Bindungskraft. Das kann man gegenwärtig vielerorts beobachten.

NG/FH: Trotz der Modernisierungsprozesse überlebt Religion und gedeiht zum Teil, jedoch nicht unbedingt als sich liberalisierende, zivilisierende Religion, sondern unter Umständen gerade als sozusagen retardierende, nationalistisch oder fundamentalistisch eingeengte.

Graf: Wir wissen ja nicht genau, wie sich die europäischen volkskirchlichen Christentümer zivilisiert haben. Wir nehmen es jetzt als Errungenschaft wahr, wissen aber, dass demokratische und liberale, freiheitliche Ordnungsmodelle bis in die 50er Jahre in beiden großen Kirchen in Deutschland stark umstritten waren. Jetzt haben wir einen politischen Diskurs, in dem oft gesagt wird: »Na ja, die Menschenwürde hat etwas mit der Ebenbildtradition zu tun« usw.Wenn Sie sich theologische Ethiken der 20er bis 50er Jahre anschauen, wird der Begriff Menschenrechte delegitimiert, von Menschenwürde wird sehr vorsichtig - oft eher als Personenwürde - gesprochen. Ich bin davon überzeugt, dass die Kirchen in der Bundesrepublik die politische Ordnung anerkannt haben, weil sie ihnen Vorteile gebracht hat, und sie gemerkt haben, dass sie über ihre Sozialholdings Caritas und Diakonie Nutznießer der Sozialstaatskonstruktion sind und dieser Staat ihnen ausgesprochen freundlich entgegenkommt.

NG/FH: Besonders interessant fand ich auch die Passage in Ihrem neuen Buch (Götter global), in der Sie auf religiöse Symbole und Sprachen eingehen. Die religiösen Kodifizierungen sind in sich hochgradig ambivalent, offen und können auf sehr unterschiedliche Art und Weise aktualisiert und praktisch genutzt werden. Sie könnten sowohl für Verfeindungen als auch für die Stabilisierung einer Ethik oder der Demokratie genutzt werden. Das hängt von dem Kontext ab und von den Kräften, die sich ihrer sozusagen »bemächtigen«. Daraus würde ja auch etwas folgen hinsichtlich der Frage, wie die dominanten christlichen Religionen hier in Deutschland mit den anderen, die sich allmählich ausbreiten, umgehen sollen. Man würde doch wohl sagen, dass es keinen Rangunterschied gibt zwischen den Muslimen und den Christen, hinsichtlich ihrer Nähe zur Demokratie.

Graf: Die Mehrheit der Muslime im Lande hat die parlamentarische Demokratie als politische Ordnungsform akzeptiert. Wir reden über kleinere Gruppen, bei denen oft Konvertiten eine wichtige Rolle spielen. Das Problem, das wir haben, ist, dass die muslimischen Verbandsvertreter sich sehr schwer damit tun, in einer pluralistischen Demokratie unseres Typs wirklich medieneffizient aufzutreten. Bei den muslimischen Funktionären merkt man deutlich, dass sie noch nicht ausreichend sprachfähig sind. Das wird sich aber ändern, weil wir gerade erleben, dass es Ansätze zu einem intellektuellen Diskurs in Sachen Islam gibt und viele junge deutsche Muslime - Frauen vor allem - sehr erfolgreich studieren und akademische Institutionen besetzen, was ich sehr gut finde.

»Oft ist Religion das Einzige, was in einer Welt des permanenten Wandels Vertrauen, Verlässlichkeit, Netzwerke der Solidarität stiftet.«

NG/FH: Sie sagen, dass man auch hier bei uns bald viel mehr starke, besondere, überaus heftig dosierte religiöse Angebote auf dem Religions-»Markt« finden wird. Ist zu erwarten, dass so etwas wie das Pfingstlertum demnächst hier in Deutschland eine große Rolle spielt?

Graf: Wir haben natürlich charismatische Gruppen im deutschen Protestantismus. Im freikirchlichen Protestantismus spielen diese Traditionen eine wichtige Rolle. Meine These ist, dass infolge von Migration die Bedeutung dieser außereuropäischen Formen des Christentums auch bei uns zunehmen wird. Es gibt in München und anderen deutschen Großstädten pfingstkirchliche Gottesdienste, die hauptsächlich von Lateinamerikanern gestaltet und besucht werden. Wir wissen nur so wenig darüber, weil wir zu wenig versuchen, religiöse Vielfalt in den Blick zu nehmen. Wo immer klassische Methoden der Religionsgeografie angewendet wurden, hat sich gezeigt, dass religiöse Vielfalt deutlich höher ist als erwartet und unsere Vorstellungen von religiös aktiven Menschen nicht stimmen. Für das Ruhrgebiet gibt es z.B. wunderbare Untersuchungen, die zeigen, dass die religiös aktivsten Menschen zugewanderte italienische Katholiken sind, nicht etwa Muslime.

NG/FH: Worin würden Sie als Theologe die Hauptursache dafür sehen, dass in manchen Situationen oder in manchen Ländern fundamentalistische Gruppierungen so stark werden und in anderen relativ schwach bleiben?

Graf: Es gibt die klassischen Fundamentalismusstudien, die in Chicago entstanden sind, etwa die Arbeiten von Martin E. Marty oder Martin Riesebrodt. Über Europa gibt es nur sehr wenige Fallstudien zu fundamentalistischen Akteuren. Viel wissen wir da nicht. Aber man muss zu erklären versuchen, warum Fundamentalismus attraktiv ist. Warum ist er für bestimmte Menschen ein so plausibles Angebot? Meine Antwort ist: Da wir in sehr unruhigen, erregten, sich dramatisch schnell verändernden Zeiten leben, ist die Hoffnung auf Sicherheit, die Produktion von Gewissheit für viele Menschen etwas Attraktives.

Wir haben eine politische Revolution in Europa erlebt, die unser aller Leben fundamental verändert hat. Wir haben die Rückkehr alter Konflikte erlebt, Stichwort Ukraine. Wir leben in einer Welt, in der Kommunikation sich grundlegend verändert hat, durch das Internet, durch Formen neuer, mobiler Kommunikation.Wir leben in einer Zeit des die ganze Welt ungeheuer schnell verändernden Kapitalismus. Das alles erzeugt Unsicherheiten und soziale Verwerfungen, wie wir sie bereits in manchen europäischen Regionen zu Beginn des 19. Jahrhunderts erlebt haben. Daraus resultieren ein brutaler Leistungsdruck und vielfältige neue soziale Konflikte. Oft ist Religion die Sprache der Artikulation sozialen Protestes. Und oft ist Religion das Einzige, was in einer Welt des permanenten Wandels Vertrauen, Verlässlichkeit, Netzwerke der Solidarität stiftet.

NG/FH: Könnte man nicht erwarten, dass diese Ursachen für die Attraktivität von Fundamentalismus reduziert werden oder entfallen, wenn sich die soziale Sicherheit verbessert und stabilere Gesellschaften entstehen? Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dieser allgemeinen Unsicherheit und der Modernisierung?

Graf: Ich bin davon überzeugt, dass, wenn man jungen Menschen in nordafrikanischen Gesellschaften Arbeit und damit verbundene Sinnperspektiven und Chancen böte, diese sehr viel weniger anfällig für religiöse Radikalismen wären. Ein Großteil der jungen Männer, über die wir im Zusammenhang mit den Konflikten in Syrien und im Irak reden, ist arbeitslos und hat keine Perspektive jenseits des Kampfes.

NG/FH: Welche öffentliche Rolle sollten Religionen in einer rechtsstaatlichen Demokratie spielen?

Graf: Konzentrieren wir uns auf die beiden großen Kirchen. Die deutsche Bevölkerung schreibt ihnen so etwas wie ein ethisches Mandat zu. In den umstrittenen Fragen von Sterbebegleitung oder Sterbehilfe, Forschung an humanembryonalen Stammzellen usw. erwarten die Deutschen, dass die Kirchen sich zu Wort melden. Sie schreiben ihnen für Fragen der Ethik eine Kompetenz zu. Ob die Kirchen das wirklich leisten können, ist eine andere Frage. Manche Stellungnahmen aus dem kirchlichen Raum zeigen wenig Bereitschaft zur Differenzierung.

Die zweite wichtige Funktion der christlichen Kirchen ist in meinen Augen, das Wissen präsent zu halten, dass es auch in einer so reichen Gesellschaft wie der deutschen Phänomene von sozialer Exklusion und Armut gibt, Themen wie Gerechtigkeit und Solidarität.

Und die dritte Funktion ist, dass sie sich daran beteiligen, der Ideologisierung des Politischen entgegenzuwirken. Die moderne parlamentarische Demokratie lebt von Kompromissen, pragmatischen Lösungen, der Bereitschaft, sich auch dann zu verständigen, wenn man aus ganz unterschiedlichen weltanschaulichen Lagern kommt. Religion kann helfen, im Medium religiöser Symbolsprache das Wissen um die Gefährlichkeit von politischen Ideologien wachzuhalten. Das fände ich eine spannende Aufgabe für die Kirchen.

NG/FH: Mitunter hat man aber den Eindruck, dass Vertreter der beiden Kirchen der Auffassung sind, sie hätten so eine Art Ethikmonopol ...

Graf: ... Ja, aber das ist nicht der Fall. Die Kirchen täuschen sich an dem Punkt, weil sie suggerieren, als Folge bestimmter überlieferter religiöser Vorstellungen vorgeben zu können, was richtig ist. Das ist aber nicht so: Wenn man sich die Geschichte christlicher Ethik anschaut und die Relevanz konfessionsspezifischer Faktoren im Ethikdiskurs der Bundesrepublik betrachtet, zeigt sich, dass man es sehr häufig mit deutlich mehr Vieldeutigkeit zu tun hat, als es die Kirchen gerne suggerieren. Die Theologie oder bestimmte Formen der Theologie laden dazu ein, vermeintliche Eindeutigkeit zu produzieren, die es aber in vielen Fragen nicht gibt.

NG/FH: Differenzierende Stimmen vernimmt man eher selten.

Graf: Das Klima ist in dieser Hinsicht deutlich schlechter geworden. Es gibt viele katholische Universitätstheologen, die abends beim Bier sagen: »Ich bin ja so froh, dass Du das mal gesagt hast.« Also gibt es schon ein Klima der Einschüchterung und der Repression. Und im politischen Berlin gibt es leider die Neigung vieler Politiker, das, was die Kirchen sagen, nicht kritisch zu kommentieren. Es gibt schon Tendenzen eines neuen Klerikalismus im Lande, wenn man auf die Ethikdebatten blickt.

NG/FH: Das wäre kaum förderlich für den gesellschaftlichen und politischen Umgang mit der multireligiösen Grundsituation, in der wir uns befinden. Ist das nicht eine eher unproduktive Entwicklung?

Graf: Sogar eine fatale Entwicklung, weil man damit auch sein eigenes Konto überzieht, Andersdenkende, auch religiös Andersdenkende, nicht wirklich ernst nimmt und sich gar nicht mehr auf einen argumentativen Diskurs einlässt.

NG/FH: Ist das jetzt eine Art Gegenwehr in einer Situation, in der man sich bedroht fühlt? Wird hier versucht, die alte Platzhirschfunktion durch eine Verschärfung der Ansprüche verteidigen zu können?

Graf: Zumindest, wenn Sie sich die Äußerungen bestimmter Repräsentanten der deutschen Bischofskonferenz oder auch der EKD anschauen: Man überspielt massive Probleme durch die Suggestion von eigenen Kompetenzen. Und wenn Sie dann genauer hinschauen, sehen Sie aber, dass die gar nicht so viel können.

NG/FH: In Ihrem Buch weisen Sie dem Konzept des »Religionsmarktes« eine wichtige Rolle zu, um bestimmte Phänomene zu erklären. Man hat ja heute manchmal den Eindruck, dass religiöse Energien, religiöse Sinnprojektionen auch auf andere Bereiche bezogen werden. Der Fußball oder das Internet werden z.B. von manchen Leuten als Religionsersatz, also Hauptsinnstiftungsgeber, Orientierung für das Leben, betrachtet. Gibt es eine Tendenz, dass säkulare Objekte plötzlich zum Objekt religiöser Überhöhung werden?

Graf: Ich glaube nicht, dass Fußball eine Religion ist. Sicherlich ist es ein interessantes Phänomen, dass Menschen gerade unter den Bedingungen individualisierter Lebensstile dazu neigen, sich einem Kollektiv zuzuschreiben. Beispielsweise beim Public Viewing oder beim Tragen des Trikots. Als Student bin ich in Jeans aufs Oktoberfest gegangen. Heute tragen alle Lederhosen, verkleiden sich als Bayern. Das tun auch die Italiener, die nach München kommen: Selbstzuschreibung zu einem erfundenen Kollektiv.

NG/FH: Ist die Tendenz, alles Mögliche aus der Alltagswelt mit religiösen Energien zu besetzen und in religiöse Funktion zu bringen, eher ein Randphänomen?

Graf: Nein, es kann kein Randphänomen sein. Gehen Sie in irgendeine Buchhandlung und schauen Sie sich mal an, was dort an Esoterikliteratur steht. Diese Literatur gibt es nur, weil es für esoterische Sinnprodukte eine starke Nachfrage gibt. Ich selbst bin nicht gewillt, mein Leben durch das Pendel entscheiden zu lassen und halte das alles für Hokuspokus, ich muss aber zur Kenntnis nehmen, dass das in unserer Gesellschaft doch ein sehr starker Faktor der Orientierung von Menschen im Hinblick auf die Führung und Deutung ihres Lebens ist.

NG/FH: Nun gibt es ja in unserer Gesellschaft eine starke Tendenz zum Egoismus. Lässt sich das auch innerhalb der Religion beobachten? Dass man zum Beispiel fragt, was die Religion für einen tut und nicht, was man selbst dafür und für das Gemeinwesen tun sollte. Ist so eine Entwicklung zu beobachten?

Graf: Das gibt es ganz massiv. Das sind alles Formen von Religiosität, die nicht zur Kultbildung tendieren, sondern Lebensführungsangebote machen. Religion kann Gemeinschaftsbildung bewirken, aber genauso gut auch zu Vereinzelung führen.

Ich weiß es nicht genau, ob diese Tendenz eine wachsende Rolle in der Gesellschaft spielt. Zweifelsohne ist es ein ambivalentes, widersprüchliches Thema. Wir erleben die Erosion der Kirchen. Die Austrittszahlen bleiben kontinuierlich hoch. Wir erleben aber auch, dass die Spendenbereitschaft der Deutschen von Jahr zu Jahr steigt. Also kann ich nicht einfach sagen, die Menschen haben keinen Sinn für überindividuelle Problemlagen mehr. Ich denke, man engagiert sich lieber für ein bestimmtes, zeitlich befristetes Projekt, mit dem man sich identifizieren kann, als einer Großorganisation treu zu bleiben, von der man sich aus vielerlei Gründen innerlich entfernt hat.

NG/FH: Es entsteht das Bild, Religiosität bleibt und spielt weiterhin eine - vielleicht sogar wachsende - Rolle in einem Staat wie Deutschland. Es findet eine starke Differenzierung mit Ausfransungen an den Rändern statt und trotz beständiger Bedeutung von Religion büßen die großen Kirchen an Bedeutung ein.

Graf: In einer Gesellschaft unseres Typs, in der immer mehr Menschen älter werden, in der also beispielsweise demenzielle Krankheiten dramatisch zunehmen werden, in der wir aufgrund des demografischen Wandels verstärkt über das Thema letzte Lebensjahre und Pflege nachzudenken haben, kommt Organisationen, die soziale Dienstleistungen für ältere Menschen anbieten, eine wachsende Bedeutung zu. Insofern werden Caritas und Diakonie nicht an Bedeutung verlieren.

Die Kirchen als religiöse Organisationen sind vom demografischen Wandel besonders stark betroffen, weil jüngere Menschen in aller Regel kirchendistanzierter sind als ältere. Insofern kommt auf die Kirchen eine fundamentale Herausforderung zu. Aber mir ist wichtig zu betonen, dass es keine Automatismen gibt. Die Frage ist, wie die Kirchen imstande sein werden, durch Lernprozesse auf sozialstrukturelle Wandlungen zu reagieren.

NG/FH: Wenn man all das zusammennimmt, drängt sich die Frage auf, ob man für so eine bleibend oder wachsend multireligiöse Gesellschaft nicht ein ganz anderes Religionsrecht brauchte, damit sich alle gleichberechtigt anerkannt und gewürdigt fühlen. Das heutige Kirchenrecht privilegiert aber immer noch einige.

Graf: Das Thema Staatskirchen- und Religionsverfassungsrecht ist ein sehr komplexes Thema: Zunächst gibt es Spannungen zwischen europäischen Rechtsnormen und dem jeweiligen nationalen Religionsverfassungsrecht. In nichts unterscheiden sich die EU-Länder so sehr wie in ihrem Religionsverfassungsrecht. Wir haben in Deutschland das System der sogenannten »hinkenden Trennung«. Also Staat und Kirche sind laut Weimarer Reichsverfassung getrennt, kooperieren aber um des Gemeinwesens willen in Fragen des Bildungsbereiches, Sozialbereiches usw. Kein politisch relevanter Akteur im Land stellt dies infrage. Selbst die Partei Die Linke verteidigt den staatskirchenrechtlichen, den religionsverfassungsrechtlichen Status quo. Schon deshalb, weil sie auch von Religionslehrern gewählt wird und gewählt werden will.

Es gab mal eine kurze Phase, in der die FDP über das Kirchenpapier an diesem Kompromiss rütteln wollte. Das wurde sehr, sehr schnell zurückgezogen. Was in Deutschland passiert, ist nicht die Infragestellung unseres Systems der hinkenden Trennung, sondern der Versuch, neue religiöse Akteure, wie insbesondere die Muslime, in das deutsche System hineinzubringen. Deshalb gründen wir an staatlichen Universitäten muslimisch-theologische Fakultäten, weil wir wollen, dass muslimische Religionslehrer und Imame in Deutschland und nicht in Ankara oder in Kairo ausgebildet werden. Deshalb versuchen wir, den muslimischen Akteuren nahezulegen, sich stärker kirchenanalog zu organisieren, im Englischen heißt das churchification of Islam. Man bietet beispielsweise an: Entwickelt doch festere Strukturen, dann können wir Euch den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes geben. Wenn ihr Euch so organisiert, dann bekommt Ihr von uns diesen Status und auch öffentliche Mittel, umgekehrt sichert Ihr uns die Loyalität zum Staat des Grundgesetzes zu. Das ist ein interessanter politischer Deal. Deshalb macht man Islamkonferenzen, deshalb führt man Integrationsdebatten auf allen Ebenen. Und deshalb immer wieder der Appell an die Muslime, sich doch stärkere Organisationsstrukturen zu geben.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2014, S. 4 - 10
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. November 2014