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FORSCHUNG/025: Gesellschaftliche Konflikte und Theologie (Uni Bielefeld)


BI.research 30.2007
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

Religion, gesellschaftliche Konflikte und Theologie

Von Heinrich Schäfer
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie - Abteilung Theologie


Eine Besonderheit der Abteilung Theologie an der Universität Bielefeld lag schon in der Vergangenheit darin, empirisch-sozialwissenschaftliche Methoden mit theologischer Reflexion zu verbinden, etwa im DFG-Projekt über De-Konversion aus fundamentalistischen und anderen religiösen Gruppen (Streib). Dieses Profil konnte durch zwei Neuberufungen (Zimmermann, Schäfer) ausgebaut werden und kommt einem dringenden Bedarf theologischer Neuorientierung in Deutschland entgegen: theologische Normbildung nämlich auf die Grundlage kompetenter Gegenwartsanalyse zu stellen. Inhaltlich liegt ein neuer Arbeitsschwerpunkt neben der Erforschung von Pfingstbewegung und Fundamentalismus auf religiöser Praxis in Gewaltkonflikten, und zwar mit dem Fokus auf Prävention und De-Eskalation destruktiver Konfliktivität. Analysen befriedender Praxis religiöser Akteure zielen auf neue Inputs für die Friedensethik und Mediation. Der Transfer in die Ausbildung religions- und konfliktkompetenter Lehrkräfte bildet dabei den Fluchtpunkt dieser Neuorientierung in der Lehre.


Religiöse Friedensstifter

Der Arbeitsschwerpunkt konzentriert sich derzeit in einem Forschungsprojekt über Friedensstifter im Bosnienkrieg unter der Federführung der Professur für Systematische Theologie und Religionssoziologie. Der Bosnienkrieg ist ein Exempel für die Konfliktszenarien der jüngeren Zeit. In "Neuen Kriegen" - wie etwa in Bosnien, Libanon, Palästina, Kashmir, Sudan usw. - sind nicht selten Akteure verschiedener Religionen eskalierend involviert. Interessenkonflikte werden in Identitätskonflikte verwandelt und religiös eskaliert. Gleichwohl wirkt Religion nicht allein eskalierend. Es lassen sich auch religiös motivierte Friedensinitiativen beobachten. Sant' Egidio, Pax Christi, Neve Shalom/Wahat al Salam, Acholi Religious Leaders Peace Initiative sind nur einige der bekannteren Namen. Das Forschungsprojekt konzentriert sich auf die "abrahamitischen" Religionen und untersucht zunächst in Bosnien das handlungsleitende Ethos der religiösen Gruppen, die sich in der Transformation der Konflikte engagieren. Die Frage ist, ob sich bei den beteiligten religiösen Akteuren unterschiedlicher religiöser Zugehörigkeit ähnliche habituelle Dispositionen und biografische Strukturen finden lassen, welche dies sind und welche "friedensstrategischen" Wirkungen sie im Konfliktfeld zeitigen. Zur Untersuchung werden Methoden aus der Habitus- und der Biographieanalyse trianguliert. In einem weiteren Schritt wird gefragt, wie die beobachteten Ähnlichkeiten und Differenzen für das Handeln friedensfördernder Organisationen nutzbar gemacht werden und wie sie zu neuen Konzepten von Friedensethik führen können.


Pfingstbewegung und Transnationalisierung

Die Pfingstbewegung ist - neben dem Islamismus - die dynamischste Form zeitgenössischer Religiosität. Ihre rasche weltweite Ausbreitung ist eingebettet in konfliktive soziale Prozesse. Einerseits bildet sie ein globales Netz religiöser Identität - ein Agent religiöser Globalkommunikation. Andererseits ist sie in sich keineswegs homogen und reagiert empfindlich auf lokale Konflikte. In stark polarisierten Gesellschaften etwa kann es Spannungen geben zwischen zwei Extremen der Bewegung: aggressiven, global vernetzten charismatischen Fundamentalismen in aufsteigenden Schichten mit Anspruch auf politische Dominanz einerseits und apokalyptischen, am bloßen Überleben orientierten lokalen Gruppen unter den Marginalisierten andererseits. Oder: In Lateinamerika können Pfingstler - etwa in Guatemala oder Ecuador - die traditionelle indianische Heiligenverehrung ablehnen, selbst aber dezidiert "indianische" Pfingstkirchen betreiben und ethnischen Widerstand stärken. Oder: In multireligiösen, sozial konfliktiven Kontexten, wie etwa in Nigeria, lancieren Pfingstler Konter-Strategien gegen islamische Akteure.

Frühere Forschungen zur Pfingstbewegung in den Bürgerkriegen Zentralamerikas, in den USA sowie zur globalen Ausbreitung der Bewegung bilden derzeit die Grundlage für die Integration neuer Einzelprojekte mit dem Ziel, Transformationsgesetze religiöser Praxis im Rahmen "glokaler" (Robertson) Identitätspolitiken auszumachen. In theologischer Hinsicht ist relevant, dass die unterschiedlichen pfingstlichen Akteure aus einem relativ homogenen Symbolinventar unterschiedlichste religiöse Stile und Theologien herausbilden. Diese kennen zu lernen, sie theologisch zu interpretieren und daraus Konsequenzen zu ziehen, ist angesichts der weltweiten Ausbreitung und politischen Dynamik der Pfingstbewegung für Theologie und Religionssoziologie unerlässlich. Dieser Schwerpunkt wird bereits mit den Interamerikanischen Studien koordiniert und entspricht Forschungsperspektiven, die auch im Bielefelder Institut für Weltgesellschaft wahrgenommen werden.


Habitusanalyse, Identitäten und Strategien

In theoretischer und methodischer Hinsicht fußen die genannten Projekte weitgehend auf der Soziologie Pierre Bourdieus. Diese ermöglicht nicht nur eine Soziologie "symbolischer" Praxis, sondern auch ein verändertes Konzept von Theologie. Vor allem aber eröffnet Bourdieus Ansatz die Perspektive auf ein neues Konzept von Identität. Identitäten und Strategien religiöser Akteure formen sich heute so aus, dass lokale und globale, traditionale und moderne "Elemente" situationsgerecht miteinander verwoben werden. Zugleich wirkt Identitätsbehauptung als Identitätspolitik. Kurz, Identitäten lassen sich nicht mehr adäquat als in sich geschlossene Einheiten auffassen (Erikson, Mead), denen "Identitätsdiffusion" als Desintegration droht. Diffuse Identität ist vielmehr der Normalfall geworden; dies jedoch nicht in dem Maße, dass die Identität von kollektiven und individuellen Akteuren als vollkommen zersplittert, als "multiphren" (Gergen) gedacht werden könnte. Ein adäquater Identitätsbegriff sollte Kontinuität und Bruch gleichzeitig berücksichtigen, Identität und Strategie in gegenseitiger Wechselwirkung modellieren und Strategien von Identitätspolitik darstellen können. Vor allem sollte er für empirische Untersuchungen methodisch operationalisierbar sein.

Dies wird erreicht durch die theoretische Modellierung von Identität als einem Netzwerk aus kognitiven, effektiven und leiblichen Dispositionen des Wahrnehmens, Urteilens und Handelns im Anschluss an Pierre Bourdieus Konzepte des Habitus, der praktischen Logik und der Strategie. Diese Theorie kann so operationalisiert werden, dass aus Interviews (religiöse) Dispositionen als Netzwerke praktischer Logik analytisch erhoben und im Kontext des Kraftfeldes sozialer Positionen interpretiert werden können. Die Produktion von Religion und Theologie lässt sich somit im Kontext ihrer gesellschaftlichen Bedingungen beschreiben. Und dies wiederum ist eine wichtige Voraussetzung für die Produktion von Theologie mit normativem Anspruch, etwa in Gestalt einer Friedensethik.


"Methodologisch kommunitaristische" Ethik

In "Neuen Kriegen" spielen nicht-staatliche Akteure und identitäre Konfliktstrategien eine immer größere Rolle. Zugleich werden beide Faktoren auch für die Konfliktschlichtung immer wichtiger. Theologische Ethik - insbesondere die protestantische - befindet sich angesichts dieser Situation in einem Dilemma zwischen christlicher Gebotsethik und kantischem Universalismus. Erstere operiert mit Argumenten für christliche "in groups"; Letzterer unter Absehung von konkreten Kontexten. Zugleich aber eröffnet die praktische Entwicklung von Strategien der Konflikttransformation unter Beteiligung der Zivilgesellschaft - sog. peace constituencies (Lederach, Auswärtiges Amt unter anderem) - der ethischen Reflexion eine andere Denkrichtung. Ein "methodologischer Kommunitarismus" kann an den spezifischen Handlungschancen anknüpfen, die durch die Kooperation lokaler und globaler Friedensstifter entstehen. Damit stellen sich für die Ethik die Aufgaben einer Beschreibung und Interpretation lokaler, habituell verankerter Moralen und deren Vermittlung mit prinzipienorientierten, universalistischen Ansätzen globaler Akteure. Theologische Ethik wird dabei spezifisch christliche Chancen von Vermittlung benennen.

Die Ergebnisse des anfangs genannten Projektes über religiöse Friedensstifter geben Material für die Lösung dieser Aufgabe an die Hand.


Prof. Dr. Dr. Heinrich Schäfer lehrt seit 2006 Systematische Theologie, Kirchengeschichte und Religionssoziologie an der Fakultät für Geschichte, Philosophie und Theologie sowie an der Fakultät für Soziologie. Angelpunkt seines wissenschaftlichen Werdegangs war eine zweijährige Feldforschung über religiöse Bewegungen in Kriegsgebieten Zentralamerikas Mitte der Achtziger Jahre. Nach seiner ersten Promotion (Ev. Theologie, Bochum) und während der Tätigkeit als Pfarrer im Ruhrgebiet hatte er zunächst einen Lehrauftrag für ökumenische Theologie in Bochum. Dann arbeitete er für neun Jahre an zwei Universitäten in Costa Rica mit Lehr- und Forschungstätigkeit bei Partnern in ganz Lateinamerika. Er habilitierte sich in Bochum 2001 in Systematischer Theologie und promovierte 2002 an der Humboldt Universität in Soziologie. 2004 und 2005 lehrte er am Seminar für Religionswissenschaft der Universität Hannover. Seine Forschungsschwerpunkte sind das Ethos religiöser Friedensstifter, Pfingstbewegung und Fundamentalismus in Transnationalisierungsprozessen, Habitus- und Strategieanalyse, Pneumatologie und Friedensethik.


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Quelle:
BI.research 30.2007, Seite 31-35
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. September 2007