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STANDPUNKT/083: Die ökologische Krise verweist auch auf die Krise der Religion (Ingolf Bossenz)


Im Griff des epochalen Winters

Die ökologische Krise verweist auch auf die Krise der Religion

Von Ingolf Bossenz


Seinen Urlaub, den Papst Benedikt XVI. wie üblich in der Residenz Castelgandolfo verbrachte, ließ das katholische Kirchenoberhaupt in diesem Jahr mit einem Kammermusikkonzert ausklingen. Auf dem Programm stand Franz Schuberts Liederzyklus »Winterreise«. Der Wiener Komponist, so bemerkte der Pontifex nach der Darbietung, drücke in diesem Werk »eine intensive Atmosphäre trauriger Einsamkeit aus, die er in seinem Seelenzustand besonders empfand aufgrund einer langen Krankheit und einer Reihe sentimentaler wie beruflicher Misserfolge«. »Ihr werdet es bald hören und begreifen«, hatte Schubert Anfang 1827 zu Freunden geäußert, die in Sorge waren über seine düstere Stimmung und bald darauf »einen Kranz schauerlicher Lieder« (Schubert) präsentiert bekamen.

Dieses »Hören und Begreifen« wurde immer wieder als Aufforderung verstanden, die Deutung der »Winterreise« nicht auf das im Werk verarbeitete individuelle Schicksal zu beschränken. Den mannigfachen musikhistorischen, psychologischen, politischen und sonstigen Interpretationsversuchen fügte Hanspeter Padrutt 1984 eine anthropologisch-ökologische Variante hinzu. Statt des Liedes vom liebeskranken Jüngling - das »Lied vom epochalen Winter«, wie der Schweizer Schriftsteller und Psychotherapeut seinen Essay titelte. Dieses Lied erzählt von der Fremde, »in welcher der neuzeitliche Mensch einsam umherirrt. Von der Entfremdung dieses Menschen vom Ding, von der Erde, von einem Gott, der 'tot' ist. Und damit vom Auszug aus der 'Stätte des Wohnens', aus der 'Wohngemeinschaft', in die unwirtliche Stadt des überhandnehmenden Maschinenwesens.« »Wer Ohren hat«, schrieb Padrutt, »kann das Lied vom epochalen Winter hören, wer Augen hat, kann den Schnee und das Eis auf unseren Wegen sehen, und wer sich nicht zu warm polstert, wird die Kälte des epochalen Winters spüren ...«. Tagesaktuell wie nie zuvor: »Das animal rationale schlägt sich den Kopf ein, wenn es um Brennstoff geht. Eher erschießt es den Tankwart, als dass es einmal zu Fuß geht. Eher nimmt es das, was in Harrisburg beinahe geschehen wäre (und in Tschernobyl zwei Jahre später geschah - I. B.), getrost in Kauf, als dass es einen Pullover anzieht. Eher riskiert es einen Krieg um den Persischen Golf ... Glaubt es, 'des ganzen Winters Eis' mit Energie schmelzen zu können?« Offenbar glaubt dies das animal rationale, das »vernünftige Tier«. Immerhin liegt die Temperatur in der Arktis im Herbst mittlerweile um fünf Grad über dem Normalwert. Im Bericht des Weltklimarates waren die Forscher noch davon ausgegangen, dass die nördliche Polarzone ab 2080 sommers eisfrei sein könnte. Nun wird befürchtet, dies könne bereits 50 Jahre früher eintreten. Geschmolzen - »des ganzen Winters Eis«, wie es in Wilhelm Müllers Text des schubertschen Liederzyklus heißt. Die Paradoxie der Katastrophe: Der epochale Winter zeigt sich statt in schneidender Kälte - in Erwärmung und Verwüstung. Fast ein Viertel der weltweiten Landfläche ist bereits verödet; ein Drittel der Erdbevölkerung lebt in Trockengebieten. Padrutt: »Wenn die Wüste weiter wächst, ist bald überall das afrikanische Felsental.« Papst Benedikt XVI. sieht derweil andere Wüsten wachsen. Wenige Wochen nach der »Winterreise« in Castelgandolfo entwarf er ebendort vor einer Versammlung der Benediktiner das Elendsbild »einer entsakralisierten Welt, die von einer bedrohlichen Kultur der Leere und der Sinnlosigkeit gekennzeichnet ist«. Deshalb seien die Ordensleute berufen, »ohne Kompromisse den Primat Gottes zu verkünden und Vorschläge für mögliche neue Wege der Evangelisierung zu unterbreiten«.

Primat Gottes? Ohne Kompromisse? In einer Zeit der ökologischen Apokalypse, deren wissenschaftlich erhärtete Horrorszenarien den Endzeitvisionen aus der Offenbarung des Johannes nicht nachstehen? Angesichts eines Klimawandels, der die Spiegel der Meere steigen und die Zahl der Arten sinken lässt? »Neue Wege der Evangelisierung« statt »Wege zum Gleichgewicht« (Al Gore)?

Einen ähnlichen Schock wie der jüngste Bericht des Weltklimarates hatte 1972 der Club of Rome mit seinem Report »Die Grenzen des Wachstums« ausgelöst. Erstmals wurden die für den Fortbestand der Menschheit bedrohlichen Folgen schrankenloser wirtschaftlicher Expansion aufgezeigt.

Das damit einhergehende Umdenken in ökologischen Fragen äußerte sich auch in der Ansicht, dass zur Bewältigung der neu erkannten Krise ein Wiederanknüpfen an religiöse Grundhaltungen wie Ehrfurcht oder Demut nötig sei. So zeigte sich der katholische Philosoph Robert Spaemann überzeugt, nur ein »wie immer begründetes religiöses Verhältnis zur Natur« könne auf Dauer die Existenz des Menschen garantieren. Der Philosoph und Religionswissenschaftler Hans Jonas begriff ein solches Verhältnis als die »Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen«. Zugleich kritisierte der Schriftsteller Carl Amery »Die gnadenlosen Folgen des Christentums«, so der Untertitel seines Buches »Das Ende der Vorsehung«. Amery führte die heutige Weltkrise zurück auf die unheilvolle Wirkung des biblischen Geheißes »Macht euch die Erde untertan!« zur totalen Unterwerfung der Natur.

Religionswissenschaftler der Philipps-Universität Marburg verfassten 1995 sogar einen Bericht »Ökologie und Religion« für den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderung am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. Sie kamen zu dem Schluss, dass der ökologische Diskurs in den Religionen »maßgeblich von zwei Seiten bestimmt« wird: »nämlich von Anhängern einer Religion, die sich des Themas Ökologie vor allem aus apologetischen Gründen annehmen und von Anhängern der Ökologie-Szene, die sich von den Religionen 'metaphysische' Zusatzargumente bzw. 'Schützenhilfe' erhoffen«. Alle im Bericht vorgestellten Traditionen, so das Fazit der Forscher, »können eine religiöse Begründung für einen schonenden Umgang mit der Umwelt liefern, keine jedoch erzwingt diesen«.

Dieses Sowohl-als-auch hatte allerdings schon knapp zehn Jahre vor der Marburger Veröffentlichung der Religionswissenschaftler Hubertus Mynarek stringenter und zugespitzter formuliert: »Aber gerade die großen, historisch gewordenen Religionen haben fast alle einen Sündenfall hinter sich, der dazu führte, dass sie sich ihres ökologischen Zentralanliegens nicht mehr bewusst waren, dass die goldenen 'ökologischen' Lebensregeln, die sie einmal aufgestellt hatten, von Dogmen, die nur noch der Machtstabilisierung dienten, und von immer unverständlicher gewordenen Riten und Kultpraktiken überlagert, ja überwuchert wurden.«

Der 1929 geborene Hubertus Mynarek schrieb diesen Satz in seinem 1986 erschienenen Buch »Ökologische Religion - Ein neues Verständnis der Natur«(*). Unter den zahlreichen Veröffentlichungen zu der vom Club of Rome ausgelösten Umweltdebatte nahm diese Schrift eine Sonderstellung ein. Unterschied sie sich doch von den vielen - durchaus dringlichen und drängenden - Katastrophenszenarien von Autoren wie Herbert Gruhl (»Ein Planet wird geplündert«) oder Hoimar von Ditfurth (»So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen«) durch die Hoffnung auf Heil. Heil indes nicht durch eine über der Natur waltende göttliche Kraft, sondern durch den Ausstieg aus der christlichen »Heilsgeschichte der Naturvergessenheit«. Ersetzt werden müsse, so die Intention Mynareks, der seit Jahrhunderten bis heute von der Kirche propagierte »Primat Gottes« durch den Primat der Natur.

Der ehemalige Priester und Theologieprofessor, der anderthalb Jahrzehnte zuvor mit der Rom-Kirche gebrochen hatte, bekannte sich in seiner Schrift kompromisslos zur »Ehrfurcht vor dem Leben«. Diese Ehrfurcht hatte Albert Schweitzer (1875 - 1965) als »Frömmigkeit in ihrer elementarsten und tiefsten Fassung« gesehen. Mynarek plädierte für nicht weniger als eine neue - eben »ökologische« - Religion, »die das Verhältnis des Menschen zur Gesamtnatur und zum Kosmos in den Mittelpunkt stellt, die sich an das 'große Haus des Universums' rück-bindet (von: religare), die die großen Ordnungen und Gesetze des äußeren Universums wie des inneren, nämlich der Psyche, erkennen, erfühlen, bewundern und verantwortungsvoll praktizieren will«. Bedarf der Mensch einer neuen Religion angesichts der nach wie vor ungebrochenen globalen Zerstörungsorgie? Angesichts einer sich bedrohlich der Milliarde nähernden Zahl von Hungernden? Angesichts des elenden Lebens und Sterbens von Milliarden »Nutz«- und »Versuchs«-Tieren?

Bedarf es einer neuen Religion, der sich auch Atheisten und Agnostiker nicht verschließen müssten, ja, nicht verschließen dürften? Einer Religion ohne Gott? Oder hatte der rumänische Philosoph und Kulturpessimist Emile Cioran (1911 - 1995) Recht, der dem Menschen bescheinigte, dieser sei geistig »am Ende seiner Kräfte«, da außerstande, eine »neue, tiefe Religion hervorzubringen«?(**) Fasst man Religion als das Verhältnis der Menschen zu einem letzten Sinn gewährenden Grund und die aus dieser Beziehung entspringenden praktischen ethischen und kulturellen Konsequenzen - dann ist eine globale ökologische Religions-Gemeinschaft in der Tat ein zweifellos erstrebenswertes, vermutlich überlebensnotwendiges, sehr wahrscheinlich jedoch illusorisches Ziel.

Mynarek ist schwer zu widersprechen, wenn er feststellt, nur Ökologische Religion werde »letztlich der Totalität und Universalität der Natur ganz gerecht, ihrer Totalität und Universalität in der Vertikalen wie in der Horizontalen. Natur ist ihr nicht irgendein Ausschnitt der Wirklichkeit, z. B. der belebte, nicht irgendein Bereich des Seienden, den man dem Bereich des Geistes oder des Geistigen gegenüberstellen könnte. Ökologische Religion fasst Natur als die universale Größe, d. h. als die Wirklichkeit alles dessen, was existiert.« Insofern ist Ökologische Religion die wohl einzige Religion, die sich in Inhalt und Anspruch auf die marxistischen Stammväter berufen kann - auch wenn Karl Marx den Begriff Religion in diesem Zusammenhang wohl verworfen hätte, da der Philosoph bei seiner Kritik (»Opium des Volks«) vor allem auf das zeitgenössische Christentum mit dem Pakt von Thron und Altar und dem Glauben an einen personalen Gott rekurrierte. Die »vollendete Wesenseinheit der Menschen mit der Natur« jedenfalls war für Marx ein notwendig anzustrebendes Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung. Und wie Friedrich Engels in »Dialektik der Natur« nachdrücklich betonte, werden wir »bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht - sondern dass wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und dass unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug zu allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können«. Die »Naturvergessenheit«, die Mynarek an den etablierten Religionen kritisierte, warf bereits 1975 der marxistische Philosoph Wolfgang Harich den damaligen sozialistischen Staaten ebenso vor wie den westlichen kommunistischen Parteien. War doch deren vorherrschende Reaktion auf den ersten Bericht des Club of Rome ein Abwiegeln dieser angeblichen »Umwelthysterie«. In seiner Streitschrift »Kommunismus ohne Wachstum?« votierte Harich wie hernach Mynarek für ein neues Gleichgewicht der Gesamtnatur, für einen »homöostatischen Zustand, in den die Menschheit bei Strafe ihres Untergangs überführt werden muss«. Aktueller denn je ist Harichs Frage, »ob eine Gesellschaft, deren Hauptmotiv der materielle Profit ist, in einer homöostatischen Welt überhaupt noch einen Platz haben kann«.

Noch 1993 wurde die Ökologie verunglimpft als »Ausgeburt einer irrationalen Ideologie, die sich dem wissenschaftlichen und industriellen Fortschritt widersetzt« - im »Heidelberger Appell«, den 264 Wissenschaftler unterzeichnet hatten, darunter 52 Nobelpreisträger.

War auch die jüngste Klimadebatte nur ein Hype? Die nachgefolgte Finanzkrise und das wieder zur Kardinalsorge erhobene »wirtschaftliche Wachstum« werden kaum Raum lassen für Diskurse über das »gefräßige Wesen der Großtechnik im Dienst internationaler Konzerne« (Mynarek). Es bleibt, wie der Soziologe Ulrich Beck zum Konnex von Ökologie und Religion bemerkt(***), ein Trugschluss zu glauben, technische »Innovationen könnten die Folgen der Klimakatastrophe mindern und die globale Gerechtigkeitsfrage, die Einbeziehung der kulturell Anderen in die eigene Entscheidung ausklammern«. Beck hofft auf die »kosmopolitische Stimme religiöser Akteure«, um »die Völker unterschiedlichen Glaubens auf einen 'gemeinsamen' Pfad der Gerechtigkeit festzulegen«. Angesichts der konfessionsübergreifenden Konkurrenz des jeweiligen »göttlichen Primats« ist das eine sehr vage Hoffnung.

Vielleicht wirkt ja die weitere »Winterreise« doch noch als Katalysator globaler Verständigung auf ein neues, ökologisches Primat. Ob man das dann Religion nennt, ist letztlich nachrangig.


Anmerkungen:

(*) Hubertus Mynarek: Ökologische Religion - Ein neues Verständnis der Natur. Wilhelm Goldmann Verlag München 1986, br., 288 S., nur noch antiquarisch erhältlich.

(**) Bernd Mattheus: Cioran - Portrait eines radikalen Skeptikers. Matthes & Seitz Berlin 2007, geb., 368 S., 28,90 EUR.

(***) Ulrich Beck: Der eigene Gott - Von der Friedensfähigkeit und dem Gewaltpotential der Religionen. Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag Frankfurt am Main u. Leipzig 2008, geb., 276 S., 19,80 EUR.


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Quelle:
Ingolf Bossenz, November 2008
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 01.11.2008


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. November 2008