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BERICHT/070: Scharia in Europa (inamo)


inamo Heft 57 - Berichte & Analysen - Frühling 2009
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Scharia in Europa

Von Mathias Rohe


Überlegungen des Erzbischofs von Canterbury, Teile der Scharia auch im Vereinigten Königreich einzuführen, soweit sie nicht dem dort geltenden Recht widersprechen, und entsprechende Äußerungen von Politikern in den Niederlanden und Deutschland haben eine hitzige, nicht immer sachkundige Debatte ausgelöst. Wird der rechtskulturelle Grundkonsens Europas in Frage gestellt? Sollen die Körperstrafen des klassischen Islamischen Rechts wieder Einzug in Europa halten, nachdem solche Strafen hier - von der Todesstrafe abgesehen - seit langem nicht mehr praktiziert werden? Steht die Einführung der Polygamie ins Haus? Solche und ähnliche Fragen mögen aufkommen, wenn die Stereotypen "Reizthemen" der Scharia angesprochen werden.


Die Scharia ist aus der Sicht schriftorientierter sunnitischer und schiitischer Muslime ein zentraler Bestandteil des Islam. Islam heißt "Unterwerfung unter Gott". Diese Unterwerfung wird zumindest in der Theorie umfassend verstanden. Sie betrifft die innere Glaubensüberzeugung ebenso wie die religiöse Praxis und die Lebensführung und ist sowohl auf das Diesseits wie auf das Jenseits ausgerichtet. Hierin ist das verbreitete Missverständnis begründet, wonach im Islam Religion einerseits und Staat, Recht und Politik andererseits untrennbar verbunden seien. Tatsächlich trifft es zu, dass die Regeln des Islam Verbindlichkeit für die gesamte menschliche Lebensführung beanspruchen. Dies unterscheidet den Islam jedoch nicht vom Christentum und anderen Religionen, welche ebenfalls Leitlinien für das gesamte Leben vorgeben. Die Existenz religiöser und rechtlicher Regelungen bedeutet aber keinesfalls, dass zwischen beidem nicht getrennt werden könnte. Recht zeichnet sich in aller Regel durch diesseitsgerichtete Durchsetzungsmechanismen aus, während religiöse Vorschriften meist eine jenseitsbezogene Ausrichtung haben, wenngleich es einzelne Überschneidungen beider Bereiche geben mag, wie etwa beim religiös begründeten Zinsnahmeverbot. Der Oberbegriff für beide Bereiche ist Scharia (arab. sarîca), der "gebahnte Wegs. Viele Nichtmuslime, aber auch manche Muslime legen hingegen einen engeren Begriff an; sie beschränken die Scharia auf die rechtlichen Normen des Familien- und Erbrechts, des koranischen Strafrechts und des (sehr unpräzisen) Staatsorganisationsrechts einschließlich der religiöse Minderheiten betreffenden Normen. Hier öffnen sich Konfliktfelder zwischen traditionellen muslimischen Interpretationen und den Menschenrechten.


Anwendungsbereiche islam-rechtlicher und -religiöser Vorschriften
1. Jede geltende Rechtsordnung beansprucht einen uneingeschränkten Anwendungsvorrang in ihrem Zuständigkeitsbereich und bestimmt autonom darüber, ob und in welchem Umfang "fremde" Normen Anwendung finden können. Auf der Ebene des Geltungsanspruchs herrscht also kein Normenpluralismus im Sinne rechtlicher Multikulturalität. Vielmehr entscheidet alleine die territorial geltende und mit staatlichen Mitteln durchgesetzte Rechtsordnung darüber, inwieweit sie im Einzelfall Normenvielfalt zulässt.

Die Rechtsordnung eines demokratischen, den Menschenrechten verpflichteten Rechtsstaats muss stabile und im Kern unveränderliche Rahmenbedingungen für ein gedeihliches Miteinander bereithalten und diese nötigenfalls auch mit staatlichen Sanktionen durchsetzen. Andererseits kann sie als Freiheitsordnung nicht dazu dienen, ohne weiteres alles zu verbieten, was einzelnen oder vielen nicht gefällt, was sie moralisch oder gesellschaftspolitisch ablehnen und was deshalb einem gesellschaftlichen Diskurs unterzogen werden sollte. Zudem ist immer zu beachten, inwieweit die "außerrechtliche" - z. B. religiöse - Begründung von Normen sich gegen das geltende Recht stellt oder aber sich innerhalb dieses bestehenden Rechtskontexts positioniert, also gerade keinen Gegensatz dazu bildet. Das gilt auch für weite Teile islamischer Normen.


2. Die Anwendung religiöser Vorschriften unterscheidet sich grundlegend von der Rechtsanwendung. Dies hängt zum einen mit dem unterschiedlichen Sanktionssystem zusammen, vor allem aber damit, dass in den meisten Staaten Europas eine im Weltmaßstab sehr weitreichende Religionsfreiheit herrscht. Die europäischen Verfassungen garantieren wie die Europäische Menschenrechtskonvention in Art. 9 die Rahmenbedingungen für die Einhaltung der religiösen Gebote. Kein Muslim wird durch staatliche Veranlassung daran gehindert, z.B. die "fünf Säulen" des Islam (Glaubensbekenntnis, rituelle Gebete, Fasten im Monat Ramadan, Almosengabe und Pilgerfahrt nach Mekka für Vermögende) zu beachten; grundsätzlich steht auch die gleichberechtigte Errichtung einer religiösen Infrastruktur (z. B. Moscheebau) offen. Aus solcher Sicht werden Normen der Scharia in Europa täglich massenhaft angewandt.

Dass der Religionsfreiheit wie allen anderen Menschenrechten äußere Grenzen durch überwiegende Interessen anderer gesetzt sind, ist eine Selbstverständlichkeit. Dies gilt insbesondere dort, wo die religiöse Betätigung auf die Umwelt einwirkt. Das Recht, ein Gebetshaus zu errichten, berechtigt z.B. nicht zur Ausführung sicherheitsgefährdender Konstruktionen; die Bekenntnisfreiheit rechtfertigt keine religiöse Indoktrination von Schülern. Gegenwärtige Streitfälle sind beispielsweise die bauliche Gestaltung von Moscheen, der lautstärkerverstärkte Gebetsruf, das Tragen von Kopftüchern in Ausübung öffentlicher Ämter, die islamkonforme Bestattung, das islamkonforme Schächten von Tieren und manches mehr. Die unterschiedliche rechtliche Distanz zwischen Staat und religiösem Handeln im öffentlichen Raum, wie sie für Europa charakteristisch ist, wird hier im einzelnen zu unterschiedlichen Ergebnissen in einzelnen Fällen führen. So war das freiwillige Kopftuchtragen muslimischer Schülerinnen für das englische Staatskirchensystem wie auch für die deutsche "positive Neutralität" des Staats gegenüber der Religionsausübung anders als in vergleichsweise streng laizistischen Ordnungen wie Frankreich nie ein Problem.

An dieser Stelle kann nur angedeutet werden, dass das Recht trotz solcher Unterschiede insgesamt in aller Regel ausgewogene Lösungen bereithält, die den Bedürfnissen der Muslime ebenso entgegenkommen wie denen der nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft. Die Bedürfnisse sind auch von Land zu Land zum Teil durchaus verschieden, was vor allem mit unterschiedlich intensiven Bindungen an das (islamisch geprägte) Herkunftsland, der spezifischen Ausprägung des Islam in den jeweiligen Herkunftsländern und nicht zuletzt mit Unterschieden im Bildungsstand zu erklären ist.

Manche Lösungen lassen sich allerdings viel eher durch Kompromisse im außerrechtlichen Bereich finden: ein Rechtsstreit um den Moscheebau wird wenig zu dauerhafter Befriedung beitragen können, wie auch immer er ausgeht. So zeigen Erfahrungen aus verschiedenen europäischen Staaten, dass die Bereitschaft zum offenen Umgang auf muslimischer und nicht-muslimischer Seite in der Regel wichtiger ist als das rechtliche Rahmenwerk. Eine schiere Selbstverständlichkeit schließlich ist die Feststellung, dass die Grenzen der Rechtsordnung auch nicht unter Berufung auf religiöse Überzeugungen überschritten werden dürfen. Wer dies nicht respektiert, kann sich nicht auf den Schutz der Religionsfreiheit berufen. Rechtsfeindliche Extremisten müssen mit allen dem Rechtsstaat zu Gebote stehenden Mitteln bekämpft werden. Hierbei ist jedoch von besonderer Bedeutung, dass gerade auch schariatreue Muslime nach der Scharia selbst verpflichtet sind, die Gesetze ihrer Aufenthaltsstaaten zu achten. Dies hat etwa der Zentralrat der Muslime in Deutschland in Art. 11 seiner "Islamischen Charta" vom 20. Februar 2002 festgestellt. Andererseits gibt es auch ein Informationsbedürfnis auf Seiten erheblicher Teile der Mehrheitsgesellschaft: Die Religionsfreiheit säkularer Rechtsstaaten schützt Mehrheit und Minderheiten im Grundsatz gleichermaßen. Generelle Initiativen zur Verhinderung z.B. von Moscheebauten lassen insofern ein mehr als fragwürdiges Verständnis von europäischer Menschenrechtskultur erkennen.


3. Die formelle Anwendung rechtlicher Vorschriften kann auf vier unterschiedlichen Ebenen erfolgen. Gemeinsam ist diesen Ebenen jedoch wie erwähnt, dass der jeweilige Gesetzgeber des Aufenthaltslandes sich ein Letztentscheidungsrecht darüber vorbehält, ob und in welchem Umfang "fremde" Rechtsvorschriften zur Anwendung gelangen können. Die Entscheidung über die Anwendung (und ggf. Durchsetzung!) von Rechtsvorschriften erfolgt durch staatliches hoheitliches Handeln. Insoweit gilt ein strenges Territorialitätsprinzip, dem jeder Anwesende gleichermaßen unterliegt.

In denjenigen Bereichen, die primär die Beziehungen zwischen Staat und Bürger regeln (öffentliches Recht einschließlich des Strafrechts) kommt die Anwendung fremder Normen bis auf marginale Bereiche nicht in Betracht. Die zugrunde liegenden Interessenabwägungen trifft alleine der territoriale Gesetzgeber, der den Rechtsfrieden sichern muss. Also: Traditionelles islamisches Strafrecht oder Staatsverfassungsrecht hat hier keinen Platz.

Religiöse Normen, die mit strafrechtlich geschützten Gütern kollidieren, können nur dann berücksichtigt werden, wenn ihre Auswirkungen geringfügig sind und den Bereich des Sozialadäquaten nicht überschreiten.

Dies gilt etwa für die in Islam und Judentum übliche Beschneidung von Knaben. Voraussetzung ist eine fachgerechte Ausführung und die wirksame Einwilligung des/der Sorgeberechtigten bzw. je nach Erkenntnisfähigkeit des Betroffenen selbst. Die Einräumung eines weitergehenden "Kulturprivilegs" über Bagatellfälle hinaus wäre mit dem Grundgedanken des Strafrechts unvereinbar. Gewiss mag die verfassungsrechtlich verankerte Schuldorientierung des Strafrechts den Gedanken aufkommen lassen, dass in bestimmten kulturellen oder religiösen Milieus "akzeptierte" kriminelle Verhaltensweisen das Täterverschulden in milderem Licht erscheinen lassen. Einzelne Entscheidungen - nicht nur im Hinblick auf Muslime/Orientalen, sondern auch auf Italiener oder Osteuropäer lassen in der Tat eine solche Sicht erkennen.

Dies kollidiert jedoch unweigerlich mit der genannten Funktion des Strafrechts. Die Parallelproblematik der Strafbarkeit von Gesinnungstätern ist hierfür ein Beleg: Auch sie genießen nicht etwa aufgrund ihrer Rechtsblindheit Straffreiheit. Zudem unterstellt ein strafrechtlicher Religions- oder Kulturvorbehalt homogene Überzeugungen dahingehend, dass Verbrechen wie sog. "Ehrenmorde" in bestimmten Bevölkerungskreisen durchweg auf Verständnis stießen. Dies ist jedoch evident unrichtig: Auch in Staaten, in denen derartiges noch häufiger vorkommt, zeigt sich erbitterter Widerstand gegen strafrechtliche Privilegien für die Täter, übrigens nicht zuletzt auch von Seiten gläubiger Muslime. Die in der türkischen Presse seit längerem geführte Debatte über häusliche Gewalt zeigt sehr deutliche Tendenzen auf Eine abweichende Auffassung würde schließlich auch ganze Bevölkerungsteile zu potentiellen Opfern minderen Schutzes degradieren. In Deutschland hat denn auch der Bundesgerichtshof derartige Entscheidungen korrigiert.

Andererseits kann das Strafrecht bei besonders schweren Straftaten in Ausnahmefällen auch grenzüberschreitenden Schutz gegen z. T. religiös begründete Delikte entfalten. So hat beispielsweise das spanische Parlament jüngst ein Gesetz verabschiedet, welches die vor allem in einigen Teilen Afrikas praktizierte, äußerst brutale Verstümmelung weiblicher Genitalien auch dann unter Strafe stellt, wenn etwa Eltern ihre Kinder zur Vornahme der Verstümmelung ins Ausland verbringen und dann wieder zurückkehren.

Diese Prozedur ist im übrigen kein Gebot des Islam, wenngleich sie in einigen islamisch geprägten Ländern insbesondere im östlichen Afrika praktiziert und teilweise auch religiös begründet wird. Die vorislamische Herkunft zeigt sich schon daran, dass sie auch unter den koptischen Christen Ägyptens verbreitet ist.


Eine mögliche Anwendungsebene ist die des sog. Internationalen Privatrechts. Keine Rechtsordnung der Gegenwart beansprucht für sich uneingeschränkte territoriale Geltung. Im Bereich des Bürgerlichen Rechts, das im Wesentlichen die Rechtsbeziehungen zwischen Privatpersonen regelt, steht das Wohl dieser Personen im Vordergrund. Hat jemand sein Leben auf die Gegebenheiten einer bestimmten Rechtsordnung ausgerichtet, so verdient diese Lebensplanung auch dann Schutz, wenn der Betreffende seinen Aufenthalt wechselt. Demnach muss das vertraute "Heimatrecht" auch nach Grenzübertritt fortgelten. Andererseits liegt es im Interesse der Rechtsgemeinschaft, dass in bestimmten Angelegenheiten dasselbe Recht für jeden im Lande Befindlichen gilt. Die Frage, ob inländisches oder ausländisches Sachrecht anzuwenden ist, richtet sich nach den Vorschriften des Internationalen Privatrechts (Kollisionsrechts). Diese Vorschriften treffen eine Abwägung zwischen den eben skizzierten Interessen. Im Bereich des Familien- und Erbrechts ist häufig das Heimatrecht Beteiligter anzuwenden, wobei die "Heimat" nach vielen europäischen Rechtsordnungen nicht immer passend durch die Staatsangehörigkeit definiert wird. Sofern dieses Heimatrecht von scharia-rechtlichen Vorschriften geprägt ist, wie es für die meisten islamisch geprägten Staaten gilt, kommt es also zur Anwendung auch in Europa.

Aus der Anwendbarkeit islam-rechtlich geprägter Rechtsregeln auf einer solchen Grundlage können Rechtsprobleme entstehen, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des geltenden Rechts offensichtlich unvereinbar ist. In diesen Fällen wird dann doch meist "einheimisches" Sachrecht angewendet (Eingreifen des sogenannten "ordre public"). Die Grenzziehung erfolgt nach Abwägung zwischen dem Interesse an Einheitlichkeit zur Sicherung allgemeinen Rechtsfriedens und dem Interesse an privatautonomer Freiheit und Vielfalt. Sie muss und wird in einem den Menschenrechten verpflichteten Gemeinwesen im Kernbereich statisch bleiben.

Bei weniger gewichtigen Anliegen mögen gesellschaftliche Anschauungen im Laufe der Zeiten zu unterschiedlichen Akzentsetzungen gelangen. Man denke hier nur an die rasant gewandelten Haltungen zu Formen nichtehelicher und gleichgeschlechtlicher Partnerschaften oder zur Ehescheidung. Damit sind Vorschriften des traditionellen islamischen Rechts, die im Gegensatz zur Gleichberechtigung der Geschlechter und Religionen stehen, im Grunde nur noch dann anwendbar, wenn sie entweder im konkreten Fall zu einem vergleichbaren Ergebnis führen wie die entsprechenden Vorschriften europäischer Rechtsordnungen, oder wenn das Ergebnis dem eigentlich Benachteiligten im konkreten Fall nützt (z.B. der im Ausland rechtsgültig verheirateten Zweitfrau im Hinblick auf Unterhalts- und Erbansprüche gegen den Ehemann). Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass auch in vielen islamischen Staaten Reformen erkämpft werden, welche die Ungleichbehandlung der Geschlechter und Religionen aufheben oder mindestens eindämmen sollen.


Eine weitere mögliche Anwendungsebene ergibt sich, wenn der Gesetzgeber die Anwendung gruppenspezifischer Vorschriften zulässt. Spanien beispielsweise hat in seinem neuen Personenstandsrecht die islamische Form der Eheschließung als Option anerkannt; für die erforderliche Rechtssicherheit sorgen zwingende Vorschriften über die Registrierung. England hat - für alle Interessierten unabhängig von ihrer Religion - eine Form der Adoption mit auf die Kleinfamilie beschränkter Wirkung eingeführt, die ebenfalls den Anforderungen traditionellen islamischen Familienrechts entspricht. Vergleichbares gilt für dortige steuerrechtliche Änderungen, die eine Immobilienfinanzierung auf der Basis traditioneller islamischer Wirtschaftsvorschriften ermöglicht. Insgesamt ist allerdings die Etablierung religiös orientierter Parallelordnungen in Europa aus vielerlei Gründen über solche eher marginalen Fälle hinaus weder üblich noch wünschenswert.


Ein weiter Anwendungsbereich eröffnet sich im Rahmen des sog. "dispositiven", also der individuellen Gestaltung zugänglichen Rechts. Solche Gestaltungsmöglichkeiten werden insbesondere im Bereich des Bürgerlichen Rechts eröffnet, in dem es in weiten Teilen um die eigenverantwortliche Gestaltung privater Rechtsbeziehungen geht. Derartige Ansätze sind in Europa bereits erkennbar, so im Bereich der Gestaltung von Eheverträgen, des Erbrechts oder des Wirtschaftsrechts. Beispielsweise werden mittlerweile Geldanlageformen angeboten, welche nicht gegen das islamische Verbot des "riba" ("Wucher"; z.T. als generelles Zinsnahmeverbot ausgelegt) verstoßen. Der Wirtschaftsverkehr hat bereits auf die Bedürfnisse wirtschaftsrechtlich traditionell denkender Muslime reagiert. So haben z.B. deutsche und Schweizer Banken "islamische" Aktienfonds zur Geldanlage aufgelegt, bei denen eine Beteiligung an solchen Unternehmen ausgeschlossen wird, die das Geschäft mit Glücksspiel, Alkohol, Tabak, verzinslichem Kredit, Versicherungen oder religiös illegitimer Sexualität zum Gegenstand haben. Sie können der Konkurrenz wie auch der Finanzkrise offenbar durchaus standhalten.


Ein letzter Bereich ist die Durchführung außergerichtlicher Streitschlichtungsverfahren in privaten Rechtsbeziehungen. Soweit hierbei Normen der Scharia berücksichtigt werden, geschieht dies meist inoffiziell, weil die wichtigsten Anwendungsbereiche (Familien- und Erbrecht) staatlich anerkannten Schlichtungsverfahren entzogen sind. Nur im Vereinigten Königreich lässt das Schiedsverfahrensrecht anderes zu. So sind Fälle bekannt, in denen muslimische Beteiligte zum Beispiel Eheschließungen oder Ehescheidungen ausschließlich nach traditionell-islamischen Normen vorgenommen haben. Die Gründe sind sehr unterschiedlich: Einzelne versuchen, damit eine religiöse Parallelstruktur zu errichten, weil sie sich nicht den Institutionen eines säkularen nicht-islamischen Staats unterwerfen wollen. Andere möchten damit die Anerkennung in ihren Herkunftsländern erreichen, die europäische staatliche Akte nicht anerkennen. Wieder andere sehen hierin die einzige Möglichkeit, ihre Beziehungen zu "legalisieren", wenn sich beispielsweise die für eine staatliche Eheschließung notwendigen Papiere im Herkunftsland nicht beschaffen lassen, wie etwa gegenwärtig in weiten Teilen des Irak. Gelegentlich herrscht schlicht Unwissenheit über die rechtlichen Anforderungen im Aufenthaltsland. Manche Beteiligten folgen schlicht dem ihnen aus dem Herkunftsland vertrauten System, ohne zu wissen, dass daraus im Aufenthaltsland keine rechtlichen Wirkungen entstehen. Schließlich mag zuweilen eine kulturell bedingte Scheu vor der Inanspruchnahme staatlicher Instanzen bestehen, denen man nicht die nötige Sensitivität für die Lebensverhältnisse der Betroffenen zutraut.

Solche informellen Akte entfalten möglicherweise Rechtswirkungen im Geltungsbereich islamisch geprägter ausländischer Rechtsordnungen, nicht jedoch im Inland. Sie können aber soziale Bindungswirkungen insbesondere bei Personen erzeugen, die sich nicht der Mitwirkung staatlicher Institutionen bedienen können oder wollen. Gerichte sind dann in der Regel nicht bereit, Rechtsbeziehungen für beendet zu erklären, die nach geltendem Recht schon nicht wirksam zustandegekommen sind. Im Vereinigten Königreich arbeiten schon seit längerem inoffizielle Instanzen (Sharia Councils) in diesem Bereich. Allerdings sind die Bedenken gegenüber einer quasi-staatlichen Rolle solcher Instanzen nicht von der Hand zu weisen. Ihre Entscheidungen scheinen zwar innerhalb des islamischen Spektrums einen eher reformorientierten Kurs widerzuspiegeln. Es bleibt jedoch bei der grundsätzlichen Ungleichbehandlung der Geschlechter und Religionen, meist zum Nachteil von Frauen. Letztlich werden den Betroffenen dadurch Rechte vorenthalten, die nach dem Willen des Souveräns jedem zustehen sollten. Insofern bleiben derartige Mechanismen auch keine reine Privatangelegenheit, auch wenn viele Migranten dies entsprechend ihrer Herkunftskultur so sehen. Das gilt erst recht dann, wenn entsprechender sozialer Druck aufgebaut wird und diejenigen, die ihre staatlich garantierten Rechte durchsetzen möchten, als "schlechte Mitglieder" der Religionsgemeinschaft gebrandmarkt werden, wofür es Beispiele aus Kanada gibt. Deshalb führt es nicht weiter, sich in Debatten darüber zu verlieren, ob ein noch zu entwickelndes, mit den verfassungsrechtlich verbürgten Grundrechten kompatibles islamisches Recht eine unbedenkliche Grundlage für eine institutionelle außergerichtliche Streitbeilegung sein könnte. Überall dort, wo solche Initiativen zu beobachten sind, gehen sie von Personen aus, die einem moderat bis extrem-traditionalistischen Spektrum zuzuordnen sind, womit die grundlegenden Bewertungswidersprüche zum staatlichen Recht verbleiben.


Prof. Dr. Mathias Rohe. M.A., Direktor des Erlanger Zentrums für Islam und Recht in Europa. Weiterführende Werke des Verfassers: Das islamische Recht: Geschichte und Gegenwart, München 2009; Muslims and the Law in Europe - Chances and Challenges, New Delhi 2007; Der Islam - Alltagskonflikte und Lösungen. Rechtliche Perspektiven, 2. Auflage Freiburg 2001.


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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 57, Frühling 2009

Gastkommentar
- Das Ende des falschen Friedensprozesses wäre nicht das Schlechteste

Scharia
Scharia in Europa
Schariagemäße letztwillige Verfügungen in Deutschland?
Scharia Jet Set: Islamic Banking -
Aufstieg der neuen Rechtsgelehrten
Zum Verhältnis von religiösem und weltlichem Recht im heutigen Ägypten
Maqasid al-Scharia als religiöses Reformkonzept
Das afghanische Recht zwischen Staat, Scharia und Gewohnheitsrecht
Die rechtliche Kontroverse über die Organtransplantation in Ägypten
Middle East Law and Governance -
ein neues interdisziplinäres Journal

Salafismus
- Zurück zum Quellcode: Salafistische Wissenspraktiken im Internet

Gaza 2009
"Löscht alle Wilden aus!"
Hintergründe des Krieges im Gazastreifen
Heuchelei der 'zivilisierten' Welt
Zum Angriff auf die UN-Schulen in Gaza
Israel im Propagandakrieg
Schwarzer Januar
Der böse, böse Nachbar
Gaza-Krieg und die Palästinenserfrage
Gaza on my mind - Persönliche Reflexion
Völkerrecht und Israels Krieg gegen Gaza Ramattans war: The world's eyes on Gaza

Palästina: Fatah und Hamas
Hussam Khader - "Ich bemühe mich um einen echten Dialog zwischen Fatah und Hamas"

Wirtschaftskommentar
- Ibrahim Haddad - eine unternehmerische Erfolgsstory

Zeitensprung
- 1979-2009 Islamische Republik Iran: Birthday, but Happy?

Ex Libris
- Sharia en nationaal recht in zwaalf moslimlanden
 Israel im Nahen Osten, Eine Einführung

Nachrichten//Ticker//


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Quelle:
INAMO Nr. 57, Jahrgang 15, Frühling 2009, Seite 4 - 7
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. April 2009