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BERICHT/081: Das sanfte Antlitz des Islam (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2010

Das sanfte Antlitz des Islam

Von Katajun Amirpur


Sind Demokratie und Freiheit mit dem Islam vereinbar? Es melden sich zunehmend iranische Stimmen zu Wort, die dies bejahen. Andere mahnen zwar vorab einen Reformislam an, vertreten aber auch eine "demokratieorientierte Deutung". Abseits der offiziellen Linie hat sich im Iran also eine spannende Debatte entwickelt. Hier einige Einblicke.


Schon seit Jahren ergibt sich für den Beobachter das Bild, dass dem iranischen System die Gesellschaft abhanden gekommen ist. 70% aller Iraner sind jünger als 30 Jahre. Sie haben keine Erinnerung mehr an die Revolution, dafür aber die Erfahrung des real existierenden Islamismus gemacht. Und dieser hat in ihren Augen zu mehr Unfreiheit und einem Mehr an Ungerechtigkeit geführt. Eine Folge davon ist, dass immer mehr Menschen der Religion entfliehen. Unabhängigen Umfragen zufolge hat die Islamische Republik die am stärksten säkularisierte Bevölkerung des gesamten Nahen Ostens.

Dass die Religion ihr Ansehen verloren hat, war für viele Geistliche im Iran Anlass, Widerstand zu leisten. In Wort und Schrift erklärten sie, "nicht in meinem Namen" und nicht im Namen der Religion, die ihnen heilig ist. Mohammad Mojtahed Shabestari beispielsweise hat aus Protest sogar seinen Turban abgelegt und erklärt: "Mir passt in dieser Islamischen Republik kein Turban mehr."

Und im Interview mit dem Berliner Tagesspiegel sagt Shabestari pointiert: "Die richtige Frage ist nicht: Sind Islam und Demokratie vereinbar oder nicht? Die Frage ist: Sind die Muslime heute bereit, diese Vereinbarkeit entstehen zu lassen?"


Gerechtigkeit als wichtigstes Kriterium

Shabestari deutet die koranische Intention: Er meint, der Koran gebe nur vor, dass die politisch-gesellschaftliche Ordnung gerecht sein soll, mehr nicht. Ziel und Absicht des Korans sowie der prophetischen Sendung sei die Gerechtigkeit. Deshalb ist es das wichtigste Kriterium von Herrschaft, dass sie gerecht sein muss. Darüber hinaus solle man keine detaillierten Regelungen im Koran suchen, schreibt Shabestari. Aus den allgemeinen Aussagen über ethische Prinzipien, die er enthält, könne man keine Staatsphilosophie ableiten. Auch das Argument, man müsse versuchen, der Blütezeit des Islams nachzueifern, lehnt Shabestari mit Verweis auf die veränderten Umstände ab: Islam sei nicht gleich Politik, und ein Staat, der die islamischen Gesetze anwende, sei auch nicht notwendigerweise islamisch. Aus der Tatsache, dass der Prophet auch Staatsmann war, könne man keine allgemeine Handlungsanweisung ableiten. Sie war ein historischer Zufall, sagt Shabestari. Damit stellt er den Anspruch der Islamischen Republik Iran auf die Weiterführung bzw. die Vervollkommnung der politischen Ordnung des Propheten infrage.

Und weil der Koran kein konkretes System vorgeschlagen hat, so Shabestari, dürfen die Menschen selbst entscheiden, in welcher Ordnung sie leben wollen und in welcher Ordnung auch der Islam am besten verwirklicht wird. Shabestari plädiert für die demokratische Herrschaftsform, da diese ihren Bürgern alle Freiheiten lässt, denn Glaube sei schließlich keine Ideologie. Vieles spricht laut Shabestari für die Demokratie, sein wichtigstes Argument aber ist, dass nur ein Glaube, zu dem man in Freiheit findet, ein wahrhafter und gottgefälliger Glaube ist. Zudem würde in der Demokratie das Prinzip der Freiheit, die auch gottgewollt ist, am besten verwirklicht. Deshalb spricht Shabestari sich gegen Zensur und Gewalt in Imân va âzâdi (Glaube und Freiheit, Teheran 1997) mit den Worten aus: "Aus der Logik des Glaubens folgt, dass die Gläubigen die Etablierung einer politischen und gesellschaftlichen Ordnung (...) fordern müssen, in der sie besser kundig und frei ihren Glauben ausüben können (...). Eine solche Gesellschaft wird mit Sicherheit keine unterdrückerische und totalitäre Gesellschaft sein".

Shabestari setzt also auf Freiheit und Freiwilligkeit. Menschen zur Beachtung der religiösen Gesetze und somit zur Religiosität zu zwingen, macht seiner Meinung nach wenig Sinn. Damit steht Shabestari im Gegensatz zur herrschenden iranischen Doktrin, die sich aufgerufen fühlt, das Gute zu gebieten und das Böse zu verbieten und die Menschen notfalls auch mit Zwang dazu zu bringen, die religiösen Gesetze zu beachten.

Ganz ähnlich für die Freiheit argumentiert Mohsen Kadivar. Er lebt zurzeit in den USA: Kadivars Hauptthese, die sicherlich der Aussage Recht gibt, er sei ein post-islamistischer Intellektueller, könnte man folgendermaßen zusammenfassen: Die Menschen erwarteten zwar, dass ihnen die Religion generelle Prinzipien und Werte an die Hand gebe, aber die praktischen Angelegenheiten gehörten eher in den Bereich der so genannten "menschlichen Erfahrungen", eine Formulierung, die ein Code sein dürfte für "säkulare Normen". Deshalb würden, so Kadivar, in unterschiedlichen geschichtlichen Perioden unterschiedliche politische und ökonomische Systeme gebraucht.


Nicht in Ketten ins Paradies

Kadivar selbst propagiert ein religiöses System, in dem der Herrscher auf Zeit vom Volk gewählt wird und auch nicht unbedingt ein islamischer Rechtsgelehrter sein muss. Ein solches System sei aber nur unter der Bedingung möglich, dass das Volk gläubig ist und freiwillig die Gebote der Religion befolgen möchte. Wenn der Wille des Volkes und die Religion in Konflikt gerieten, sei die Stimme des Volkes wichtiger: "Das Volk kann nicht in Ketten ins Paradies geschleppt werden."

Laut Kadivar ist zwar der traditionelle Islam nicht mit der Demokratie vereinbar, der von ihm propagierte Reformislam hingegen schon. Seine eigentliche Lösung für die Frage nach der Religiosität des Muslims in der modernen Welt ist der von ihm so genannte "spirituelle Islam". Dieser Ansatz ermöglicht es ihm, an einem Islam festzuhalten, der nach wie vor islamisch ist und nicht aller Inhalte entleert.

Ähnlich kritisch ist Hasan Yusefi Eshkevari, der momentan in Italien lebt. Wesentlichstes wissenschaftliches Anliegen von Eshkevari ist es, den Koran so auszulegen, dass er zu den Menschenrechten nicht im Widerspruch steht. Eshkevari bejaht die Frage, ob das möglich sei, ohne Einschränkung, und er gilt mir als der bedeutendste heute lebende Vertreter einer exegetischen Richtung, die ich die "demokratieorientierte Deutung" des Korans nennen möchte. Für seine Argumentation und Methode der Korandeutung ist besonders der Kontext interessant, in dem eine Sure entstanden ist. Nach genauer Analyse dieses Kontexts gelangt er zu einer Deutung des Korans, die in keinerlei Widerspruch zu den Menschenrechten steht.


Die Sure und ihr historischer Kontext

Ein Beispiel: "Und kämpft gegen sie, bis niemand mehr versucht, Gläubige zum Abfall vom Islam zu verführen, und bis nur noch Gott verehrt wird", heißt es im Koran (2:193) eine Sure, die durchaus kämpferisch klingt und so interpretiert werden könnte, als hätten Muslime die Pflicht, gegen die Ungläubigen zu kämpfen und alle zum Islam zu bekehren. Eshkevari argumentiert hingegen, dass sich diese Sure ausschließlich auf ein bestimmtes historisches Ereignis beziehe, nämlich auf den Friedensvertrag von Hudaybîya aus dem Jahre 628, den so genannten sulh al-hudaybîya, und die darauf folgenden Ereignisse. Im Jahre 630 brach der Prophet Muhammad diesen Waffenstillstand, den er selbst zwei Jahre zuvor geschlossen hatte, und marschierte in Mekka ein. Laut Eshkevari gehe es in der Sure nur um diese konkrete politische Situation: Die heidnischen Mekkaner sollten bekämpft werden, weil sie sich zuvor an der Gemeinde des Propheten versündigt hatten. Sie hatten seine Anhänger vertrieben und ihn selbst töten wollen, und deshalb wurde Muhammad angewiesen, diese Ungläubigen zu bekämpfen. Aber folglich müssten nicht bis in unsere Zeit hinein alle Menschen bekämpft werden, bis sie den einen Gott verehren. Nach diesem Muster interpretiert Eshkevari alle Verse des Korans in demokratietaugliche Aussagen um und ist somit sicher als ein Vertreter eines anspruchsvollen Demokratiebegriffes zu bezeichnen.

Diese Argumentation ist nicht apologetisch, und sie ist auch nicht modern und westlich inspiriert, was im iranischen Kontext oft als Stigma gilt. Eshkevari wendet hier eine Methode an, die es in der Islamwissenschaft bereits seit Jahrhunderten gibt. Ein ganzer Zweig der Islamwissenschaft beschäftigt sich mit den so genannten "Gründen für die Offenbarung" (asbâb an-nuzûl). Auch die klassische Islamwissenschaft ging also von einer dialektischen Beziehung zwischen Text und Adressat aus und forschte nach dem Kontext, in den hinein ein Vers offenbart wurde, um seinen Sinn und seinen Wirkungsbereich besser erfassen zu können. Und Eshkevari folgt einem Credo des ersten Imams der Schia, Ali, der zur Deutbarkeit des Korans gesagt hat: "Der Koran ist eine Schrift zwischen zwei Buchdeckeln, die nicht spricht. Es sind die Menschen, die zu ihr sprechen".

Kurzgefasst vertritt auch Eshkevari die Meinung, dass der Islam als Religion kein spezifisches politisches System vorschreibe, dass das Politische immer säkular sei und dass die Regierung des Propheten in Medina, die so oft von Islamisten als der Prototyp eines islamischen Staates gepriesen wird, in Wahrheit ein säkularer Staat gewesen sei. Daraus kann geschlossen werden, dass eine säkulare Herrschaftsform wie die Demokratie dem Islam durchaus entspricht. Und nicht nur das: der Islam steht nicht nur nicht zur Demokratie im Widerspruch: Eine wahrhaft islamische Regierung kann gar nicht anders als demokratisch sein.

Ihre Sorge, dass die Religion ihr Ansehen verliert, ließ die drei hier vorgestellten Denker also eine Lesart des Islams entwickeln, die der offiziellen Irans entgegen steht und in der der Islam sein sanftes Antlitz zeigt. Dies ist damit gemeint, wenn wir sagen, dass sie unterwegs sind zu einem anderen Islam. Denn die Theokratie in Iran hat nicht nur die Gesellschaft verloren, sondern inzwischen auch ihre Theologen.


Katajun Amirpur (* 1971) ist Professorin für Islamwissenschaften an der Universität Zürich. Bei Herder erschien im letzten Jahr: Unterwegs zu einem anderen Islam: Texte iranischer Denker.
KatajunAmirpur@access.uzh.ch


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2010, S. 11-14
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juli 2010