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FRAGEN/019: Identitätsbildung junger Musliminnen und Muslime in Deutschland (spw)


spw - Ausgabe 6/2016 - Heft 217
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Identitätsbildung junger Musliminnen und Muslime in Deutschland

Ein Gespräch mit Armina Omerika von Thilo Scholle


In den letzten Jahren wurde die Beschäftigung mit dem Islam und mit islamischer Theologie an einigen Universitäten in Deutschland ausgebaut. In diesem Kontext ist auch das "Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam" an der Universität Frankfurt am Main entstanden. Leitbild des Instituts ist es, islamische Theologie als Wissenschaft zu betreiben. Forschung wird zudem u.a. auch zu Fragen der gesellschaftlichen Situation von Musliminnen und Muslimen in Deutschland betrieben. Dazu sprach Thilo Scholle von der spw-Redaktion mit Armina Omerika, Juniorprofessorin am Institut.


Thilo Scholle: Welche Faktoren sind für die Entwicklung einer religiösen Identität junger Musliminnen und Muslime in Deutschland von Bedeutung?

Armina Omerika: Hierbei spielen viele Faktoren eine Rolle, die man dann jeweils in Bezug zu der persönlichen Situation der Jugendlichen, zur personalen Identitätsebene, setzen muss. Neue Forschungen aus dem Bereich der Religionspädagogik, aber auch anderen Disziplinen zeigen, dass bei der religiösen Selbstverortung von Jugendlichen sowohl der Grad und die Ausgestaltung von Islamizität unterschiedlich ausfallen können, als auch, dass es verschiedene Formen von Gottesbezügen gibt, die dann zu Unterschieden in der Artikulation der religiösen Identität und damit auch unterschiedlichen Positionierungen gegenüber der Umwelt führen.

Gerade vor dem Hintergrund der Hybridisierung von Identitäten, wie sie ja auch für Muslime in Deutschland nachgewiesen ist, wäre es in jedem Falle fatal, die Identität von muslimischen Jugendlichen als essentialistisch oder statisch aufzufassen oder die jeweiligen Kontexte der Identitätsbildung unberücksichtigt zu lassen. Wenn ich einige Faktoren nenne, dann müssen wir im Hinterkopf behalten, dass viele Faktoren, die sich gerade auf der individuellen Ebene auswirken und zur Persönlichkeitsbildung beitragen, hier nicht einmal erwähnt werden können, wie persönliche Biographien, Lebenserfahrungen, Milieuzugehörigkeit, familiale Eingebundenheit, usw.

Als ein erster Umweltfaktor bei der Entwicklung religiöser Identitäten ist die Einwanderungsgesellschaft zu nennen. In ihr kommt es zu einer dichten Konzentration verschiedener islamischer Traditionen auf einem Raum. Selbst wenn Muslime in Deutschland vorwiegend den ethnischen türkischen Hintergrund haben, ist dies bei weitem nicht ausschließlich der Fall. Durch die gegenwärtigen Fluchtbewegungen aus dem Nahen Osten und Nordafrika wird es sicherlich zu ganz neuen Konstellationen kommen, deren Auswirkungen wir nicht voraussagen können. In einer solchen Migrationssituation wird die innerislamische Pluralität jenseits der aus dem Herkunftskontext bekannten Ausdrucksformen des Islams oft zu erstmalig direkt wahrgenommen. Damit kommt es auch zu Neuaushandlungen von islamischen Traditionen und, wenn Sie so wollen, zu einer Neudefinition von Islamizität. Diese Veränderungen finden gleichzeitig in einem größeren Rahmen statt, in dem die Einwanderungsgesellschaft und die mit ihr bedingten Transformationen auch zu anderen Identitätsdebatten im Land führen, z.B. zu Neuaushandlungen dessen, was mittlerweile die deutsche nationale Identität ist und woraus sie besteht.

Der rechtsstaatliche Rahmen Deutschlands und die gesellschaftlichen Diskussionen hierzulande wirken sich noch anders aus: Die Bedingungen der Religionsfreiheit und einer offenen Gesellschaft und Debattenkultur beeinflussen auch die Debatten unter Muslimen, und auch das hat Auswirkungen auf die Wahrnehmung der eigenen Religion unter jungen Muslimen: Etablierte soziale Hierarchien in den Gemeinschaften ändern sich - zwar langsam, aber dennoch stetig, zumindest wird der Bedarf danach artikuliert. Auch Fragen wie Geschlechterbeziehungen und -hierarchien, Fragen von persönlicher Freiheit und Autonomie etc. werden neu ausgehandelt und in Bezug gesetzt zur religiösen Legitimation.

Ein weiterer wichtiger Faktor ist der Generationenwechsel. Jugendliche Musliminnen und Muslime haben eine andere Art der Sozialisierung als ihre Eltern durchlaufen und sie stecken in anderen Lebenswelten, in anderen kulturellen Referenzsystemen. Sie verfügen auch über andere Bildungsvoraussetzungen, was sich in komplett anderen Diskursen über den Islam und die eigene Islamizität niederschlägt, als dies bei den Generationen ihrer Eltern der Fall war.

Die Verstehensbedingungen der heutigen jungen Musliminnen und Muslime, die wie alle anderen Kinder ihrer Zeit sind, sind entsprechend anders als bei den ersten Generationen von Muslimen in Deutschland. Die Wahrscheinlichkeit, dass junge Muslime in Deutschland von Kant, Rousseau oder Habermas gehört haben, und sie sogar gelesen haben, ist viel höher, als dass sie Ibn Sina oder Ibn Khaldun gelesen haben. Und diese Veränderungen finden in einem Kontext statt, in der islamisch-theologische Wissensbestände - ob klassisch, traditionell oder modern - im Allgemeinen sehr wenig zugänglich sind. Es gibt in Deutschland zwar eine starke und traditionsreiche Disziplin der Islamwissenschaft, die sehr viele Quellen zugänglich gemacht hat, doch dies sind meistens hochakademisierte Diskurse, zu denen Jugendliche keinen Zugang haben. In den Moscheen andererseits konzentriert man sich auf die Vermittlung von religiöser Praxis. Islamisches Wissen wird naturgemäß selektiv, im Rahmen der eigenen traditionellen Auslegung und unter Bezug auf die in der jeweiligen Richtung/Gemeinschaft dominanten islamischen Autoritäten vermittelt - aber eben nicht in einer umfassenden Gesamtperspektive. Hinzu kommt, dass der selbstverständliche reflexiv-kritische Umgang mit der eigenen Religion, der etwa in einem schulischen Religionsunterricht vermittelt wird, im Falle des Islams weitgehend noch nicht vorhanden ist. Ganz zu schweigen davon, dass sich eine Religionspädagogik mit Fokus auf dem Islam noch erst richtig etablieren muss, samt der entsprechenden Methodologie und pädagogischer Aufarbeitung des religiösen Lernens unter jungen Musliminnen und Muslimen.

Hier wäre noch ein weiterer, nicht zu unterschätzender Faktor zu nennen: Islam, islamische Geschichte und islamisches Wissen werden auch den muslimischen Jugendlichen in Deutschland als Teil einer fremden Welt, oder zumindest als kein Teil der "eigenen" Geschichte und Kultur vermittelt. Im Schulunterricht herrschen diesbezüglich immer noch starke Narrative über getrennte Kulturen und Entwicklungsgeschichten vor, historische Verflechtungszusammenhänge und transnationale Austauschprozesse im Laufe der Geschichte werden dabei kaum thematisiert; die immer noch dominante nationalbezogene Rahmung der Geschichtsvermittlung schließt den Islam und die islamische Welt (ebenso wie viele anderen Teile der Welt) nicht als einen Teil von etwas "Eigenem" ein, sondern vermittelt Informationen darüber unter "ferner liefen". Die Konsequenz bei jungen Muslimen ist dabei häufig Konfusion, Verwirrung - oder eben auch eine von vorneherein konflikthafte, zumindest dichotome Wahrnehmung des Verhältnisses "Islam vs. Deutschland", "Islam vs. Europa". Hier prallen natürlich Fremdzuschreibungen und -beschreibungen einerseits und die eigene Lebenswelt, das eigene Empfinden und die eigene Wahrnehmung andererseits, stark aufeinander; Jugendliche finden sich so leicht in Widersprüche verwickelt.

Ein weiterer wichtiger Faktor sind neue Formen der religiösen Vergemeinschaftung und Autoritätsbildung. Der religionsrechtliche Kontext Deutschlands führt zu neuen Formen von religiöser Vergemeinschaftung, die in dieser Form eben ein deutsches Phänomen sind. Das bringt eine Gemengelage aus mitgebrachten Traditionen einerseits und neuen Organisationsformen nach den hiesigen Gesetzen und Vorschriften andererseits mit sich, wie z.B. Dachverbände. Gleichzeitig garantieren diese neuen Gemeinschaftsformen, oder erheben zumindest den Anspruch, die islamischen Traditionen und muslimische Identitäten zu wahren. Sie haben sich im letzten Jahrzehnt zu wichtigen Akteuren der religiösen Identitätspolitik unter Muslimen, damit auch unter jungen Muslimen, entwickelt.

Hiermit eng verwandt ist die mittlerweile allgemein bekannte Frage der Repräsentanz der Muslime. Ich will hier nicht auf die Berechtigung der einzelnen Legitimations- und Vertretungsansprüche eingehen, darum geht es mir nicht. Vielmehr geht es um dieses Konstrukt der "Repräsentativität" an sich. Damit ist im Falle der Muslime, anders als bei Angehörigen anderer Religionen, nicht nur Repräsentanz im Sinne des deutschen Religionsrechts gemeint. Vielmehr ist eine umfassende Repräsentativität impliziert, die politische Einstellungen, Normen, Werte, persönliche Lebensentwürfe und Haltungen zu sozialen Fragen einschließt. Sie blendet die kontextuelle, soziale und schließlich auch individuelle Bedingtheit ebendieser Faktoren zugunsten einer deterministischen, und, wenn sie wollen, homogenisierenden Perspektive aus. Wir alle kennen die jahrelangen verzweifelten Bemühungen des Staates, den einen repräsentativen Ansprechpartner für "die Muslime" zu finden. Dies ist etwas, was für viele Muslime hierzulande in ihren Alltagszusammenhängen lange Zeit überhaupt kein Thema gewesen ist - bis der Diskurs sie eingeholt hat. Inzwischen beteiligen sich auch Muslime aktiv an dem Repräsentanz-Diskurs und beziehen Stellung. Die Positionierung in diesem Diskurs ist dabei nicht nur Ergebnis oder Ausdruck von religiösen Identitäten, sondern im Gegenteil: Sie trägt aktiv zu deren Konstituierung bei.


Th. Sch.: Wie wirken sich die öffentlichen Debatten über "den" Islam auf Identitätsbildungsprozesse aus?

A. O.: Diese haben natürlich eine enorme Bedeutung. Muslime rezipieren ja diese Debatten auch, entsprechend wird ihr eigenes Islambild davon mitbeeinflusst. Das kann sich in verschiedene Richtungen auswirken, und tut es auch. Es führt natürlich auch zu Formen von Selbstkritik und Reflexion, die leider nicht oft wahrgenommen werden. Doch insbesondere die islamfeindlichen Haltungen und Debatten führen auch zur Festsetzung von defensiven Haltungen, apologetischen Haltungen, zu automatischen Abwehrpositionen. Mich überrascht das nicht. Eine ganze Generation ist mittlerweile groß geworden in einem Umfeld, in dem das Thema "Islam" sehr stark in der Öffentlichkeit präsent war, von der Politik, von den Medien, durch selbsternannte Experten, aber auch in den Schulen, und zwar meistens selektiv und problemzentriert - und in letzter Zeit natürlich sehr stark in Verbindung mit Gewalt und Terror. Junge Musliminnen und Muslime, die heute volljährig werden, kennen keine andere öffentliche Atmosphäre in Bezug auf den Islam als den problematisierenden und problematischen Islam-Diskurs. Ich kenne viele Fälle, in denen Jugendliche mit einem familialen muslimischen Hintergrund als Zwölf-, Dreizehn-, Vierzehnjährige... in der Schule, oft von Lehrern, vor anderen Schülern mit Fragen zum Zusammenhang von Religion und Gewalt, zu al-Qaida, zur Scharia und Säkularität, zum IS oder zum Terrorkonfrontiert wurden - Die konnten sie natürlich nicht beantworten. Solche Erfahrungen prägen ungemein, gerade in dem Alter. Traumatische Erfahrungen sind hier vorprogrammiert, aber auch eine von außen herbeigeführte Erfahrung von Fremdheit - und auf die Art und Weise kam es oft überhaupt zu einer ersten Identifikation mit dem Islam. Dass im Anschluss ein Rückzug in die "eigene" Gruppe stattfindet, in der man sich nicht mehr erklären und rechtfertigen muss, ist nicht gerade überraschend.

Auch die von mir angesprochenen homogenisierenden Versuche der Politik wirken sich aus: Die Politik hat durch ihre Islampolitik des letzten Jahrzehnts, in der alles miteinander vermischt wurde - religionsrechtliche Fragen, sicherheitspolitische Fragen, Fragen von sozialen und politischen Einstellungen, theologische Positionierungen, Fragen von sozialer und struktureller Integration - erst ein "muslimisches Subjekt" erschaffen, wie der Soziologe Levent Tezcan das bezeichnet hat: eine vermeintlich homogene soziale Gruppe, deren zentrales Merkmal eben ihr Muslimsein war. Und unter Muslimen wurde das angenommen. Viele haben erst auf diese Weise Interesse an ihrer Religion entdeckt, ihre persönliche Identität als Muslime überhaupt erst entwickelt, und ihre soziale Identität stark an den Islam gekoppelt - ein Prozess, der von einigen Forschern als "Islamisierung der Muslime" bezeichnet wurde.

Es gibt noch eine andere Entwicklung, die m. E. starken Anklang vor allem bei jungen Muslimen gefunden hat: die "Verdinglichung" des Islams, wie der Berner Islamwissenschaftler Reinhard Schulze das neulich in der Frankfurter Zeitschrift für islamisch-theologische Studien bezeichnet hat. "Der Islam" sei nicht erst seit gestern, sondern schon länger, als ein "dichter Begriff" festgeschrieben worden. Gemeint ist hiermit das vom britischen Philosophen Bernard Williams geprägte "thick concept", ein Begriff also, mit dem Sachverhalte nicht nur bezeichnet, sondern gleichzeitig auch bewertet werden, und der entsprechend gleichzeitig deskriptive und normative Dimensionen in sich vereint: Der Islam wird normativ aufgeladen, die ihm vermeintlich innewohnenden Vorschriften beschrieben (und zwar meistens aufgrund von klassischer schariarechtlicher Normativität des islamischen Mittelalters, und nicht etwa aufgrund modernen theologischen Denkens) und dann zu einer ontologischen Einheit verdichtet. Entsprechend sind dann solche Sätze wie "Der Islam macht, tut, bestimmt, zeigt...", "Der Islam sagt dies und sagt jenes" möglich. Ein solcher Begriff bestimmt den Muslim oder die Muslima, und deren Verhalten wird in Bezug zu diesen vermeintlichen Vorschriften gesetzt: Stimmen sie ihnen zu oder lehnen sie sie ab? Eine solche dichte Festschreibung findet sich eben auch in muslimischen Diskursen der Gegenwart, insbesondere bei Jugendlichen, die ihre Islamizität entlang genau dieser Muster definieren. In den klassischen Werken der islamischen Gelehrsamkeit aber auch den höchst normativ ausgerichteten, werden Sie solche Sätze wie "Der Islam sagt dies" oder "der Islam sagt/macht/erlaubt das nicht" nie finden. Dieses Konzept und diese Verdinglichung des Islams sind sehr reaktiv, eine Reaktion auf die dichte Festschreibung des Begriffs in den dominanten Erzählungen über den Islam.


Th. Sch.: Gibt es auch Debatten und weitere Einflüsse aus den Herkunftsländern der Eltern, die wahrgenommen und rezipiert werden?

A. O.: Das gibt es natürlich. Das haben vielleicht die Türkei-bezogenen Debatten der letzten Monate, die auch auf sozialen Netzwerken von Jugendlichen mit einem türkischen Bezug, aber auch unter anderen muslimischen Jugendlichen aufgenommen und kommentiert wurden, am stärksten gezeigt. Was dabei aber vergessen wird: Jugendliche haben natürlich andere Formen von Anbindungen an den Herkunftskontext, als dies bei den Generationen ihrer Eltern der Fall war. Das heißt nicht, dass gar keine Anbindungen vorhanden sind, doch handelt es sich um eine neue Qualität von Beziehungen: dies sind weniger direkte, konkret gelebte und erfahrene Beziehungen, oder lebensweltliche Bezüge - von denen wissen sie eigentlich wenig. Dafür sind Zugehörigkeitsgefühle auf der emotionalen, und damit einer abstrakten Ebene, viel stärker. Die Teilnahme an den Kommunikationsprozessen über das Internet beispielsweise, in sozialen Netzwerken etc., begründen hier Diskursgemeinschaften, die auch ohne eine lebensweltliche Einbindung funktionieren, die aber emotionale Bindungen hervorrufen. Und diese emotionalen Anbindungen funktionieren umso mehr, je stärker das Gefühl der Ablehnung im deutschen Kontext ist. Jugendliche nehmen halt die Identifikationsangebote an, die ihnen aktiv unterbreitet werden und in denen sie sich selbst als akzeptiert empfinden, in denen sie sich ernstgenommen fühlen und ihre eigenen Anliegen und Bedürfnisse wiederfinden. Dieses Potential von transstaatlicher Identitätspolitik wurde wohl erkannt, auch von bestimmten Strömungen des politischen Islams im Ausland: Mit ihren eigenen Angeboten stoßen sie in die Lücken der aktiven Identifikationsangebote durch die deutsche Gesellschaft vor.

Solche Einflüsse können bestimmt nicht mit Schuldzuweisungen und weiteren Ausgrenzungsmechanismen unterbunden werden.

In diesem Zusammenhang müssen auch die geo-politischen Konflikte der Gegenwart erwähnt werden, die ja durch die beschleunigte mediale Kommunikation, oder eben durch Migrationen, auch hierzulande ankommen: Die Konflikte zwischen islamischen Ländern, z.B. zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, oder in Syrien, reflektieren sich auch auf die religiöse Identitätsbildung von Muslimen in Deutschland. Sie beeinflussen Gruppenbildung und Diskussionslinien. Durch ideologische Überformungen und bestimmte mediale Vermittlung werden diese äußerst komplexen politischen Konflikte nämlich als Konfessionskriege gerahmt. Dies findet sich auch in Deutschland reflektiert, etwa in einer feindseligen Haltung gegenüber Schiiten durch manche sunnitische Jugendliche, oder umgekehrt. Solchen Formen von religiöser Identitätsbildung muss man zum einen durch das hartnäckige Insistieren auf einen innermuslimischen Dialog begegnen. Aber ich persönlich sehe hier die Rolle der politischen Bildung, und der Bildung im Allgemeinen als ganz zentral an. Ideologisierte Deutungsmuster dieser Konflikte, wie überhaupt von Welt, lassen sich nur durch die Entwicklung von kritischen Kompetenzen vermeiden, und dazu zählen Bildungsangebote in verschiedenen Bereichen.


Th. Sch.: Aus welchen Motivationen, mit welchen Vorstellungen über ihre Religion kommen die Studierenden an die Uni?

A.O.: Das kann man nicht einheitlich beantworten, die Motivationen unserer Studierenden in Frankfurt sind so heterogen wie unsere Studierendenschaft im Allgemeinen. Es ist auf jeden Fall ein sehr großes Interesse an diesem Studiengang vorhanden - allein in diesem akademischen Jahr haben die Einschreibungszahlen unsere Erwartungen ums Dreifache übertroffen: Zusammen mit Studierenden der Religionspädagogik haben wir in diesem Jahr mehr als 200 neue Studierende. Es handelt sich dabei nicht ausschließlich um Muslime, aber die große Mehrheit sind muslimischen Glaubens. Dieser Zulauf reflektiert auf jeden Fall das Bedürfnis unter jungen Menschen, mehr über die Religion des Islams zu erfahren. Und da gerade der Standort Frankfurt dafür bekannt ist, sich innenperspektivisch, aber dennoch kritisch-reflexiv mit der islamischen Wissenstradition auseinander zusetzen - etwas, was Studieninteressierten mittlerweile auch im Vorfeld durch den Online-Studienwahlassistenten klar vermittelt wird - ist das für mich ein klares Zeichen dafür, dass Interesse an entsprechenden Angeboten und Inhalten unter jungen Muslimen und Musliminnen durchaus vorhanden ist.


Th. Sch.: Welche Erfahrungen machen Sie, wenn bei Studierenden vielleicht selbst aus verschiedenen Versatzstücken zusammengesetztes religiöses Wissen auf kritische Interpretations- und Auslegungsmethodiken stößt, und vermeintliche Gewissheiten vielleicht gar nicht mehr so gewiss sind?

A. O.: Diese Frage berührt einen grundlegenden Unterschied zwischen der Art und Weise, wie das islamische Wissen in den Religionsgemeinschaften einerseits und an der Universität andererseits vermittelt wird. Bei den ersten geht es um die Pflege und Bewahrung von Traditionen, dazu meist von sehr spezifischen Traditionsinhalten. An der Universität, und damit auch bei jeder wissenschaftlichen Theologie, geht es zunächst einmal um eine kritische Durchdringung und Hinterfragung der Traditionen und ihrer Entwicklungsgeschichte mit den Methoden der modernen Wissenschaft. Es geht aber auch um die Förderung von Reflexionsprozessen über unsere Verstehensbedingungen im Allgemeinen. Für Studierende, die an die Universität kommen, um sich bloß eine universitäre Bestätigung ihres bis dato erworbenen religiösen Wissens abzuholen, kann dies in der Tat zunächst eine schmerzhafte Erfahrung sein. Wenn sie dann mit der großen Positionierungsvielfalt innerhalb der islamischen Theologie und deren Geschichte konfrontiert werden und merken, dass eindeutige Antworten gar nicht so einfach sind, wie sie sich das vorgestellt hatten, sind sie noch mehr verunsichert. Doch meistens legt sich das im Laufe der Zeit, wenn sie merken, dass es nicht das Ziel von universitärer Theologie ist, ihren Glauben zu zerstören, sondern ihn auf eine reflexive Ebene zu heben, und dadurch eben auch ihre eigene kritische religiöse Mündigkeit zu fördern; und dass eben nur in dieser kritischen Dimension das Potential liegt, die islamischen intellektuellen Traditionen für die heutige Zeit und für diese komplexe Welt wieder fruchtbar zu machen.


Armina Omerika ist Professorin für Ideengeschichte des Islam am Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam an der Universität Frankfurt am Main.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2016, Heft 217, Seite 24-29
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Dezember 2016

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