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STANDPUNKT/024: Emanzipiert den Islam! (welt der frau)


welt der frau 6/2007 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Emanzipiert den Islam!
Interview mit Journalistin und Muslima Nahed Selim

Von Christine Haiden


Die niederländische Journalistin und Muslima Nahed Selim fordert eine zeitgemäße weibliche Interpretation des Islam. Erst dadurch und durch eine Trennung von Religion und Staat könnten die Frauen endlich zu gleichberechtigten Menschen werden.


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WDF: Nahed Selim, Sie sagen, es sei für islamische Frauen notwendig, den Koran auf neue Art zu lesen und zu interpretieren. Warum?

NAHED SELIM: Weil die Art, wie der Koran heute interpretiert wird, für Frauen sehr nachteilig ist. Frauen leiden in islamischen Gesellschaften unter vielen Ungerechtigkeiten wie etwa Polygamie. Sie bekommen nur die Hälfte des Erbteiles eines Mannes, ihre Zeugenschaft bei Gericht hat nur den halben Wert. Es gibt ungerechte Scheidungsgesetze, die Frauen den Launen des Mannes ausliefern, während es für Frauen fast unmöglich ist, sich ohne Einwilligung des Mannes scheiden zu lassen. Zudem gibt es erzwungene Ehen gegen den Willen der Frau, Missbrauch und Gewalt daheim und die Pflicht der Frau, ihrem Vater und ihrem Mann ganz zu gehorchen. Viele Frauen können nicht außerhäuslich arbeiten, weil ihr Mann es nicht erlaubt.

WDF: Man gewinnt oft den Eindruck, dass viele muslimische Frauen auch selbst mit ihrer traditionellen Rolle einverstanden sind. Stimmt das?

NAHED SELIM: Das kann sein. Aber in jeder Gesellschaft sind Männer und Frauen auch durch das bestimmt, was durch soziale Spielregeln festgelegt ist. Auch in Europa stellten sich zu Beginn der Emanzipationsbewegung viele Frauen gegen die Anführerinnen des Feminismus. Sie sammelten zum Beispiel tausende Unterschriften gegen das Wahlrecht von Frauen. Diese traditionell geprägten Frauen waren solidarisch mit ihren Ehemännern, die sich gegen politische Rechte von Frauen aussprachen. Wir nehmen das gleiche Verhalten heute bei muslimischen Frauen wahr. Es muss immer eine Elite geben, die für die Rechte von Frauen kämpft, auch wenn diese Frauen selbst sagen, dass sie die Rechte gar nicht brauchen. Ich frage mich, ob diese Frauen wirklich aufrichtig sind, wenn sie sich dem traditionellen Rollenbild fügen.

WDF: Kann man gleichzeitig eine moderne Frau und eine gläubige Muslima sein?

NAHED SELIM: Momentan nicht. Ein strenggläubiger Muslim glaubt nicht an die Gleichwertigkeit von Mann und Frau, von Muslims und Nicht-Muslims, von Hetero- und Homosexuellen. Strenggläubige Muslims glauben an eine heilige soziale Ordnung. Eine derart verstandene Ordnung ist unvereinbar mit den Grundsätzen einer modernen, demokratischen Gesellschaft, die auf gleichen Rechten aller Bürger, auf gleichen Lebenschancen für Männer und Frauen, auf der Trennung von Staat und Religion und dem Recht auf persönliche Wahlfreiheit basiert. So kann eine strenggläubige Muslima nur einen Muslim heiraten, während der Mann auch eine Christin oder Jüdin heiraten kann. Das ist für mich diskriminierend. Wir müssen uns vom orthodoxen Islam trennen. Ich bin eine Sufi, das ist eine mystische Richtung des Islam, die den Glauben als ausschließlich private Angelegenheit sieht. Sufis wollen die Trennung von Religion und Staat.

WDF: Worin unterscheidet sich die weibliche Sicht auf den Koran von der männlichen?

NAHED SELIM: Eine weibliche Sichtweise wird versuchen, die Interessen von Frauen stärker zu berücksichtigen. Es geht darum, dass wir uns vom Buchstaben der Texte lösen. Solange wir das nicht tun, wird sich nichts ändern. Es gibt Texte, die festlegen, Liebende, die nicht verheiratet sind, mit dem Tod durch Steinigung zu bestrafen. Das sind grausame Regeln, die mit modernen Gesellschaften unvereinbar sind. Menschen, die glauben, alles, was im Koran steht, wortwörtlich befolgen zu müssen, werden auch Strafen wie das Abschneiden von Händen oder das Steinigen unterstützen. Wenn man allerdings der Meinung ist, dass manche Vorschriften nicht mehr zu unserem modernen Leben passen, warum sollte man dann auf Regeln bestehen, die Frauen diskriminieren und benachteiligen, die sie in einer untergeordneten Stellung halten und ihnen Leid zufügen wollen?

WDF: Das Verhältnis von muslimischen Männern und Frauen wird vor allem im Bereich der Sexualität von Regeln bestimmt, die Männer festgelegt haben. Wie können Frauen diese Regeln verändern?

NAHED SELIM: Muslimische Frauen müssen an ihr Recht auf Gleichwertigkeit, vor allem sexuelle Gleichwertigkeit selbst glauben, bevor sie Regeln verändern können. Das patriarchale System wird gerechtfertigt durch islamische Lehrer, die sagen, die Frau sei das Zelt für den Mann, und er könne zu ihr kommen, wann und wie immer es ihm gefällt. Ein Spruch des Propheten besagt auch, dass eine Frau, die die sexuellen Bedürfnisse ihres Mannes nicht erfüllt, vom Universum und allen Engeln verflucht werde. Ähnliche Lehren gibt es in allen patriarchalen Systemen, aber wenn diese Vorherrschaft des Mannes religiös abgesichert ist, wird es noch viel schwieriger, dagegen anzukämpfen. Eine Frau braucht ziemlich viel Mut, um mit ihrem Mann zu reden und ihn zu überzeugen, dass ihre Beziehung eine Sache zwischen ihnen beiden ist und dass eine sexuelle Beziehung, die sie unterdrückt, sie unglücklich macht und ihre Ehe beschädigt. Deswegen müssen wir die Männer überzeugen, dass für eine glückliche sexuelle Beziehung die Liebe wichtiger ist als jede gottgegebene Autorität. Männer müssen in der Emanzipation eine aktive Rolle spielen.

WDF: Sie möchten gerne Ihre westliche Art zu leben und Ihre muslimische Kultur versöhnen. Was sind dabei Ihre persönlichen Erfahrungen?

NAHED SELIM: Ich versuche einen Weg zu finden, wie ich mir selbst treu sein kann, ohne die Verbindungen zu meiner Familie abzuschneiden. Glücklicherweise akzeptiert meine Familie meine andere Sichtweise, aber es braucht viele Gespräche und das Verständnis, dass meine Verschiedenheit keine Barriere zwischen uns sein muss. Ich versuche eine liebende und fürsorgliche Mutter zu sein, ohne meine Ambitionen als Autorin zu opfern. Insgesamt lebe ich eher wie eine westliche Frau als wie eine traditionell muslimische. Ich bin glücklich, dass ich dazu im Westen die Möglichkeit habe. Millionen muslimischer Frauen würden gerne so leben, aber können es nicht.

WDF: Welche Frau im Koran schätzen Sie selbst am meisten und warum?

NAHED SELIM: Maria, die Mutter von Jesus, weil sie die am öftesten genannte Frau im Koran ist. Ihr arabischer Name ist Maryam. Der Koran spricht von ihr mit hoher Wertschätzung. Ein ganzes Kapitel, die 19. Sure, ist nach ihr benannt.

Ich glaube, sie war eine großartige Frau. Sie wurde angefeindet, weil sie ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hat. Aber sie brach deswegen nicht zusammen, sondern glaubte an sich selbst und gab ihrem Kind genügend Liebe und Selbstvertrauen, sodass ein wunderbarer Mensch aus ihm wurde, der größte Lehrer der Menschlichkeit.

Ich glaube, die Liebe, die Jesus die Menschheit lehrte, muss ihren Ursprung in der Liebe und Weisheit haben, die seine Mutter ihm grundgelegt hat.


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Ausgabe 6/2007, Seite 28-30
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2007