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INTERNATIONAL/008: Familien Inhaftierter aus dem Gaza-Streifen fordern von Israel Besuchsrecht (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 27. Juli 2011

Nahost: Familien Inhaftierter aus dem Gaza-Streifen fordern von Israel Besuchsrecht

Von Eva Bartlett

Umm Bilal hat ihren Sohn seit acht Jahren nicht mehr gesehen - Bild: © Eva Bartlett/IPS

Umm Bilal hat ihren Sohn seit acht Jahren nicht mehr gesehen
Bild: © Eva Bartlett/IPS

Gaza-Stadt, 26. Juli (IPS) - Mit ihren Protesten könnten sie es ins Guinness-Buch der Rekorde schaffen. Seit 1995 versammeln sich jeden Montag Palästinenserinnen aus dem Gazastreifen vor dem Sitz des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Gaza-Stadt. In den Händen halten sie Fotos von Angehörigen, die in israelischen Gefängnissen sitzen.

Die Sitzblockaden haben seit vier Jahren weiter an Bedeutung gewonnen. Die Familien aus dem Gaza-Streifen wollen erreichen, dass Israel ihnen gemäß den internationalen Menschenrechtsgesetzen wieder die Erlaubnis erteilt, ihre inhaftierten Verwandten zu besuchen. Israel hatte dies 2007 verboten, nachdem der israelische Soldat Gilad Shalit von militanten Palästinensern an der Grenze zum Gaza-Streifen verschleppt worden war.

Inzwischen kommen an den Montagen mehr als 200 Männer und Frauen in Gaza-Stadt zusammen. Am 11. Juni dieses Jahres unterstützte der Palästinensische Rote Halbmond die Demonstranten dabei, vom Sitz des IKRK zum Park des Unbekannten Soldaten zu ziehen, um gegen die Anordnungen Israels zu protestieren.

"Wir haben Briefe geschickt, aber wir dürfen ihn nicht sehen und nicht mit ihm sprechen", sagt Umm Ahmed, deren 32-jähriger Sohn Ahmed Abu Ghazi vor vier Jahre von den Israelis gefangen genommen wurde. Er muss insgesamt 16 Jahre Haft verbüßen. "Da wir keinerlei Kontakt zu ihm haben, kommen wir jeden Montag zum Sitz des Roten Kreuzes. Doch nichts passiert. Vergangene Woche haben wir hier sogar im Freien übernachtet", berichtet sie. "Während unsere Söhne im Gefängnis sind, könnten wir Eltern sterben, ohne sie wiedergesehen zu haben."

Der palästinensische Häftling Bilad Adyani musste diese Erfahrung machen. Mitte Juli starb sein Vater, nachdem er sich jahrelang erfolglos darum bemüht hatte, seinen Sohn zu besuchen. Laut Berichten des IKRK sind etwa 30 Angehörige von Inhaftierten gestorben, seit Israel die Besuche in den Gefängnissen verboten hat.


Seit acht Jahren ohne Kontakt

Umm Bilal hält ein älteres Foto ihres Sohnes in einem Plastikrahmen hoch. Der damals 16-jährige Teenager trägt ein schwarzes T-Shirt, hat Gel im Haar und lächelt in die Kamera. "Er sitzt seit 20 Jahren und zehn Monaten im Gefängnis. Und seit acht Jahren habe ich ihn nicht mehr sehen dürfen", beklagt sich die ältere Frau. Eigentlich sollten die Gefangenen Telefonkarten, Kleidung und Essen kaufen können, doch die israelischen Behörden erschwerten dies, sagt sie. Ihr Sohn habe studieren wollen, doch auch das sei ihm nicht gestattet worden.

Im Dezember 2009 hatte der Oberste Gerichtshof Israels im Sinne der Regierung entschieden, den Familien aus dem Gaza-Streifen kein Besuchsrecht in israelischen Gefängnissen zu gewähren. Zur Begründung hieß es, dass die "Familienbesuche nicht von grundlegender humanitärer Notwendigkeit für die Menschen im Gazastreifen" seien. Die Häftlinge erhielten eine Basisversorgung über die Gefängniskantine, hieß es.

Im Juni dieses Jahres teilte die israelische Strafvollzugsbehörde mit, dass sie den Gefangenen mehrere Rechte aberkannt habe. Sie dürfen sich nicht mehr an Universitäten einschreiben und keine Mobiltelefone mehr benutzen.

"Die Welt fordert die Freilassung Shalits. Er ist aber nur ein einziger Gefangener", sagt Umm Bilal. Viele Palästinenser seien in ihren Häusern verhaftet worden, Shalit sei dagegen aus seinem Panzer mitgenommen worden. "Diese Panzer schießen auf den Gaza-Streifen, töten unsere Leute und zerstören unser Land."

Laut Nasser Farrah von der Vereinigung palästinensischer Gefangener befinden sind zurzeit mehr als 7.000 Palästinenser in israelischen Gefängnissen. Unter ihnen sind auch fast 40 Frauen und etwa 300 Kinder. 700 Häftlinge stammen aus dem Gaza-Streifen.


Bis zu 11.000 Palästinenser inhaftiert

Anderen Schätzungen zufolge sitzen sogar bis zu 11.000 Palästinenser in Israel hinter Gittern. Wie Farrah erklärte, kommen zu den mehr als 7.000 Häftlingen noch Tausende weitere Menschen hinzu, die im Westjordanland festgenommen wurden.

Zahlreiche Palästinenser werden auf unbestimmte Zeit in Untersuchungshaft gehalten und warten auf ihr Gerichtsverfahren. Viele sitzen zwischen sechs Monaten und sechs Jahren ein. Die israelische Menschenrechtsorganisation 'B'Tselem' erklärte, dass sich im Februar dieses Jahres 214 Palästinenser in Untersuchungshaft befanden.

Gemäß Artikel 49 der Genfer Konventionen dürfen Menschen nicht unter Zwang aus den besetzten Territorien gebracht werden. Den Vereinten Nationen zufolge hat Israel aber genau dies getan und seit 1967 mehr als 700.000 palästinensische Männer, Frauen und Kinder festgenommen.

Mehr als 1.500 der Gefangenen gelten als schwer krank und erhalten keine angemessene medizinische Behandlung. Einer von ihnen ist Majed Komeh, der sechs seiner 19 Jahre Haft verbüßt hat. Der 34-Jährige leidet an Magen- und Rückenproblemen, wie seine Mutter Umm Majed erklärt. "In den vergangenen vier Jahren habe ich nichts mehr von ihm gehört", sagt die Frau, die ebenfalls an den Montagsdemonstrationen teilnimmt.


Krebskranke Häftlinge ohne ausreichende Behandlung

Nasser Farrah bekräftigt, dass viele Menschen an Krebs und anderen schweren Krankheiten leiden. "Zahlreiche Häftlinge brauchen Pflege rund um die Uhr und nicht bloß Kopfschmerztabletten." Einem Bericht der Vereinigung palästinensischer Gefangener aus dem Zeitraum 2010 bis 2011 wurde bei 20 Häftlingen Krebs, bei 88 Diabetes und bei 25 Nierenversagen diagnostiziert. Mehr als 200 Gefangene seien aufgrund mangelnder medizinischer Versorgung gestorben.

Viele kranke Palästinenser landen hinter Gittern, wenn sie den Checkpoint Eres passieren, um sich außerhalb des Gazastreifens behandeln zu lassen. Wie Farrah kritisierte, werden sie einfach festgenommen, kaum dass sie die Grenze passierten. Dabei habe ihnen Israel Passierscheine ausgestellt. (Ende/IPS/ck/2011)


Links:
http://www.btselem.org/about_btselem
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=56602

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 26. Juli 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juli 2011