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INTERNATIONAL/021: Kolumbien - Vom Staat geschützt und überwacht, Abhörskandal wirft Fragen auf (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 2. September 2011

Kolumbien: Vom Staat geschützt und überwacht - Abhörskandal wirft Fragen auf

Von Constanza Vieira

Darío Martínez äußert sich gegenüber der Presse in Barrancabermeja - Bild: © Constanza Vieira/IPS

Darío Martínez äußert sich gegenüber der Presse in Barrancabermeja
Bild: © Constanza Vieira/IPS

Barrancabermeja, Kolumbien, 2. September (IPS) - In Kolumbien hat ein populärer Radiokanal den Mitschnitt eines Telefongesprächs des Bauernführers David Martínez veröffentlicht und diesen fälschlicherweise als Guerillero ausgewiesen. Abgesehen davon, dass die Falschmeldung Martínez in Lebensgefahr bringt, zeigt der Fall einmal mehr, dass Menschenrechtsaktivisten nach wie vor von den Geheimdiensten des südamerikanischen Landes ausspioniert werden.

Was ihn so brisant macht: Martínez hatte das abgehörte Telefon vom Innenministerium im Rahmen eines für Menschenrechts- und Sozialaktivisten existierenden Schutzprogramms erhalten, das auch die Bereitstellung von Bodyguards, gepanzerten Fahrzeugen und kugelsicheren Westen vorsieht. Das Handy hatte der sogenannte 'Runde Tisch der aus dem Departement Mesa vertriebenen Bevölkerung' für Martínez beantragt. Der Bauernführer ist ein führendes Mitglied dieser Regionalorganisation mit 120.000 Mitgliedern, die im Zuge des 50-jährigen kolumbianischen Bürgerkriegs aus ihren Dörfern vertrieben wurden. Meta liegt im Südosten Kolumbiens.

Die abgehörte Sequenz war von 'Radio Caracol' zu Beginn des 'Nationalen Treffens der Gemeinschaften der Bauern, Indigenen und Afrokolumbianer für Land und Frieden in Kolumbien' vom 12. bis 14. August in der nordkolumbianischen Stadt Barrancabermeja ausgestrahlt worden. Zur Versammlung in der 'Wiege der kolumbianischen Sozialbewegung' hatten sich 25.000 Menschen aus den besonders stark vom Bürgerkrieg betroffenen Landesteilen eingefunden.

Radio Caracol gehört zu den Institutionen, die den Nationalen Friedenspreis vergeben. Träger der Auszeichnung des letzten Jahres war die 'Vereinigung der Bauern des Cimitarra-Tals' (ACVC), die das Friedenstreffen in Barrancabermeja organisierte. Dass ausgerechnet dieser Sender harmlose Gespräche über logistische Fragen im Zusammenhang mit dem Friedenstreffen mit Guerillaaktivitäten in Verbindung brachte, kann Irene Ramírez von der ACVC, die die Friedensveranstaltung koordiniert hatte, nicht nachvollziehen.

Ramírez geht von einem Sabotageakt aus. Durch den von Radio Caracol verbreiteten Bericht sollte der Eindruck erweckt werden, dass sich eine Gruppe Rebellen auf den Weg nach Barrancabermeja aufgemacht habe, um an der Friedensversammlung teilzunehmen. Die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) und die Nationale Befreiungsarmee (ELN), hatten jedoch lediglich Videobotschaften zu dem Treffen geschickt, in denen sie ihre Bereitschaft zu Friedensgesprächen wiederholten.

Bisher ist eine Richtigstellung von Seiten des Senders ausgeblieben. Angesichts der Gefahr, die von der Falschmeldung für Martínez und auch andere Teilnehmer der Konferenz ausgeht, wird das Anwaltskollektiv José Alvear Restrepo (CAJAR), eine führende Menschenrechtsorganisation, die notwendigen Schritte einleiten, um dem Bauernführer zu seinem Recht auf Richtigstellung zu verhelfen.

Nach Ansicht des CAJAR-Direktors Alirio Uribe offenbart der Fall, dass die staatlichen Geheimdienste nach wie vor Menschenrechtsaktivisten abhören. CAJAR war unter dem ehemaligen Staatspräsidenten Álvaro Uribe (2002-2010) ebenfalls ausspioniert worden. Für einen Skandal sorgte der Lauschangriff des Nachrichtendienstes DAS auf Journalisten, Oppositionspolitiker und Menschenrechtler 2009, der Drohungen und die Beschattung der Zielpersonen einschloss. Der Fall führte zum Rücktritt zahlreicher ranghoher DAS-Mitarbeiter.

Wie der Universitätsprofessor Carlos Rodríguez Mejía erklärte, erlaubt das im Juni vom Parlament verabschiedete Geheimdienstgesetz lediglich das sporadische Abhören von Funkverbindungen. Da Martínez jedoch kontinuierlich bespitzelt worden sei, hätte ein entsprechender Gerichtsbeschluss vorliegen müssen. Zudem habe kein Staat das Recht, Mobiltelefone auszugeben, um Menschen gleichzeitig zu schützen und zu überwachen.

Martínez ist einer von Kolumbiens vielen landlosen Bauern. Im August 2002 musste er aus seinem Heimatdorf in Meta, El Castillo, fliehen. Er lebt inzwischen in Villavicencio, der Hauptstadt des Departements, und leitet die Vereinigung der Bäuerinnen und Bauern von El Castillo, einem Hotspot der Guerilla. Er ist zudem Vizevorsitzender der Gewerkschaft der unabhängigen Landarbeiter von Meta.

Nachdem die dreijährigen Friedensgespräche zwischen der ehemaligen Regierung von Andrés Pastrana (1998-2002) und den FARC im Februar 2002 abgerissen waren, startete die Armee in der Region eine Militäroffensive, die die Ankunft der ultrarechten Paramilitärs, Viehdiebstähle und die Ermordung lokaler Bauernführer nach sich zog. "Massakern folgten gezielte Morde, über die in den Medien nur selten berichtet wurde und die 235 Menschen das Leben kosteten", sagte Martínez gegenüber IPS. "Die Gewalt zwang uns zum Rückzug aus der Region." (Ende/IPS/kb/2011)


Links:
http://www.ips.org/blog/cvieira/?p=512
http://colectivodeabogados.org/
http://prensarural.org/acvc/
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=98982

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. September 2011