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INTERNATIONAL/044: Ägypten - Militär brutaler als Mubarak (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 28. November 2011

Ägypten: Militär brutaler als Mubarak - Menschenrechtler dringen auf Zivilregierung

von Cam McGrath


Kairo, 28. November (IPS) - Ägypter, die nach dem Sturz von Diktator Husni Mubarak auf größere Freiheit und weniger Polizeigewalt gehofft haben, sind inzwischen ernüchtert. Der regierende Militärrat sei sogar noch brutaler als das Regime des ehemaligen Machthabers, sagen Menschenrechtler.

"Der Militärrat geht mit den Leuten so um, als befänden sie sich in einem Armeelager", schimpft der Aktivist Sherif Azer. "Erst nach mehreren Jahrzehnten war der Ärger auf Mubarak so groß, dass es für eine Revolution reichte. Nach nur neun Monaten haben wir jetzt schon einen neuen Aufstand."

Tausende Ägypter gehen wieder auf die Straße und drängen den Obersten Rat der Streitkräfte (SCAF), den Übergang zu einer zivilen Regierung zu beschleunigen. Zugleich fordern sie den Rücktritt des Ratsvorsitzenden Feldmarschall Mohamed Hussein Tantawi. Binnen einer knappen Woche sind mindestens 41 Menschen bei Zusammenstößen getötet und mehr als 3.000 verletzt worden.

Die erneuten Konfrontationen begannen am 19. November, nachdem Armee und Polizei mit brutaler Gewalt eine kleine Gruppe von Demonstranten auseinander trieben, die den Tahrir-Platz im Zentrum von Kairo besetzen wollten. Zuvor hatten Demonstranten eine Beschränkung der Macht des Militärs verlangt. Nachdem Sicherheitskräfte mit Knüppeln und Stöcken auf unbewaffnete Menschen eingeprügelt hatten, strömten wieder zahlreiche Ägypter auf den Platz, der zum Symbol des Aufstands gegen Mubarak geworden ist.


Brutalität der Polizei heizt neue Proteste an

Die Gewalt eskalierte rasch. Als Polizei ihre Angriffe mit Tränengas und Gummigeschossen auf die Protestierenden fortsetzte, schwoll die Menge auf dem Platz immer weiter an. "Es ging hier nicht um Politik oder Demokratie, sondern um Gewalt", erklärte der Aktivist Mostafa Shouman. "Die Menschen wollten nicht hinnehmen, dass die brutalen Taktiken des Mubarak-Regimes weiterhin gegen friedliche Demonstranten angewendet werden."

Die Wut, die jetzt zum Ausbruch gekommen ist, hat sich während der vergangenen neun Monate seit Mubaraks Abgang angestaut. Viele Ägypter, die die Machtübernahme durch den Militärrat im Februar begrüßt hatten, haben inzwischen ihre Haltung geändert. Sie schauen neidisch nach Tunesien, wo nach einem Aufstand im vergangenen Winter der Übergang zu einer demokratisch gewählten Regierung längst vollzogen ist. In Tunesien ist es überdies nicht zu so gravierenden Menschenrechtsverletzungen wie in Ägypten gekommen.

Laut einem neuen Bericht von 'Amnesty International' hat der Militärrat sein Versprechen, die Menschenrechtslage zu verbessern, nicht eingehalten. Die Unterdrückung sei teils noch schlimmer als zu Mubaraks Zeiten, heißt es in dem Report. "SCAF hat Tausende Zivilisten vor Militärgerichte gestellt, friedliche Demonstranten attackiert und Mubaraks Notstandsgesetz ausgeweitet. Damit hat er die repressive Herrschaft fortgesetzt, gegen die die Gegner Mubaraks so hart angekämpft haben", sagte Philip Luther, der Amnesty-Direktor für Nahost und Maghreb.

Der Bericht wirft den Streitkräften vor, die Opposition durch drakonische Gesetze mundtot zu machen und Proteste mit massiver Gewalt zu beenden. In den letzten neun Monaten landeten Tausende Aktivisten und Blogger im Gefängnis. Der Blogger Maikel Nabil Sanad wurde im April zu drei Jahren Haft verurteilt, nachdem er gegen die Wehrpflicht protestiert hatte. "Alle diejenigen, die den Militärrat provoziert und kritisiert haben - Demonstranten, Journalisten, Blogger und streikende Arbeiter - sind unbarmherzig unterdrückt worden", sagte Luther.

Seit dem Ausbruch der Revolte am 25. Januar sind mehr als 12.000 Zivilisten vor Militärgerichte gestellt worden. Dies sind etwa sechs Mal so viele, wie während der gesamten 30-jährigen Herrschaft Mubaraks vor Militärtribunale kamen. Menschenrechtsgruppen verurteilten diese Prozesse. Vergehen wie die Missachtung der Ausgangssperre, Beschimpfungen der Armee oder nicht näher definiertes 'rücksichtsloses Vorgehen' wurden mit harten Strafen belegt.


Schnellprozesse mit mehr als 30 Angeklagten

"Militärgerichte sind von ihrer Natur her ungerecht", sagte der Jurist Adel Ramadan, der für die Ägyptische Initiative für Personenrechte (EIPR) arbeitet. In der Regel dauerten solche Verfahren nur fünf bis 20 Minuten. Jedes Mal stünden bis zu 35 Angeklagte gleichzeitig vor dem Richter, der Mitglied des Militärs sei. Wenn er eine mehrjährige Haftstrafe oder sogar die Todesstrafe verhänge, könne dagegen kein Einspruch erhoben werden.

Nach Schilderungen von Menschenrechtsaktivisten kommt es seit dem Sturz von Mubarak auch weiterhin zu Folter und Erniedrigungen in Polizeiwachen und Gefängnissen. Mehrere Frauen, die bei Demonstrationen im März festgenommen worden waren, gaben an, von Armeeärzten entwürdigenden 'Jungfräulichkeitstests' unterzogen worden zu sein.

Im Oktober starb der 23-jährige Häftling Essam Atta in einem Kairoer Krankenhaus, nachdem ihn Gefängniswärter offensichtlich auf sadistische Weise misshandelt hatten. Viele Ägypter fühlten sich an das Schicksal des 26-jährigen Khaled Said erinnert, der von der Polizei im Juni vergangenen Jahres zu Tode gefoltert wurde.

Die öffentliche Empörung über Saids Tod hat wesentlich dazu beigetragen, den Widerstand gegen das Mubarak-Regime zu schüren. "Leider hat sich nichts verändert", sagte Menschenrechtsaktivist Azer. "Polizei und Militär verhalten sich weiter so, als müssten sie keine Bestrafung fürchten." (Ende/IPS/ck/2011)


Links:
http://www.amnesty.org/en/region/egypt
http://eipr.org/en/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=105961

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. November 2011