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INTERNATIONAL/059: Irak - Umsiedlung unerwünscht, Massenselbstmord iranischer Oppositioneller befürchtet (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 20. Dezember 2011

Irak: Umsiedlung unerwünscht - Massenselbstmord iranischer Oppositioneller befürchtet

von Barbara Slavin


Washington, 20. Dezember (IPS) - Die US-Regierung von Präsident Barack Obama und die Vereinten Nationen drängen die Anführer der iranischen Oppositionsbewegung 'Mujaheddin-e Khalq' (MEK) dazu, ein Flüchtlingscamp im Irak zu räumen. Sie befürchten Auseinandersetzungen mit irakischen Sicherheitskräften oder gar einen Massenselbstmord der mehr als 3.000 Lagerinsassen.

Die irakischen Behörden hatten erklärt, dass das Camp bis Ende Dezember schließen müsse. Sollte MEK-Führerin Maryam Rajavi der Aufforderung ihre Zustimmung verweigern, sei im Ashraf-Lager 56 Kilometer nördlich von Bagdad ein Blutbad zu erwarten, warnten US-Regierungsvertreter.

"Die irakische Regierung und der UN-Botschafter im Irak, Martin Kobler, haben zwar kürzlich entscheidende Fortschritte erzielt", sagte ein Beamter der Obama-Regierung, der nicht genannt werden wollte. Die MEK habe dem Räumungsplan bisher aber nicht zugestimmt.

Geplant sei, die Bewohner des Lagers in mehreren Etappen nach Camp Liberty, einer früheren US-Militärbasis nahe dem Flughafen von Bagdad, zu bringen, erklärte er. Dort wollten Vertreter des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR mit ihnen besprechen, wo sie sich niederlassen wollten.


'Märtyrertum' und 'Sterben'

"Die MEK muss realistisch sein, und die Zeit drängt", sagte der Beamte. Obwohl sie inzwischen von "Maximalforderungen" abgerückt sei, werde in ihren Reihen immer noch von 'Märtyrertum' und 'Sterben' gesprochen.

Die Obama-Regierung arbeitet mit den UN und dem Irak zusammen, um den Transfer der schätzungsweise 3.200 Bewohner von Ashraf zu organisieren. Vincent Cochetel, der Vertreter des UNHCR in Washington, hatte IPS im September mitgeteilt, dass die MEK dem Plan über ihren Anwalt in London zugestimmt habe.

Rajavi, die in der Nähe von Paris lebt und sich kürzlich mit Kobler traf, soll informierten Kreisen zufolge allerdings darauf bestehen, dass die US- oder die UN-Truppen die Bewohner von Ashraf begleiten. Der Irak ist demnach damit einverstanden, dass die Vereinten Nationen die Evakuierung überwachen. Die Präsenz ausländischer Truppen sei dabei aber nicht erwünscht.

Die USA, die erst vor kurzem ihren militärischen Abzug aus dem Irak abgeschlossen haben, wollen überdies keine Soldaten zu Sondereinsätzen entsenden. Menschenrechtsorganisationen appellierten indes an Washington, sich dafür einzusetzen, dass der Irak die Frist für die Auflösung des Lagers verlängert.

Sanjeev Bery von Amnesty International erklärte, seine Organisation sei "besorgt darüber, dass die Bewohner des Ashraf-Camps schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen riskieren, wenn die irakische Regierung die geplante Schließung des Lagers bis Ende Dezember aufrecht erhält". Irakische Sicherheitskräfte hätten Ashraf bereits mehrmals angegriffen, berichtete er. Zuletzt seien im April Dutzende Bewohner getötet und weitere verletzt worden.

Kenner der MEK werfen deren Führern vor, einen Kult um die Bewegung geschaffen zu haben. Indem sie ihre Mitglieder als Geiseln in dem Lager hielten, wollten sie die USA dazu zwingen, die Gruppe von der Liste der Terrororganisationen zu streichen, hieß es. Das US-Außenministerium prüft demnach seit Monaten den Status der MEK und versucht, die Versuche zur Lösung des Ashraf-Problems davon abzukoppeln.

Anhänger der MEK versichern, dass sie dem Terrorismus abgeschworen haben. In US-Medien hat die Bewegung eine aufwendige Anzeigenkampagne lanciert, um sich ein gutes Image zu geben. Der Präsident des Nationalen Iranisch-Amerikanischen Rats äußerte jedoch Zweifel. "Wenn eine Organisation ihre Mitglieder auffordert, Selbstmord zu begehen oder sich töten zu lassen, falls ihre Führer nicht das erreichen, was sie wollen, klingt das nach einer Terrorgruppe."


Im Lager sollen auch Kinder leben

Die US-Regierung weiß nicht genau, wie viele Menschen sich zurzeit in Ashraf aufhalten. Es wird davon ausgegangen, dass unter ihnen auch Kinder sind. Einige Mitglieder sollen auch unter einem Vorwand in das Lager gelockt worden sein, wo sie militärisches Training und Gehirnwäsche über sich ergehen lassen mussten. Rajavi wird vorgeworfen, um sich und ihren Mann Massoud einen Kult der Verehrung geschaffen zu haben.

Die lange Anwesenheit der MEK-Mitglieder in dem Lager hat die irakische Führung seit dem Sturz des früheren Diktators Saddam Hussein 2003 gestört. Die marxistisch-islamische Gruppe, die an der Absetzung des Schahs in Teheran beteiligt war, ließ sich später im Irak nieder und kämpfte auf der Seite von Saddam zwischen 1980 und 1988 gegen das Regime in der Heimat.

Die MEK half dem Irak außerdem dabei, Aufstände von Schiiten und Kurden nach dem Golfkrieg 1991 niederzuschlagen. Auf Vertreter des iranischen Staates wurden in den neunziger Jahren mehrere Attentate verübt. 1997 setzte das US-Außenministerium die Bewegung auf die Liste internationaler Terrororganisationen.


MEK-Mitglieder im Iran verfolgt

Sollten sich die Bewohner von Ashraf nun der Räumung widersetzen, dürfte ihre Umsiedlung nur schwierig zu bewerkstelligen sein. Unter dem Schutz des Roten Kreuzes waren ab 2003 immerhin bereits Hunderte Camp-Insassen in den Iran zurückgekehrt.

Seit den umstrittenen iranischen Präsidentschaftswahlen 2009 hat die Verfolgung von Oppositionellen in dem Land aber wieder zugenommen. Den MEK-Mitgliedern drohen Haft oder sogar die Todesstrafe. Europäische Staaten scheuen vor ihrer Aufnahme zurück.

Sollte die Gruppe nicht mehr auf der US-Terrorliste stehen, würde dies allerdings noch nicht bedeuten, dass ihre Anhänger automatisch in die USA einreisen könnten. Mitgliedern von ehemals als Terrororganisationen eingestuften Gruppen, die ein militärisches Training absolviert haben, bleibt die Einreise verboten. (Ende/IPS/ck/2011)


Links:
http://www.unhcr.org/cgi-bin/texis/vtx/home
http://www.amnesty.org/en/region/middle-east-and-north-africa
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=106259

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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Dezember 2011