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INTERNATIONAL/172: Brasilien - Militärgewalt gegen Nachfahren afrikanischer Sklaven (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 15. Januar 2014

Brasilien: Militärgewalt gegen Nachfahren afrikanischer Sklaven - Fall vor den UN

Von Fabíola Ortiz


Bild: © Coha.org

Einer der vielen Proteste der Quilombola von Rio dos Macacos in Brasilien gegen die Besetzung ihres Territoriums und die Gewalt von Seiten der Marine
Bild: © Coha.org

Rio de Janeiro, 15. Januar (IPS) - Nachfahren ehemaliger Sklaven, die in Rio dos Macacos im nordostbrasilianischen Bundesstaat Bahía leben, haben die Vereinten Nationen um Hilfe gebeten. Sie beschuldigen mehrere Militärs, die auf einem Marinestützpunkt auf ihren Territorien stationiert sind, sie in ihrer Bewegungsfreiheit zu behindern und misshandelt zu haben.

Menschenrechtsorganisationen hatten den Fall am 10. Januar gegenüber der UN-Expertengruppe für Menschen afrikanischer Herkunft und den UN-Sonderberichterstattern für kulturelle Rechte, für adäquates Wohnen und für Menschenrechtsverteidiger zur Sprache gebracht. Außerdem bereiten sie die erforderlichen Dokumente vor, um die Übergriffe vor die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) zu bringen.

Opfer sind die Geschwister Ednei Messias und Rosimeire dos Santos, die am 6. Januar nach eigenen Aussagen von Marineoffizieren tätlich angegriffen, geschlagen und willkürlich festgenommen wurden. Nach vier Stunden konnten Hilfsorganisationen ihre Freilassung erwirken.

Wie der 28-jährige Messias, einer der Vorsteher der Siedlung, gegenüber IPS berichtete, war der Vorfall der bisher letzte einer Serie von Drohungen und Einschüchterungsversuchen, die die 70 Familien des Quilombos bislang ertragen mussten. Quilombos sind entlegene Siedlungen, die während der Kolonialzeit von geflohenen oder freigelassenen Sklaven gegründet wurden. Ihre Bewohner werden Quilombola genannt.

Die Einwohner von Rio dos Macacos kämpfen seit fünf Jahrzehnten um Landtitel. Die beanspruchten Territorien liegen auf der Halbinsel São Tomé de Paripe innerhalb der Grenzen der Gemeinden Simões Filho und Salvador, der Hauptstadt von Bahía.

Es gibt Unterlagen, die beweisen, dass der Quilombo bereits mindestens seit 150 Jahren besteht. Auch zeugen Überreste der Siedlung von einer 238-jährigen Existenz. In Brasilien wurde die Sklaverei erst 1888 abgeschafft, somit also erst Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit von Portugal im Jahre 1822.

Das 300 Hektar große Gebiet ist der Mittelpunkt eines seit den 1960er Jahren bestehenden Rechts- und Territorialstreits. Damals, als Brasilien vom Militär regiert wurde - die Diktatur dauerte von 1964 bis 1985 - wurde das Gebiet von den Streitkräften besetzt, die dort eine Marinebasis und eine Siedlung für die Militärs und deren Familien einrichteten.


Treibjagd auf die Quilombola

Vor zwei Jahren stellte sich die Justiz zwar auf die Seite des Quilombo, doch wurde das Urteil vom brasilianischen Staat angefochten. Für die dort lebenden Afrobrasilianer bedeutet dies, dass sie jedes Mal die Militärsiedlung durchqueren müssen, um nach Rio dos Macacos zu gelangen oder den Ort zu verlassen.

"Es herrscht ein latentes Klima der Gewalt. Man spricht uns das Recht auf Bewegungfreiheit ab, und es kommt vor, dass noch nicht einmal die Ambulanzen zu uns durchkommen, um erste Hilfe zu leisten", berichtete dos Santos.

Die jüngsten Übergriffe erfolgten nach der Rückkehr der Geschwister aus einer nahe gelegenen Gemeinde, wo sie Rosimeires Töchter im Alter von 17 und sechs Jahren für das nächste Schuljahr angemeldet hatten. "Ein Unteroffizier, der uns schon vorher bedroht hatte, und weitere fünf bewaffnete Männer rissen mit Gewalt die Autotür auf und prügelten auf mich ein. Auch meine Schwester wurde misshandelt und halb nackt ausgezogen. Und das alles vor den Augen meiner Nichten."

Freigelassen wurden die Geschwister erst nach der Intervention der staatlichen Sonderstelle für Maßnahmen zur Förderung der Rassengleichheit und von Anwälten afrobrasilianischer Hilfsorganisationen.

Paradoxerweise ist der Marinestützpunkt Aratu ein beliebtes Urlaubsziel brasilianischer Präsidenten. Staatschefin Dilma Rousseff hatte sich dort Ende des Jahres eingefunden. Sie verließ das Gebiet am 5. Januar - am Vorabend der Übergriffe auf die dos Santos.


Wie in Zeiten der Sklaverei

"Wir haben kein Vertrauen mehr in die Regierung", sagte Rosimeire dos Santos, die nach der Misshandlung stationär versorgt werden musste. "Den Menschen ist nicht klar, dass wir wie zu Zeiten der Sklaverei behandelt werden. Auch heute noch sehen wir uns gezwungen, für unsere Freiheit zu kämpfen."

Rosimeire traut sich mit ihren beiden Töchtern aus Angst, vor deren Augen umgebracht zu werden, nicht mehr aus dem Haus. "Sie drohten damit, uns umzubringen." Wie sie weiter berichtete, hatten sich bei dem Vorfall zwei der Männer auf sie gestürzt. Einer habe ihren Kopf zwischen seine Beine gepresst. Man habe ihr die Hose heruntergezogen und ihre Brüste entblößt. "Das war furchtbar demütigend. Sie hielten mir ein Gewehr an den Kopf und spuckten mir ins Gesicht."

Die Quilombola äußerte die Befürchtung, dass sich in Rio dos Macacos ein Massaker ereignen könnte, sollte die alltägliche Gewalt gegen die afrobrasilianische Gemeinde, die sich nicht vertreiben lassen will, nicht beendet werden. "Unser Territorium ist unverkäuflich und nicht verhandelbar. Ich bin hier geboren und aufgewachsen und hier wurde unsere Familie beerdigt."

Ein im August 2012 vom Nationalen Institut für Kolonisierung und Agrarreform abgeschlossener Bericht hat bestätigt, dass die Einwohner von Rio dos Macacos von ehemaligen Sklaven abstammen, die während der Kolonialzeit auf Zuckerrohrplantagen arbeiteten und Zucker für die Mühle von Aratu produzierten. Dennoch hat die Gemeinschaft bis heute keine Landtitel für ihr 300 Hektar großes Gebiet erhalten.

Im Oktober 2012 hatte ein Bundesgericht den Abzug der Marine aus dem Gebiet angeordnet. Jetzt liegt der Fall dem staatlichen Ombudsmann vor, der über ein Revisionsverfahren entscheiden muss. Er forderte die Marine am 8. Januar auf, zu den Vorwürfen der Geschwister dos Santos unverzüglich Stellung zu beziehen.

Am darauffolgenden Tag veröffentlichte eine Allianz aus Sozialbewegungen ein Manifest gegen die Übergriffe und verlangte die Anerkennung des Quilombos und Besitztitel für das betreffende Gebiet. Darüber hinaus wurde der Bau einer vom Marinestützpunkt unabhängigen Zufahrtsstraße zu der Siedlung gefordert.


"Militärdiktatur noch nicht zu Ende"

"In dieser Gemeinde hat man nicht den Eindruck, dass die Militärdiktatur zu Ende ist", erklärte die Anwältin Marisa Viegas von der Organisation 'Justiça Global', die den Fall von Rio dos Macacos bereits seit einem Jahrzehnt unterstützt. "Die Militärs verhalten sich gegenüber den Einwohnern represssiv." Die brasilianische Verfassung erkenne die Rechte der Quilombola zwar an, doch die Praxis sehe anders aus, erklärte die Juristin.

Die brasilianische Marine kündigte in einer Mitteilung an, zusammen mit der Staatsanwaltschaft die Vorwürfe gegen die beschuldigten Mitglieder der Marine transparent und unparteilich zu untersuchen. Sollten sich die Anschuldigungen der Geschwister dos Santos als richtig erweisen, werde man die verantwortlichen Militärs ihrer Ämter entheben. (Ende/IPS/kb/2014)


Links:

http://www.portaldaigualdade.gov.br/
https://www.facebook.com/pages/Sou-Quilombo-Rio-dos-Macacos/192286024204781
http://www.ipsnews.net/2014/01/descendants-slaves-report-military-abuses-brazil/
http://www.ipsnoticias.net/2014/01/descendientes-de-esclavos-denuncian-agresiones-militares-en-brasil/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 15. Januar 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Januar 2014