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INTERNATIONAL/335: Kolumbien - Nachforschungen bringen zehntausend staatliche Verbrechen unter der Regierung Uribe ans Licht (Teil 2) (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Kolumbien: Studie bringt zehntausend staatliche Verbrechen unter der Regierung Uribe ans Licht - Teil 2

Von Nicolás Herrera und Sergio Segura


(Buenos Aires, 8. Juni 2018, marcha/poonal) - Die abgestumpfte Gesellschaft: Omar Rojas wurde auch von einigen Leuten kritisiert, da er gelegentlich die gesamte Gesellschaft für die falsos positivos verantwortlich macht. Er begründet das wie folgt: "Als die Militärs ausrückten, um ihren Part im Krieg zu erledigen, haben ihnen alle gesellschaftlichen Gruppen zugejubelt; und die, die es nicht getan haben, haben geschwiegen. Vom Präsidenten abwärts haben das alle gefeiert: Die Kirche, die wusste was passierte, segnete weiterhin die Waffen, mit denen sie die Jungs ermordet haben. Auch die Industrie und der Handel begrüßten die Taten und die Medien gaben dem Militär enormen Raum, obwohl die Stimme der Menschenrechtsverteidiger*innen und verschiedener NGOs sich bereits erhoben hatte, und selbst aus den eigenen Reihen des Militärs Anzeigen kamen." Und er fährt fort: "Die kolumbianische Gesellschaft ist unsensibel, eine Gesellschaft, die die Toten nicht schmerzt, sondern die sich darüber freut. Ich war auf einer Veranstaltung auf dem Plaza de Bolívar in Bogotá zum Gedenken an die Opfer der falsos positivos, es waren nicht mehr als 150 Personen da. Wir haben die Opfer nicht begleitet, wir sind unsensibel geworden." Ohne Zweifel ist diese Unsensibilität Produkt des Krieges, die tief in den Charakter der kolumbianischen Gesellschaft eingedrungen ist. Rojas ergänzt: "Heute habe ich im Internet einen Kommentar von jemandem gelesen, dem die falsos positivos unter Uribe lieber seien, als kein Klopapier kaufen zu können; das ist die Philosophie eines Großteils der kolumbianischen Gesellschaft."


Die politisch Verantwortlichen

Eindrücklich weist der Autor Rojas darauf hin, das die Verfassung von 1991 besagt, dass die/der Präsident*in der Republik gleichzeitig auch der/die Oberbefehlshaber*in der Armee ist und als Chef*in trägt er/sie auch die Verantwortung für die Handlungen der Truppen. Und wer war der Oberbefehlshaber der kolumbianischen Armee von 2002-10? "Der Oberbefehlshaber, der für die 10.000 falsos positivos verantwortlich gemacht werden muss, weil sie mitnichten auf militärisches Versagen zurückzuführen sind, ist der Ex-Präsident Uribe", so Rojas. Seine Verteidigungsministerin war damals Marta Lucía Ramírez. Heute ist sie Vize-Präsidentin des uribistischen Präsidenten Iván Duque. Das erste was Ramírez als Verteidigungsministerin gemacht hat, war die Leistung der militärischen Oberbefehlshaber zu evaluieren und sie begann "die Kommandant*innen auf Grundlage der Anzahl der Verluste auf Seiten der Terroristen zu bewerten", erklärt Rojas. Der letzte Zivilist, der in der Regierung Uribes als Verteidigungsminister arbeitete, war der Noch-Präsident Juan Manuel Santos.


Offene Straflosigkeit

Der Wissenschaftler Rojas bestätigt, dass viele Untersuchungen über die falsos positivos, an deren Ermordungen etwa 4500 Soldat*innen beteiligt waren, in den Schubladen ziviler und militärischer Gerichte schlummern. Er weist nachdrücklich darauf hin, dass wahrscheinlich weder die politisch Verantwortlichen noch die Oberen des Militärs irgendeine Art von Strafe erhalten, nicht einen Tag im Gefängnis verbringen und "sauber" aus der Sache rauskommen werden. Der Staat hat sogar einen Fond zur Unterstützung angeklagter Militärs eingerichtet, doch für die Opfer wurde nichts dergleichen unternommen.

"Bei den außergerichtlichen Hinrichtungen wird nicht nach der intellektuellen Urheberschaft gefragt, sondern nur nach der praktischen Ausführung, was ziemlich lächerlich ist. Ein Offizier, der für 48 falsos positivos verurteilt wurde, sagte, dass er seine Taten nicht bereue; die Mütter und Familien der Opfer durchdringen kaum diese Situation der Straflosigkeit. So sind diese Familien für die nächsten 30, 40, 50 Jahre verdammt und die Täter werden noch nicht einmal fünf Jahre im Gefängnis verbringen. Und das schlimmste ist, dass auch wenn sie fünf Jahre einsitzen, diese Jahre auf ihre Rente angerechnet werden, weil der Staat ihnen weiterhin ihren Lohn bezahlt. Es ist eine Schande, dass es keine Gerechtigkeit gibt! Der kolumbianische Kongress ist verantwortlich, weil er die Wahrheit verleugnet hat, die Wahrheit ist das, was den Staat am wenigsten interessiert. Ich schäme mich", urteilt der Autor. Doch Rojas gibt auch an, dass nicht alle Militärs und Polizist*innen in die Knie gegangen sind und das einige von ihnen die Ersten waren, die Anzeige erstattet haben, noch vor den NGOs für Menschenrechte. Doch diese Soldat*innen und Unteroffizier*innen wurden zum Schweigen gebracht.

Ausgehend von den Berichten der Studie, vermutet der Forscher Rojas, dass uns eine Auslöschung der Vergangenheit bevorstehe. Das Verteidigungsministerium hat sich in das Nationale Zentrum für historische Erinnerung (Centro Nacional de Memoria Histórica) eingeklinkt und sich als Hauptakteur beim Aufbau des Erinnerungsmuseums (Museo de la Memoria) in Stellung gebracht. In diesen zwei Institutionen, wo die bitteren Tage der Gewalt der letzten 50 Jahre dargestellt werden, könnte die Geschichte der staatlichen Verbrechen und der falsos positivos ausgelöscht werden. Die Armee kann die Geschichte umschreiben und so die Mörder*innen als Held*innen darstellen.


Der Frieden und die Zukunft

Omar Rojas arbeitete 31 Jahre mit der Nationalen Polizei zusammen. Er ist Soziologe und Experte für öffentliche Sicherheit. Nach seinem Rückzug 2011, widmete er sich der wissenschaftlichen Lehre in Bogotá und Medellín sowie der akademischen Forschung im Institut für Soziohistorische Studien Fray Alonso de Zamora (Instituto de Estudios Sociohistóricos Fray Alonso de Zamora) an der Santo Tomás-Universität in Bogotá. Außerdem ist er als Berater in Angelegenheiten der öffentlichen Sicherheit tätig, vor allem in der Nationalen Schutzeinheit UNP (Unidad Nacional de Protección) des Inneministeriums für gefährdete Personen. Er arbeitet in dem Bereich Sicherheit und Schutz, der speziell für die Begleitung des Prozesses der Wiedereingliederung ehemaliger FARC-EP-Kämpfer*innen eingerichtet wurde.

Gerade in der UNP erlebte er sein blaues Wunder, eine Verschwörung, die darauf abzielte, dass die FARC (jetzt als neue politische Partei) nun selbst für ihre Sicherheit verantwortlich sein sollte, entgegen aller Vereinbarungen, die in Kuba getroffen wurden. Rojas: "Das Vorhaben bestand darin, ihnen die Beratung und Begleitung zu entziehen, also bin ich aufgestanden, weil ich mit der Entscheidung nicht einverstanden war. Denn das war wie ein Freifahrtschein dafür, die Ex-Guerillas zu ermorden, genauso wie es mit den Mitgliedern der linken Partei Patriotische Union (Unión Patriótica) in den 1980er und 90er Jahren gemacht wurde. Meine Loyalität gilt dem Friedensprozess, dafür haben sie mich berufen." Und er erzählt, dass die Militärs versucht haben an die Daten der Ex-Kämpfer*innen zu kommen und er die Kämpfer*innen warnen musste: "Da musste ich den FARC sagen, dass sie keine Dummköpfe sein sollen, weil sie es nicht gemerkt haben."

In Hinblick auf die Wahlen, weist Rojas auf die Gefahr der Weiterführung eines mafiösen Staates hin, der die Täter*innen der falsos positivos vor juristischen Konsequenzen schützt und nur gewisse gesellschaftliche Gruppen wirtschaftlich bevorteilt. Rojas weist darauf hin, dass Uribe mit Hilfe von Iván Duque wieder an die Macht kommen möchte. Mit Duque als Präsident, so Rojas, wäre Uribe vor jedwedem (inter)nationalen Urteil wegen der falsos positivos gefeit, ihm würde nichts passieren. Die Rückkehr Uribes an die Macht, vernichet nicht nur den Traum vom Frieden, sondern verhindert auch die notwendige juristische Aufarbeitung der Opfer außergerichtlicher Hinrichtungen. Von daher kommt auch die starke Abneigung der extremen Rechten und aus einigen Gruppen der Reserveeinheiten der Armee gegen den linken Präsidentschaftskandidaten Gustavo Petro. Sie setzten sich öffentlich für die Ermordung des progressiven Kandidaten ein und bezichtigten ihn ein "castro-chavistischer" Kommunist zu sein.

Angesprochen auf die Friedensgespräche mit der ELN hält Rojas fest, dass sie die Erfahrungen der FARC analysieren müssen, um nicht die gleichen Fehler zu machen und die bestehenden Lücken zu füllen. Rojas: "Sich bei der Form des Vertragsabschlusses nicht über den Tisch ziehen lassen zum Beispiel. Die FARC ist momentan zufrieden, weil sie Fahrzeuge haben, man gibt ihnen Dinge für ihre Sicherheit, aber das wird aufhören. Wenn Iván Duque als Präsident vereidigt ist, werden als erstes die Stellen für die FARC in der UNP mit den Ergebenen von Álvaro Uribe Vélez besetzt werden."


Der Preis für die Studie

Seine Nachforschungen über die falsos positivos und seine kritische Haltung in der UNP sind den Bewaffneten Kräften negativ aufgestoßen. Also begann die Verfolgung, er wurde auf der Straße fotografiert und von staatlichen Kräften bedroht. Ein Koordinator des Militärgerichts veröffentlichte sein Foto in den Sozialen Medien und nannte ihn "Verräter" und "Oberst der FARC". Unter diesem Druck musste er fliehen; Rojas dazu: "Ein alter Freund aus dem Militär ist zur UNP gekommen und hat mir gesagt, dass ich abhauen solle, weil sie mich ermorden wollen. Ich sagte ihm, dass, wenn ich solch einer Gefahr ausgesetzt bin, ich binnen eines Monats weggehen werde, aber er sagte ich müsse sofort gehen. Noch in derselben Nacht habe ich das Land verlassen."

Für Omas Rojas, der ins Exil gezwungen wurde, ist klar, dass die Verfolgung mit seinen Nachforschungen zusammenhängt: "Als ich eine Untersuchung über die Ermordung von Polizist*innen in den 1990er Jahren gemacht habe, hat niemand Einspruch erhoben, jetzt, wo es um die falsos positivos geht, wüten viele Polizist*innen, Militärs und Politiker*innen von Uribes Partei (Centro Democrático). Als Wissenschaftler ist es meine Pflicht Studien über jene Phänomene zu erheben, die die Gesellschaft in einem bestimmten Moment betreffen."

"Das Problem der Polizei und des Militärs in Kolumbien ist, dass sie vergessen haben, dass sie sich der politischen Verfassung und der kolumbianischen Bevölkerung gegenüber loyal verhalten müssen, stattdessen schwören sie den Kriminellen die Treue. Illoyal sind all jene, die mich bedrohen, weil sie wissen, aus welchem Büro die Strategie der falsos positivos gekommen ist. Einige Ex-Mitglieder der Bewaffneten Kräfte haben angefangen auszupacken, wir sind ehrlich und verfechten die Menschenrechte", bekräftigt Rojas.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2018

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