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ES GESCHAH.../004: Der Anekdotenkammer vierte Tür (SB)


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Niemand sollte es einem Schachmeister übelnehmen, wenn er die Gelegenheit mit Macht am Schopfe packt und seine Partien, diese Kinder von Genius und Zufall, einem erlauchten Publikum vor Augen führt. Man verzeihe ihm auch den Nachdruck seiner Worte, ist er doch zutiefst beseelt von dem Wunsche, seine Zuhörer in die Gefilde seines Denkens hinüberzulotsen. Ganz in den Mittelpunkt der Handlung rückt der Meister die Spielzüge und ist doch selbst wie ein Behexter gefangen in seiner eigenen Erzählung. Nichts anderes sieht er mehr als diese unsichtbar im Raum schwebende Erinnerung, der er Gestalt verleihen möchte. Die Gedanken, die er während der Partie gedacht, die Bangigkeiten, die sein Herz auszustehen hatte in der Furcht, die Sorgfalt seines Planes an irgendeiner Stelle vernachlässigt und verletzt zu haben, in all das will er seine Zuhörer eingeweiht wissen. Und so gilt sein Eifer, das Gespenst, das Vergangenheit von Gegenwart trennt, in lauter Atome zu zerfetzen. Zu diesem Zwecke läßt seine Beharrlichkeit kein Mittel der Dramatisierung aus. Es ist schlicht so, daß er verstanden werden möchte.

Verstanden werden wollte in unserer heutigen Anekdote der vierten Kammer auch der Berliner Meister Rudolf Elstner, und ganz besonders, weil er in Aachen, wo 1935 die Deutsche Meisterschaft ausgetragen wurde, die Tabellenspitze erstürmt und bis zum Ende behauptet hatte. Allabendlich zog es ihn daher nach jedem Spieltag mit jauchzender Seele in ein bekanntes Schachcafé, an das sich heute niemand mehr erinnern kann, wo er, ganz Maitre de plaisir, umringt von neugierigen Blicken und gespitzten Ohren, den Hergang der Runden mit erfindungsreichem Witz zum besten gab. Der gebürtige Berliner liebte es, in seinen Erzählungen bis an die Grenze gerade noch schicklicher Schwatz- und Gefallsucht vorzupreschen. Wer je das Vergnügen hatte, einen Menschen von Berliner Gemütsart sprechen zu hören, der weiß, wovon hier die Rede ist.

So ging das von Abend zu Abend, von Turnierrunde zu Turnierrunde, und Elstner fand stets eine geneigte Zuhörerschaft vor, zumeist aus Laien und einigen erfahrenen Amateuren. Eines Abends nun betrat Elstner das Café mit einem Gesicht, hell und glänzend wie die Morgenröte selbst. Ein Ausdruck seliger Verzückung ruhte auf seinen Mienen.

Rasch wurde der Tisch von allen profanen Nebensächlichkeiten freigeräumt: Weg mit den Weingläsern, den Tellern mit Kuchenresten, hinfort mit den leeren Salatschalen und den Aschenbecher an den Rand geschoben. Erhaben thronte nun das Brett auf der dunklen Tischmitte, und nachdem die Figuren mit fliegenden Fingern auf ihre Ausgangsfelder gestellt waren, kam der unvermeidliche, große Augenblick. Elstner holte tief Luft, schürzte wie zur gymnastischen Einübung die Lippen, bis sie geschmeidig genug waren, und wer aufmerksam hinsah, der konnte in seinen Augen die Spur tränenfeuchter Erregung erkennen. Ein kurzes Besinnen noch, und da sprudelten die Worte in Bächen und Fontänen auch schon aus ihm heraus.

Mit Worten, die kaum angemessen in die kalte Sprache des Berichts zu übersetzen sind, schwärmte er von seinem Sieg, den er infolge eines überaus tiefdurchdachten Bauernopfers erzielt hatte. Er schwor auf Himmel und Hölle, nie einen besseren Zug in seinem Hirnkasten ausgebrütet zu haben, der es mit der Konsequenz und Folgerichtigkeit ebendieses Opferzuges aufnehmen könnte.

Kaum hatte er mit erhobenem Zeigefinger die einzelnen Etappen seines Plans erläutert, da huschten im nächsten Augenblick seine Finger über das Brett zur Materialisierung seiner Worte, die Figuren in jene schicksalhafte Konstellation zwingend, wo die Opferung jenes weihevollen Bauern die Geschicke der Partie unwiderruflich zu seinen Gunsten transformiert hatte.

Still schweigend wie geduckte Beutetiere lauschten die Zuhörer seinen magnetisierenden Ausführungen. Und Elstner gefiel sich darin, die Dramatik der kritischen Stellung zu einer endzeitlichen Prophezeiung auszudichten, in die hinein er seinen Opferzug wie ein Hohepriester pflanzte, ein Opfer, das, zurückgewiesen, in allen Varianten zum Untergang führen mußte, aber dessen Annahme nicht minder brillant seinen Sieg forcierte.

Wie ein Alchemist um einen Schmelztiegel brachte der Berliner Meister die wundersame Essenz seiner Überlegungen zum Kochen. Doch dann, für einen Augenblick, geriet er ins Taumeln, als ihm einige Stimmen Paroli zu bieten wagten, darauf verweisend, daß sein Gegner sich mit diesem und jenem Zug hätte gescheiter verteidigen können, daß der Ausgang der Partie vielleicht keineswegs so klar und unausweichlich in eine Niederlage münden müßte, wie es den Anschein hatte.

Dergleichen Frevelhaftigkeiten widerlegte Elstner mit flinker Hand und Zunge, indem er Hunderte von Kombinationsfolgen auf das Brett warf, die die kausale Notwendigkeit seines Opfergedankens bis in die letzte Faser klar belegten, ja selbst die Vieltausendfalt denkbarer Alternativen war zuletzt derart kleingeredet, daß nur noch die eine Quintessenz aufschimmerte: Das Bauernopfer war bis in den letzten Winkel hinein korrekt!

Indes, wie er so hitzig und begeisterungsvoll seine Beweisführung darlegte, stieß er unbemerkt gegen eine Figur, die vom Tisch auf den Boden purzelte. Nur dem Kellner, einem einfältigen schlichten Burschen, war dies aufgefallen, und mit der für seinen Beruf eilfertigen Dienstbeflissenheit bückte er sich nieder, hob die Figur auf und überreichte sie Elstner mit den unüberlegten Worten: "Sie haben einen Bauern verloren."

Wie Ketzerei klang dies achtlos fallengelassene Wörtchen "verloren" in den Ohren des Meisters, daß er brüsk den Kopf herumwarf und mit strenger Miene, als gelte es, ein Gespenst in seine dunkle Grotte zurückzujagen, entgegnete: "Gar nichts habe ich ... verloren! Den Bauern habe ich ... geopfert!"


Erstveröffentlichung am 24. April 1995

28. Februar 2007


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