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ES GESCHAH.../010: Der Anekdotenkammer zehnte Tür (SB)


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Rivalität unter Großmeistern gibt es seit Schachgedenken. Meistens hält sie sich jedoch kleinlaut zurück, äußert sich bestenfalls in verkniffenen Mienen oder durch stechende Blicke. Wenn hin und wieder doch Worte fallen, dann werden sie in aller Regel in diplomatischen Noten versteckt, treffen aus dem Hinterhalt und kratzen eher am Ehrgefühl, als daß man offenen Visiers zum Kampf der Argumente schreitet.

Zwischen Siegbert Tarrasch und Emanuel Lasker beispielsweise gab es einige Jahre lang und verstärkt in der Zeit um ihren Weltmeisterschaftskampf 1908, den Lasker souverän mit 10,5:5,5 für sich entschied, bärbeißige Wortattacken. Der stets um eine Spur zu streng und schulmeisterlich mit seinen Zeitgenossen verfahrende Tarrasch konnte sich mit der eher gelassenen Philosophenart Laskers nicht ins Einvernehmen setzen. Stets sind es Animositäten persönlicher Verstrickung, die für Hader und Streit sorgen, denn auf dem Schachbrett selbst gibt es weder Raum noch Zeit für querelende Persönlichkeitskonflikte. Für die Intrige ist das Brett ein Sperrbezirk, wohl aber begegnet man hier zuweilen ihrem kleinen Bruder, dem Trick.

So war es für den indischen Herausforderer Viswanathan Anand gewiß ein Schlag ins Kontor, als der Titelverteidiger Garry Kasparow in New York mit der sizilianischen Drachenvariante ein unerwartetes Fahrwasser betrat. Auch der exzentrische Robert "Bobby" Fischer griff geschickt in die Trickkiste, als er in seinem Herausforderungskampf 1972 in Reykjavik sein Eröffnungsrepertoire immens ausdehnte, um den für seine "Gemütlichkeit" bekannten Weltmeister Boris Spassky in Verlegenheit zu bringen.

Ziel der heutigen Anekdote ist beileibe nicht, den Bißfleiß, der zuweilen um das Schachbrett herum tobt, zum Sittengemälde zu erheben. Die heutige Tür lädt den geschätzten Leser vielmehr zu einem Vorfall ein, der zwar einen Affront transportierte, aber mit soviel Charme gestrickt war, daß er im Zeichen der Humoreske durchaus verdient, anekdotenreich in unserer zehnten Kammer erzählt zu werden.

Wandern wir in Gedanken zurück ins Jahr 1977. In Belgrad sitzen sich der "russische Bär" Boris Spassky und Viktor "der Schreckliche" Kortschnoj gegenüber. Bringen wir uns nochmals in Erinnerung, daß Kortschnoj ein Jahr zuvor nach dem von IBM veranstalteten Turnier in Amsterdam überraschend um politisches Asyl gebeten hatte. Die Sowjetunion, die von Kortschnojs medienwirksamen Vorwürfen ob ihrer menschenunwürdigen Politik schwer abgekanzelt wurde, schlug auf einem anderen Terrain zurück.

Überall, wo Kortschnoj in den nächsten Jahren gegen seine ehemaligen Landsleute spielte, traf er auf arktisch gefrierende Ablehnung, auch Worte des Zorns und der Anfeindung wechselten ihren Besitzer. Der kämpferisch resolute Kortschnoj war jedoch nicht auf den Mund gefallen und wußte die Zeichen der Zeit durchaus für seinen persönlichen Rachefeldzug gegen ein System zu nutzen, das seinen Sohn nach Sibirien in die Verbannung geschickt hatte und seine Familie als Faustpfand hinter dem Eisernen Vorhang zurückhielt.

Spassky, der später selbst außer Landes ging, war nicht der Menschenschlag, der in offener Feindseligkeit um sich schlug. Dafür war er zu stoisch veranlagt. Sein Co-Trainer im Sekundantenteam 1972, der russische Theoretiker Nikolai Krogius, bezeichnete Spassky mit einem freundlichen Stups gerne als "genialen Faulpelz".

Reibereien von Stirn zu Stirn lagen Spassky gewiß nicht. Und dennoch konnte er sich einen Ulk nicht verkneifen. Der für seine moderate Zurückhaltung bekannte und hochgeschätzte Spassky beschritt eingedenk seiner gemütlichen Ader einen eher symbolischen Weg, wie er Kortschnoj seine Geringschätzung zum Ausdruck bringen konnte. Die Idee war schnell gefaßt, denn der Sinn für Humor war Spassky sicherlich, ebenso wie das Schachtalent, mit in die Wiege gelegt worden.

Die Zuschauer im Belgrader Turniersaal fielen jedenfalls aus allen Wolken, als der charmante Spassky trotz angenehmer Saaltemperatur mit dicker Wollmütze und Sonnenblende zum Brett hintaperte, wo Kortschnoj sichtlich überrascht und mit erwachtem Widerwillen bereits ungeduldig auf ihn wartete. Die Kiebitze kringelten sich, denn sie hatten die Anspielung und den Stich durchaus begriffen. Spassky trat als Sinnbild des russischen Winters auf und gab Kortschnoj damit zu verstehen, daß Gevatter Rußland mit seinem unartigen Kind, also Kortschnoj, grollte.

Entgegen seiner eingefleischten Art, dem Streit offen zu begegnen, zog sich Kortschnoj hinter eine grimmigen Fassade zurück und suchte seinen Kontrahenten auf dem Brett in Stücke zu reißen. Spassky dagegen erhob sich jedesmal nach Vollzug seines Zuges vom Stuhl und durchwanderte wie gedankenverloren die Halle auf der Suche nach einem angenehmen Zeitvertreib, bis er erneut an die Reihe kam, seinen nächsten Zug zu machen.

Kortschnoj kochte zwar innerlich, riß sich aber nach außenhin zusammen. Seine Züge fielen in diesen Stunden fürchterlich aus. Seine ganze Wut kulminierte in Kombinationen voll grausamster Rache. Spassky, der sein Spiel sichtlich zu weit getrieben hatte, geriet in diesem Wettkampf unrettbar an den Abgrund. "Der Schuß traf den Jäger selbst", kommentierte ein Schachjournalist später Spasskys Niederlage.

Vielleicht lag Spassky aber auch gar nicht daran, den Wettkampf zu gewinnen. Vielmehr schien es, als ob er Genugtuung daraus zog, Kortschnoj so weit gebracht zu haben, daß dieser im stillen einer Explosion entgegendrängte, die sich jedoch nicht entladen konnte, da Spassky immer wieder vom Brett verschwand. Mögen es auch Kindereien gewesen sein, unangemessen für ein Spiel, das Verstand und logisches Denken gebietet, die Psyche des Menschen gleicht zuweilen eben doch den Bocksprüngen eines Narren.

Spassky zahlte mit Vergnügen den Preis für sein neckisches Spiel. Bös gemeint hat er es sicherlich nicht, wenngleich Kortschnoj in dieser frühen Zeit seiner Emigration im besonderen ansprechbar war für solche Eskapaden. Der gereifte Kortschnoj unserer Tage hätte diesen Vorfall gewiß in anderer Weise entwaffnet und die Verulkung mit einem nicht minder gelungenen Scherz erwidert. Vielleicht wäre er am nächsten Tag mit Hut und Gamsbart erschienen, um Spassky die Show zu stehlen.


Erstveröffentlichung am 23. November 1995

04. März 2007


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