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SCHACH-SPHINX/02785: Vertreter der edleren Kunst (SB)


Der Stil von Anatoli Karpow gehört sicher nicht zu den schillerndsten in der Schachgeschichte. Nüchtern, auf pragmatische Ziele gerichtet, aufwandsarm, solide, fast schon bieder, unpompös, unnötige Verwicklungen meidend, sparsamer Umgang mit den Kräften, etappenweises Vorgehen - all das hat nicht gerade dazu beigetragen, daß viele seiner Partien stehende Ovationen erhielten. Und doch ist sein genügsamer Partiestil nicht einzigartig unter den führenden Schachköpfen in der Historie des Königlichen Spiels. Auch die Ex-Weltmeister Emanuel Lasker und José Capablanca oder Tigran Petrosjan pflegten in der Eröffnungsphase und im frühen Mittelspiel sehr bescheiden zu agieren. In kritischen Situationen konnten sie zwar allesamt glänzende Kombinationen hervorzaubern, aber das schien ihnen nie das Wichtigste zu sein. Kombinationen bildeten bei ihnen wie auch bei Karpow den Abschluß, nie waren sie das Ziel ihrer Planungen. Man wird vielleicht in diesem Punkte eine Neubewertung vornehmen müssen. Als Menschen, die ihre Welt im wesentlichen mit den Augen erfassen und sich am Sichtbaren orientieren, sind natürlich auch alle Einschätzungen für das, was ein interessantes Schachspiel zu sein hat, über diese Achse bestimmt worden. Da das Schach allerdings ein reines strategisches Gedankenspiel ist, zumindest auf höherer Ebene, und Effekte wie gezielte Kombinationen bestenfalls Begleitumstände darstellen, offenbaren sich in den positonellen Protagonisten wie Karpow durchaus die Stellvertreter der edleren Form der Schachkunst. Im heutigen Rätsel der Sphinx aus dem Turnier in Reykjavik 1991 spielte Karpow gegen den jugoslawischen Großmeister Ljubomir Ljubojevic. Letzterer führte die schwarzen Steinen und zog nun 1...Sf6-e4! Karpow erwiderte darauf 2.Lg5xd8. Nun, Wanderer, hätte er mit 2.Dd6xc6 nicht eine Figur gewinnen können?



SCHACH-SPHINX/02785: Vertreter der edleren Kunst (SB)

Karpow - Ljubojevic
Reykjavic 1991

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Der holländische Großmeister Jan Timman mag vielleicht einen Augenblick lang mit dem Gedanken, 1...Lh8xe5 zu ziehen, gespielt haben, aber aus gutem Grunde sah er davon ab, denn Weiß hätte andernfalls den kühnen Bauernraub durch den Prachtzug 2.Dh4-e7!! widerlegt, zum Beispiel 2...Le5-g7 3.Td8xa8 Lb7xa8 4.Td1-d8 oder 2...Le5-d6 3.Td1xd6! c7xd6 4.De7-f6 mit jeweils unabwendbar drohendem Mattgewinn.


Erstveröffentlichung am 14. Juni 1999

01. April 2010