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SCHACH-SPHINX/05438: Ein schweigsamer Denker (SB)


Der russische Großmeister Isaak Boleslawski war selbst unter den schillernden Persönlichkeiten der Schachbranche noch eine erstaunlich skurrile Gestalt. Sprichwörtlich an ihm war seine Wortkargheit. So stellte ihn der argentische Großmeister Miguel Najdorf beim Kandidatenturnier 1953 die Frage: "Spielen Sie auf Gewinn?" Boleslawski blickte verwundert auf, kräuselte die Stirn und erwiderte in sattsam stoischer Weise: "Nein." Daraufhin senkte er den Blick wieder auf das Brett hernieder und schien ganz in sich versunken. Najdorf hingegen war immer schon ein redseliger Charakter gewesen und so stellte er eine zweite Frage: "Spielen Sie auf Verlust?" Verblüffung war in Boleslawskis Augen zu lesen, als er den Kopf erhob, und doch wich er um keinen Deut von seiner ruhigen Gemütsart ab und entgegnete erneut: "Nein." Kaum hatte er sich wieder den Figuren auf dem Brett zugewendet, als Najdorf, nun bereits sichtlich verärgert, zur dritten Frage ausholte: "Also auf Remis?" Wer nun mit einer Redesalve von Boleslawski gerechnet hatte als Reaktion auf die Aufdringlichkeit des argentinischen Großmeisters, der sah sich auch zum dritten Male enttäuscht. Den Kopf zur dritten Antwort erhebend, sagte Boleslawski mit nüchterner Stimme: "Nein, ich will spielen." Mitten unter einer Rotte Schachmeister fiel Boleslawski stets durch seine beharrliche Schweigsamkeit auf. Daß er in den 40er und 50er Jahren einer der hellsten Köpfe der Schachwelt war und ein geradezu enzyklopädisches Gedächtnis selbst für die kleinsten Details der Eröffnungstheorie besaß, war die eine Seite seiner Medaille. Die andere blieb bis zu seinem Tod 1977 seine kauzig schweigsame Art. So seltsam, wie er gelebt hatte, war auch sein Tod. Als der 57jährige Fischfutter für seine Katze kaufen wollte, kam er auf den eisglatten Stufen des Fischgeschäfts aus der Balance, stürzte schwer und brach sich dabei ein Bein. Ins Krankenhaus eingeliefert, stellten die Ärzte noch eine Lungenentzündung fest. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus brach der schweigsamste Denker der Schachwelt zwanzig Minuten später tot zusammen. Das heutige Rätsel der Sphinx stammt aus der Stadtmeisterschaft von Moskau 1943. In der Diagrammstellung fand Boleslawksi mit den weißen Steinen dank seiner präzisen, unverschnörkelten Spielweise eine schöne Gewinnführung, Wanderer.



SCHACH-SPHINX/05438: Ein schweigsamer Denker (SB)

Boleslawski - Ragosin
Moskau 1943

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Der schwarze König stand einam auf g7, verlassen von seinem Troß und zitternd im Fadenkreuz der gegnerischen Figuren. Der holländische Meister van der Wiel erlöste ihn von seinen Qualen und zog 1.Sc7-e8+! Ein guter Schuß, denn 1...Th8xe8 verbot sich wegen 2.f5-f6+ Also mußte sein Landsmann Ree mit seinem König ziehen, doch nach 1...Kg7-g8 folgte kurz und fast schmerzlos 2.Se8-f6+ Kg8-g7 3.Dh5xh8+! und Schwarz gab auf, denn nach 3...Kg7xh8 4.Tg1-h1+ Kh8-g7 5.Th1-h7+ Kg7- f8 6.Th7-h8+ hätte er sich nur aussuchen können, ob er nach 6...Kf8-e7 7.Th8-e8# oder nach 6...Kf8-g7 7.Th8-g8# mattgesetzt werden wollte.


Erstveröffentlichung am 29. April 2002

08. April 2015


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