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SCHACH-SPHINX/05529: Der Turban des Sultans (SB)


Sein oder Nichtsein des Abendlandes standen auf dem Spiel, als die osmanischen Heere im September 1683 vor den Toren Wiens den Belagerungsring enger und enger zogen. Alles, was sich mit europäischer Denkungsart nur verbinden ließ, war in Gefahr begraben zu werden unter dem Sultansturban: die Kunst, jahrhundertelang zu höchsten Blüten emporgewachsen, die Kultur, gerade im Aufbäumen gegen die mittelalterliche Feudalzeit, und das Selbstverständnis freischaffender Menschen. Auch die Schachkunst stand kurz davor, sich aus den Fesseln der Vergangenheit zu lösen. Das alles durfte nicht untergehen und sollte es auch nicht. Über diese denkwürdigen Tagen, als der osmanische Angriff auf das Herz Europas zum zweiten Mal abgeschmettert wurde, ist viel und oft märchenhaft Verzerrtes erzählt worden. So wollen wir einmal einen Blick in das Tagebuch eines Zeremonienmeisters der Hohen Pforte werfen, der damals als Augenzeuge der Niederlage dabei war: "Auf der Seite des Islam begannen einzelne Abteilungen der Vorhut Plänkeleien auf dem Berg. Als der Kampf hitziger zu werden anfing, rückte der Kethüda [hoher militärischer Beamter - die Red.] des Großwesirs mit den bei ihm befindlichen Leuten des Gefolges und mit den Segban [Hilfstruppen - die Red.] zu Fuß und zu Pferd gegen die Feinde, griff sie an und lieferte ihnen ein Gefecht, in dem den Giauren [Ungläubige - die Red.] mehrere Gefangene, Köpfe und Fahnen abgenommen wurden. Dann unternahmen die Giauren einen Sturmangriff und drängten die Unseren aus ihren Stellungen; darauf gingen die Unseren zum Gegenangriff über und trieben die Giauren wieder die Anhöhen hinauf. Schließlich stürmten die Giauren, das Fußvolk mit seinen spanischen Reitern vorne und dahinter die Reiterei wie wildgewordene Schweine auf die Unseren los und drängten sie bergab bis in das zerstörte Dorf hinunter. Dort ging der Kampf noch eine Zeitlang hin und her, und dann konnten die Schurken, die in dichtgedrängten Massen angriffen, links und rechs durchbrechen und griffen nun die Streiter des Islam von allen Seiten an. Sie führten ihre leichten Feldgeschütze aufgeprotzt mit und überschütteten aus ihnen das Heer des Islam mit einem Hagel von Geschossen ... Als nun die Truppen um den Großwesir sahen, wie der Feind auf beiden Seiten stürmend vordrang und das Heer des Islam sich zur Flucht zu wenden begann, da schwand jedem von ihnen die Kraft und die Lust zu Kampf und Streit, und es stellten sich Anzeichen jener Verwirrung ein, die immer eine Niederlage im Gefolge hat." Ohne die Standhaftigkeit der Wiener Garnison und der zu Hilfe eilenden europäischen Truppen hätte das heutige Rätsel der Sphinx vielleicht nie abgedruckt werden können, denn die Türken waren in erster Linie Krieger, selten aber Schachkünstler und - spieler. Mit den weißen Steinen hatte Wladimir Kramnik zuletzt 1.d4-d5! gezogen. Anders als bei den Osmanen glückte sein Durchbruch jedoch. Als sein Kontrahent Ehlvest gleich im Anschluß 1...e6xd5 erwiderte, folgte der zweite schachmilitärische Glanzzug. Welcher war es, Wanderer?



SCHACH-SPHINX/05529: Der Turban des Sultans (SB)

Kramnik - Ehlvest
Riga 1995

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Meister Waganjan hatte den Bogen seiner Stellung arg überspannt, als er 1...Sc6-b4 zog und seinem Kontrahenten Garry Kasparow damit die Möglichkeit einräumte, mittels 2.g6xh7+ Kg8-h8 3.Lf4-e5+ f7-f6 4.Se4xf6! Le7xf6 5.Le5xf6+ Tf8xf6 6.a3xb4! Tc8xc2 7.Td1-d8+ die Partie zu gewinnen.


Erstveröffentlichung am 28. Juli 2002

08. Juli 2015


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