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SCHACH-SPHINX/05586: Spaziergang durch die Anonymität (SB)


Gesichtslos ist die Notation der Partien. Würden auf dem Partieformular keine Namen stehen, kaum jemand könnte Rückschlüsse auf die Urheber ziehen. Vielleicht, daß eine bestimmte Spielführung in engumgrenzten Problemlagen darauf schließen ließe, daß dieser oder jener Meister die Partie gespielt habe. Indes, mit Sicherheit läßt sich das unmöglich sagen. Nur Behauptungen sind aufzustellen. Dieses Fehlen von Merkmalen mit unverkennbarer Signatur ließ Hermann Hesse in seinem berühmten Werk 'Der Steppenwolf' einem prophetisch dreinschauenden Greis die Worte sagen: "Wir tragen hier keine Namen, wir sind keine Personen. Ich bin Schachspieler. Wünschen Sie Unterricht über den Aufbau der Persönlichkeit." Das Schachspiel - ein Spaziergang durch die Anonymität? Fassadentrug nur, wo persönliche Werte fehlen? Im Sport hat diese wachsende Entpersönlichung längst Einzug gehalten. Die Namen und Gesichter gehen, was bleibt ist die Zahl. Zentimeter nach oben oder in die Länge und Zeiteinheiten dominieren, was ursprünglich im rituellen Rahmen als Streit der Körperkräfte begonnen hatte. "Sie beten an den Leistungsgott, der sie mit toten Maßen lockt", heißt es in einem Liedgut. Der Pfeil der Kritik zielt auf ebenjene Verselbständigung, die selbst entschiedenen Sportfreunden Unbehagen bereitet. Im Schachspiel hinkt diese Entwicklung ein wenig hinterher, doch auch hier sind die Zeichen untrüglich. Kaum jemand interessiert sich heutzutage noch für den Tiefblick in ein Stellungs- oder Eröffnungsproblem. Der Konsument von Sportnachrichten will nur noch wissen, gewann Kasparow oder verlor er, und wenn, gegen wen? Kurzatmigkeit und streßfreie Darstellung der Ereignisse, das Niveau der Berichterstattung geht zum Teufel. Eine Ursache für die zunehmende Gesichtslosigkeit im Bereich der Gazetten dürfte mit Sicherheit darin zu suchen sein, daß ein Großteil der alten Meister inzwischen gestorben ist und die jungen gar nicht daran denken, ihre heilige Zeit für "Überflüssiges" zu opfern. Hesse besaß wohl einen prophetischen Blick für den Weg, auf dem sich das Schachspiel entwickeln sollte. Aber zurück zum heutigen Rätsel der Sphinx, wo Meister Marcel Duchamp mit den weißen Steinen das latente Gleichgewicht zu seinen Gunsten verschob. Wie schaffte er dies, Wanderer?



SCHACH-SPHINX/05586: Spaziergang durch die Anonymität (SB)

Duchamp - Kahn
Paris 1932

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Cholmow zog 1...Dh3-g4+! und Keres, der "ewige Zweite", schaute betrübt drein, denn nach 2.f3xg4 wäre die Partie Remis durch Patt gewesen. Verschmäht er die Dame jedoch, folgt 2...Dg4xa4 mit ebenfalls unvermeidlichem Remis.


Erstveröffentlichung am 23. September 2002

03. September 2015


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