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SCHACH-SPHINX/05952: Labyrinth der vielen Unwägbarkeiten (SB)


Der Beruf des Schachlehrers gehört der Vergangenheit an. Heutzutage nimmt kaum noch jemand Privatunterricht bei einem namhaften Meister, um sich unter kundiger Führung durchs Labyrinth der vielen Unwägbarkeiten leiten zu lassen. Manchem alten Herrn hat diese Tätigkeit früher zum harten Brot des Daseins die Butter beschert. Für den Novizen allerdings, der partout nicht begreifen wollte, daß die Abenteuer beispielsweise von Robinson Crusoe und Freitag weniger spannend sein sollten als das Einpauken von Varianten und Spielsystemen, bedeutete es oft eine Tortur. Mit strengem Blick saß der Lehrer am Brette, schweigend, wie es die Art solcher Menschen war, und so, als wollte er tief ins Gehirn seines Schützlings hineinblicken, hoben sich seine Augen von den Figuren auf und wanderten zum Gesicht des jungen Schachkadetten. Dann ertönte im gelehrigen Ton: "Schärfe deinen Verstand an der Zweckmäßigkeit der Züge." Stille wieder und tiefes Brüten. Kaum hatte der Knabe einen Zug gefunden, von dem er annehmen mußte, er sei der zweckdienlichste überhaupt, da grunzte der alte Herr, wischte sich über seinen ehrwürdigen Bart und zerstörte den ach so stolz errichteten Gedankenbau. "Berauschend war das nicht gerade, aber aller Anfang ist schwer." Wenige Züge später war die Stellung des Knaben aufgerissen, die gegnerischen Figuren drangen durch die Lücken und entthronten dessen Majestät. So ging das von Woche zu Woche. Keine Atempause dazwischen, kein Wort des Trostes, immer nur dieser kalte, mit Vernichtungskraft aufs Brett geworfene Blick des Alten. Wie beschränkt und dumm kam sich der Eleve vor und sollte erst viel später erfahren, daß keine Geste des Meisters, keine Mahnung verschwendet war. Nichts wird so sehr mißverstanden wie das Lernen. Auch Alexander Aljechin mußte erst durchs Dornengestrüpp der Kritik gehen, ehe er, wie im heutigen Rätsel der Sphinx, scheinbar wie aus dem Ärmel geschüttelt, Kombinationen von zweckreiner Schärfe aufs Brett zauberte. Die schwarze Stellung schien gefestigt und robust genug zu sein, doch das entscheidende Tor war nicht verriegelt worden, Wanderer.



SCHACH-SPHINX/05952: Labyrinth der vielen Unwägbarkeiten (SB)

Aljechin - Grünfeld
Semmering 1926

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Der Vogel mochte flattern, wie er wollte, er hing am Leine. So erging es auch Meister Kupreitschik, nachdem Jusupow 1...Sf6-d5! gespielt hatte. Annehmen durfte er das Opfer nicht. Nach 2.e4xd5 Dd8xd5 wäre die weiße Stellung rasch in sich zusammengestürzt. Also Gegenangriff, sagte sich Kupreitschik, mit 2.Dd1-h5. Doch der Vogel machte bloß Wind. Für Jusupow ein leichtes, ihn in den Vogelkäfig zu stecken: 2...Sd5-e3 3.Ke1-e2 g7-g6 4.Dh5-h6 - 4.Dh5-h4 Lb4-e7 5.Dh4-h6 Se3-g4 und die Dame ist gefangen - 4...Dd8-d7 5.Dh6-h4 Lb4xd2 6.Ke2xd2 Sc6-e5 7.Sh3-g5 Tf8-f2+ 8.Kd2-c1 Se5xd3+! 9.Kc1-b1 Sd3xb2 und Weiß gab auf.


Erstveröffentlichung am 20. September 2003

08. September 2016


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