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SCHACH-SPHINX/06232: Der Pedant unter den Großmeistern (SB)


Von großen Schachmeistern wird gemeinhin angenommen, sie besäßen eine überschäumende Phantasie, steckten voll berstender Einfälle und seien gesegnet mit einem kühnen Auge für Außergewöhnliches. Bei einigen Meistern trifft diese Vorstellung sicherlich zu. Es ist schon eine seltene Gabe, die Figuren auf dem Brett zu einem entscheidenden Vorteil zu manövrieren, auch wenn der Weg dahin noch so verborgen ist. Phantasie ist der eine Flügel, der zur Meisterschaft führt, der andere ist kaltes logisches Verständnis, eine Art von Pedanterie, die jeder Verwicklung aus dem Wege geht und nicht den Ehrgeiz kennt, in den schillernden Farben einer halsbrecherischen Kombination siegen zu müssen. José Capablanca, Weltmeister von 1921 bis 1927, war alles andere als phantasievoll. Sein Stil war eher knöchern, robust durch ein festes Gerüst von einfachen, soliden Zügen. Auf Seilakte ließ er sich nicht zu. Der Erfolg der kleinen Schritte war sein Metier, und daran hielt er fest bis an sein Lebensende. Sein Vorgänger auf dem Thron, Emanuel Lasker, schrieb einmal über das Eigentümliche von Capablancas Siegespartien: "Capablancas Phantasie ist gezügelt. Er will begreifen. Der Gegner mag tasten; er selbst will sehen, wohin er tritt. Wir sind gewohnt, die großen Genies uns als Tastende vorzustellen, die hellseherisch schauen, was den anderen verborgen. Möglich, daß Capablanca das Hellseherische bei sich unterdrückt hat - ist doch die Gefahr der Fehlschläge dabei übermäßig groß. Möglich auch, daß sein Genie gerade auf das Praktische und Logische gerichtet ist, daß er nur in diesem Betracht ein Hellseher zu sein verlangte. Aber bei allem scheint es mir, daß Capablancas Phantasie nicht den großen und freien Flug hat." Im heutigen Rätsel der Sphinx wollte ihn der amerikanische Großmeister Marshall mit einem gewagten Gambit in die Verwirrung stürzen, aber Capablanca behielt seine Sachlichkeit und verwertete nach dem letzten gegnerischen Zug 1...Te8-e3 seinen Vorteil mit exakt logischem Spiel. Also, Wanderer, kühl und nüchtern wie Capablanca!



SCHACH-SPHINX/06232: Der Pedant unter den Großmeistern (SB)

Capablanca - Marshall
New York 1918

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
In Endspielen wie diesen ist es immer ratsam, möglichst viel Material abzutauschen, um dann den Mehrbauern problemlos zu verwerten. Nona Gaprindaschwili spielte also 1.Te4-c4! Tc5xc4 2.Dd3xc4+ Kc7-b6 3.Dc4- b3+ Kb6-c7 4.Db3-c4+ Kc7-b6 - Zeitnotgeplänkel - 5.Dc4-d5 Df6-g6 6.Dd5- d3 Dg6-f6 7.Dd3-e3+ Kb6-c7 8.De3-a7+ Kc7-c6 9.Da7-a6+ Kc6-d5 10.Da6- b5+ und Schwarz gab auf, weil der Bauer h5 fällt.


Erstveröffentlichung am 21. Juni 2004

15. Juni 2017


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