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SCHACH-SPHINX/06387: Armut der Anonymität (SB)


Im 19. Jahrhundert war es einfach schick, wenn große Schachmeister in ihren Partien gegen schwächere Gegner eine Vorgabe leisteten, das heißt, sie verzichteten auf Material oder Züge, um so das Gefälle der Überlegenheit auszugleichen. Diese Variante der Publikumsbelustigung ist in unserem Jahrhundert völlig verschwunden. Verdrängt wurde sie von der Massenabfertigung des Simultansschachs. Je nach Anreiz spielen dabei einige Hundert Laien gegen einen namhaften Meister. Da war das 19. Jahrhundert etwas einfallsreicher. Der moderne Meister läuft sich die Hacken ab, und ermüdet er, mag er wohl einige Partien verlieren. Er spielt also vornehmlich gegen seine eigene Erschöpfung an. Ja, was waren das für Zeiten, als Meister ihre Kunst vor dem Mittelmaß dadurch hervorhoben, daß sie gar ankündigten, auf welchem Feld sie mattsetzen wollten. Doch auch das Handicap hatte seinen Charme. War der Unterschied in der Spielstärke gravierend, opferte der Maestro vor Beginn der Partie gleich einen Turm. Doch ein anderer Umstand hat sich im 20. Jahrhundert in diese Attraktionen eingeschlichen, nämlich die Anonymität. Früher saß man sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. In den modernen Zeiten ist das ganze Vergnügen bestenfalls zu einem flüchtigen Blick degeneriert. Im heutigen Rätsel der Sphinx gab das amerikanische Schachgenie Paul Morphy seinen Damenspringer vor und belehrte den unbekannten Amateur darüber, daß Raum, Zeit und Masse nur Fiktionen, trügerische Blendwerke sind. Also, Wanderer, wie forcierte Morphy mit den weißen Steinen den Sieg?



SCHACH-SPHINX/06387: Armut der Anonymität (SB)

Morphy - N.N.
New York 1857

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Diesmal gab es kein Entkommen für Dolmatow und keine zweite Chance. Nach 1...e6-e5? 2.f4xe5 Ld6xe5 3.c4-c5! b6xc5 4.Le3xc5 rollte der Racheakt, denn 4...Sd7xc5 verbot sich nun wegen 5.Td1xd8+ Dc7xd8 6.Df2xc5 und ein schwarzer Läufer geht verloren. Dolmatow, der ohnehin sichtlich nervös spielte - Reminiszenzen seines Gewissens? -, hoffte der Schlinge mit 6...Td8-e8 zu entgehen, was Gawrikow jedoch mit 7.Lc5- d6! Le5xd6 - 7...Dc7-d8 8.Ld6xe5 Te8xe5 9.Df2-d4 - 8.Tc1xc7 Ld6xc7 9.Se2-d4 Lc7-b6 10.Df2-h4 g7-g6 11.Kg1-h1 Sd7-f6 12.Sd4-c6 Kg8-g7 13.Td1-e1 Te8-f8 14.a2-a4 h7-h6 15.a4-a5 Lb6-c5 16.b3-b4 g6-g5 17.Dh4- c4 Lc5-f2 18.Te1-e7 Sh5-g3+ 19.Kh1-h2 Sg3-f5 20.Te7-e2 Lf2-g3+ 21.Kh2- g1 Lg3-f4 22.Dc4-c3 Lc8-d7 23.b4-b5! a6xb5 24.a5-a6 Lf4-c7 25.Dc3-c5 Lc7-d6 26.Dc5-b6 g5-g4 27.Sc6-d4! nicht mehr zuließ. Man wird den Eindruck nicht los, als habe Gawrikow seinen Kontrahenten hier auf kleiner Flamme regelrecht geröstet.


Erstveröffentlichung am 22. November 2004

17. November 2017


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