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REZENSION/012: Jürgen Brustkern, Norbert Wallet - 100 Jahre Schachturniere in Hastings (SB)


Jürgen Brustkern / Norbert Wallet




100 Jahre Schachturniere in Hastings

Wie aus Träumen Traditionen wurden


Kein Schachfreund, der nicht wüsste, dass mit dem englischen Seebad Hastings eine glorreiche Turniertradition verbunden ist, die in ihrer Form und Bedeutung ihresgleichen in der Welt nicht hat. In diesem Jahr feiert Hastings sein hundertjähriges Jubiläum. Als längste Turnierserie überhaupt zeugt sie von stürmischen Zeiten, menschlichen Kontakten und packenden Brettduellen. Von der Einweihung 1920/21 an, lediglich mit einer kleinen Unterbrechung während des Zweiten Weltkrieges, hatte Hastings kontinuierlich, gewissermaßen von Jahreswechsel zu Jahrwechsel, seine Tore geöffnet und öffnet sie noch heute für alle Schachmeister als auch Enthusiasten des Königlichen Spiels, die aus vielfältigsten Gründen kommen, beispielsweise, um Graduierungen zu erlangen, Schachbekanntschaften zu pflegen oder sich schlicht für die Dauer des Besuchs als Teil einer Tradition zu empfinden, der ein besonderes Flair anhaftet. Denn an diesem Ort haben über Jahrzehnte etliche internationale Großmeister, deren Name, Ruf und Wirken untrennbar verknüpft ist mit der Entwicklung des modernen Schachspiels, ihre Spuren auf dem Brett und in der Chronik der Stadt hinterlassen.

Was Hastings über alledem auszeichnet, ist seine einzigartige Geschichtsträchtigkeit. Jedes einzelne Turnier oder auch eine Folge von Wettkämpfen über eine gewisse Zeitspanne hinweg schreibt sich in die Schachannalen ein. Reykjavik 1972 als Austragungsort des WM-Kampfes zwischen der US-Legende Bobby Fischer und dem Russen Boris Spassky wie auch die kampferprobten Dortmunder Schachtage stellen solche herausragenden Wegmarken dar. Hastings jedoch gleicht als Fundgrube schachspezifischer Erinnerungen einer archäologischen Stätte. Wer hier gräbt, stößt auf historisch relevante Wendepunkte und Etappen von wegweisender Prägnanz, welche die Schachkunst bei ihrem Aufstieg von einer Kaffeehausattraktion des 18. Jahrhunderts hin zu einem weltumspannenden Denksport mit hoher gesellschaftlicher Anerkennung genommen hat.

Es war längst an der Zeit, diese buntschillernde Geschichte für die Nachwelt aufzudecken. Jürgen Brustkern, seines Zeichens FIDE-Meister und bis 2009 langjähriger Kolumnist der "Budapester Seiten" im Schachmagazin Europa Rochade, und Norbert Wallet, bestens bekannt als Hauptstadtkorrespondent der Stuttgarter Nachrichten und der Stuttgarter Zeitung in Berlin, haben in ihrem jüngst beim Joachim Beyer Verlag erschienenen Werk "100 Jahre Schachturniere in Hastings" weit mehr geleistet als eine nostalgische Rückschau. Indem sie Entstehungsgeschichte und Werdegang dieser bemerkenswerten Turniertradition, ihrer Glanzlichter, Krisen und Herausforderungen, akribisch aufgearbeitet haben, rückten sie ein überaus wichtiges Kapitel moderner Schachgeschichte wieder ins Bewusstsein der Gegenwart. Mit Hastings verbindet Brustkern übrigens eine Leidenschaft, die schon über 40 Jahre andauert, seit er 1977 im Alter von 16 Jahren erstmals den Ort an der englischen Südküste besuchte.

Turniertraditionen werden nicht über Nacht geboren. Es bedarf, wie die Autoren herausstreichen, gewisser unverzichtbarer Voraussetzungen und nicht minder des entschlossenen Engagements einzelner Menschen, um den Funken einer Idee gegen alle Widerstände und Borniertheiten einer Zeitepoche zum Stern aufstrahlen zu lassen. Mit einem Mythos sind immer auch Fragen verbunden. Wie konnte sich ausgerechnet Hastings im Vergleich zu den vielen anderen Hochburgen schachlicher Entwicklung über "viele Jahrzehnte sogar zum bedeutendsten Schachturnier überhaupt entwickeln" (S.10), welche visionären Kräfte mussten bemüht und ehrgeizig vorangetrieben werden, um aus Träumen Traditionen erwachsen zu lassen?

Turniere sind, wie es in der Einleitung heißt, "Spiegel der sozialen Verhältnisse ihrer historischen Epoche" (S.10). Hastings war im auslaufenden 19. Jahrhundert bereits ein florierender Kur- und Badeort. Das Klima dort ist mild, wenngleich manchmal regnerisch getrübt. Eine touristische Infrastruktur war also schon vorhanden. Um das Phänomen Hastings in seiner Ganzheit verstehen zu können, kommt man nicht umhin, auch die Triebkräfte des viktorianischen Zeitalters präzise zu durchleuchten. In diesem Sinne ist dem Autorengespann Dank zu sagen, dass sie auf eine reine Turnierchronologie verzichteten und statt dessen tiefer zu den Wurzeln und Motivationen gruben, die eine Stadt mit heutzutage knapp 100.000 Einwohnern zum märchenhaften Mekka der Schachkunst machten.

In Großbritannien vollzog sich im 19. Jahrhundert der rasante Wechsel von der handwerklichen Fertigung in Manufakturen hin zur technologisch industriellen Massenproduktion, die Fachkräfte zunehmend überflüssig machte und in der kalten Routine der Arbeitsabläufe ein weitgehend entrechtetes Proletariat verschlang. Dampfschiffe konnten auf dem Seewege die reichhaltigen Bodenschätze der Kolonien ungleich ungehemmter und effizienter zu den heimischen Produktionsstätten transportieren und somit die Märkte in Europa mit britischen Waren geradezu überschwemmen. Der Kapitalismus stand im Zeichen internationalen Wettbewerbs und befeuerte eine Fortschrittsdynamik, die alle Zügel von Arbeiterrechten und angemessener Lohnvergütung fahren ließ. Mag dies der britischen Inselrepublik auch einen gewissen Wohlstand beschert haben, so profitierten im wesentlichen die Angehörigen der Mittelschicht vom liberalen Unternehmergeist. Jedenfalls färbte der Zeitgeist der Rationalität, der nur die Hierarchie der Sieger und Erfolgreichen gelten ließ, auch auf die Kultur und namentlich das Schachspiel ab. Und auf diesem Felde war Frankreich der Dauerrivale.

Die aufgeworfene These von Brustkern und Wallet, demzufolge heutzutage weitgehend verschüttet sei, dass Großbritannien im 19. Jahrhundert zum Zentrum der Schachwelt aufstieg, ist in ihrer Totalität sicherlich gewagt und muss im Kontext der politischen und sozioökonomischen Umwälzungen gesehen werden. Anlässlich der Weltausstellung im Hyde Park in London 1851, wo Nationen, Fabrikanten und Geschäftsleute mit der Zurschaustellung im schnellen Takt ratternder Maschinen, chemisch veredelter Rohstoffe und zukunftsweisender Industrieprodukte, aber auch Artefakten aus der bildenden Kunst um die Gunst der Konsumenten und Exportzuwächse wetteiferten, wurde auch eine neue Ära des Schachspiels eingeleitet.

Unter der Federführung von Howard Staunton, seinerzeit Wappen und Blüte des englischen Schachs, der, zumindest in britischen Kreisen, als stärkster Schachspieler der Welt umworben wurde, fand erstmals in der Schachgeschichte ein internationales Turnier mit 16 Meisterspielern aus dem Empire und Kontinentaleuropa statt. Für das anvisierte, letztlich jedoch fehlgeschlagene Ziel, einen allseits anerkannten Regenten auf dem Schachbrett zu inthronisieren, war die Zeit noch nicht gekommen. Dass in London einige klangvolle Namen vorzugsweise aus dem Zarenreich aus Gründen das Budget übersteigender Reisekosten nicht im Teilnehmerfeld auftauchten, war bedauerlich, vielleicht aber auch beabsichtigt.

Die Frage nach dem sogenannten Weltmeister quälte schon seit längerem die Schachjünger vor allem auf dem alten Kontinent. Die verstreuten Schachzirkel blieben schon aus organisatorischem Unvermögen, einen Wettkampf mit europaweiter Beteiligung auf die Beine zu stellen, weitgehend unter sich. Es gab gewiss Lokalmatadore und gelegentliche Treffen kampfstarker Spieler aus verschiedenen Ländern, nur dass die unzureichenden Verkehrswege als auch die instabile politische Lage in den europäischen Machtzentren, die wie im Fall Frankreichs wiederholt von revolutionären Unruhen bedroht waren, Turniere im eigentlichen Sinne des Wortes nicht gerade erleichterten. Auch fehlten die Finanziers für solche Unternehmungen. London 1851 bot die einmalige Chance, alle diesbezüglichen Kapitalhindernisse und Reisebeschränkungen mit einem Schlag aufzuheben und einen Wettkampf der Heroen im Schach tatsächlich auszufechten. Doch anders als man es sich in London zum Ruhme Albions erhofft hatte, siegte kein Angehöriger der britischen Krone, sondern mehr oder weniger unerwartet mit Adolf Anderssen ein Mathematikprofessor aus Breslau.

In Großbritannien war damit gleichwohl das Feuer der Turnierleidenschaft entfacht. In Manchester 1857 und im Jahr darauf in Birmingham fanden erneut Wettkämpfe am königlichen Brett statt, nur dass beide Male kein britischer Untertan, sondern der Ungar Johann Löwenthal den Lorbeerkranz errang. Für den britischen Stolz abermals eine tiefempfundene Kränkung und Scharte, die auszuwetzen der Britische Schachkongress 1862 ein Meisterturnier jeder gegen jeden, wo vormals im K.O.-Modus gespielt wurde, ausrichtete. Zum ersten Mal kamen auch Schachuhren zum Einsatz, um die leidige Marter stundenlanger Partien bis tief in die Nacht hinein auszuschließen. Doch wieder ließ Anderssen die britischen Hoffnungen auf einen großen internationalen Turniersieg platzen. Nun muss für die Folgezeit erwähnt werden, dass in Deutschland in den 1870er und 1880er Jahren die meisten Turniere organisiert wurden. Während also das Zeitalter blühender Turnierlandschaften auf dem europäischen Festland anbrach, was einer zunehmenden Internationalisierung des Schachspiels die Sporen gab, erschwerte die Insellage es britischen Spielern, sich mit starken ausländischen Kontrahenten zu messen.

Die Autoren heben diesen wunden Punkt im frühen britischen Schachleben akkurat hervor, bevor sie auf die Entwicklungen in Hastings eingehen, wo sich mit der Gründung des "Hastings and St. Leonard Chessclub" 1882 eine wachsende Anhängerschaft dem Schachspiel verschrieb, aber wenig Gelegenheit bekam, ihre Spielstärke angemessen zu steigern. Zwei glückliche Faktoren trafen nun zusammen. Zum einen besuchte der prominente britische Meisterspieler Joseph Blackburne den Kurort, gab Lehrstunden und verlegte seinen Wohnsitz für einige Jahre dorthin. Im Gespräch mit dem Schatzmeister des hiesigen Schachklubs, Herbert Dobell, begeisterte sich Blackburne für dessen Idee, in Hastings ein internationales Meisterturnier auszurichten. Dennoch sollte mehr als ein Jahrzehnt vergehen, bis in Hastings tatsächlich ein Turnier von Weltrang ausgetragen werden konnte. 1895 trafen renommierte Stars der Szene wie Emanuel Lasker, Wilhelm Steinitz, Michail Tschigorin und Siegbert Tarrasch auf eine junge Avantgarde aus Emanuel Schiffers, Carl Schlechter, Richard Teichmann, Karl August Walbrodt und andere. Verblüffenderweise gewann dieses prestigeträchtige Weltklasseturnier ausgerechnet ein Außenseiter, nämlich der junge US-Amerikaner Harry Nelson Pillsbury, der keineswegs zum Favoritenkreis gehörte und doch für Schlagzeilen und Furore sorgte.

Hastings hatte nun ein gutes Image in der Schachwelt, aber noch keine veritable Turniertradition. Eindrücklich schildern Brustkern und Wallet in der Folge, wie weitere 24 Jahre ins Land gingen und ein opferreicher Weltkrieg überstanden werden musste, bis auf Initiative Dobells, der inzwischen zum Schatzmeister der British Chess Federation avanciert war, in Hastings der nächste hochkarätige Wettkampf stattfinden konnte. 1919 erhielt Hastings den Zuschlag für die Ausrichtung der britischen Meisterschaft, die zur Ehrung der siegreichen Entente unter den Namen Victory-Congress firmierte. An den Brettern saßen verständlicherweise nur Akteure der Siegermächte und aus kriegsneutralen Staaten. Den Sieg errang der spätere Weltmeister José Raúl Capablanca aus Kuba.

Ab dem Jahreswechsel 1920/21 verfestigte sich in Hastings eine Turniertradition hochwertiger Wettbewerbe. Brustkern und Wallet erzählen in den folgenden Kapiteln, wie Hastings in den kommenden Jahrzehnten allen finanziellen Stolpersteinen zum Trotz und dank diplomatischen Geschicks und wachen Gespürs fürs Marketing zum Treffpunkt nahezu aller schillernden Groß- und Weltmeister wurde. Mit Ausnahme von Bobby Fischer, dessen Zusage auf die Einladung zu spät erfolgte, was für den amerikanischen Exzentriker allerdings nichts Ungewöhnliches darstellte. Selbst in den Krisenzeiten des Kalten Krieges, als die Sowjetunion im Westen zum weltanschaulichen Feindbild hochstilisiert wurde, hatten es die Organisatoren von Hastings auf der Basis guter Kontakte in den Osten verstanden, den sowjetischen Schachverband dafür zu gewinnen, jährlich zwei ihrer Starspieler in den südenglischen Kurort zu schicken.

Zu einer Zeit, als die sowjetischen Großmeister die Weltelite stellten und kaum denkbar war, dass jemand anderes als aus ihren Reihen den Schachthron besetzen würde, sie aber wegen der heiklen politischen Großwetterlage von den Turnierleitungen im Westen boykottiert wurden, hat Hastings den Faden der Weltgemeinschaft aller Schachspieler nicht abreißen lassen. Hastings hat auch in emanzipatorischer Hinsicht viel geleistet, indem man immer wieder auch Großmeisterinnen zu den Turnieren einlud, was auf so hoher Ebene keineswegs selbstverständlich war. In den 1920er und 1930er Jahren avancierte die erste Frauenweltmeisterin Vera Menchik, die dem hiesigen Schachklub angehörte, zur kämpferischen Pionierin für das Frauenschach, die nicht nur mit dem Vorurteil aufräumte, dass das Schachspiel für die Psyche von Frauen ungeeignet sei, sondern auch die festgefügte Ordnung einer Männerdomäne durchbrach, als sie als erste Frau überhaupt, noch dazu mit sichtlichem Erfolg und spielerischem Witz, an Männerturnieren teilnahm. Später sollte die Georgierin Nona Gaprindaschwili Menchiks Leistungen in Hastings noch überflügeln. Den Gipfel im Geschlechterkampf erklomm allerdings die Ungarin Judit Polgar, als sie 1988/89 mit gerade einmal 12 Jahren das Challenger-Turnier in Hastings gewann und schließlich 1992/93 als erste Frau das Hastings-Premier für sich entschied.

Heute ist der Ruhm von Hastings weitgehend abgeblättert. Finanzielle Engpässe in der Stadtverwaltung, die Abwertung des britischen Pfunds und die empfindliche Kürzung der unbefristeten Ausfallbürgschaft durch die britische Regierung sowie der Wegfall wichtiger Sponsoren konnten zwar immer wieder durch neue Konzepte des Marketings kompensiert werden, aber auf Dauer war die Misere nicht aufzuhalten. In Hastings regt sich immer noch eine kleine Flamme, aber der Glanz der alten Zeit könnte unwiderruflich verblasst sein. Zuletzt hat man über offene Turniere, die durch die Einnahmen aus den Startgeldern finanziert wurden, den Bankrott dieser wunderbaren Turniertradition hinausgezögert. Die Zukunft ist ungewiss, aber der Wille zum Weiterkämpfen scheint in Hastings nach wie vor ungebrochen zu sein.

Brustkern und Wallet haben mehr als ein lesenswertes Geschichtsbuch zu Hastings geschrieben, sie haben Erinnerungen wieder mit neuem Leben gefüllt, haben herzenswarme Anekdoten und Amüsantes aus dem Turnierbetrieb der Dunkelheit entrissen. Für jeden Schachfreund, der einen Sinn fürs Schachhistorische hegt, ist bereits der erste Teil des Buches ein unschätzbarer Gewinn. Den Autoren gelang im zweiten, weitaus umfangreicheren Teil, der mit "Kämpfer, Künstler, Königsjäger - die Helden von Hastings" überschrieben ist, ein weiterer Coup. Hier werden mehr als 40 Portraits von Meisterspielern und begnadeten Amateuren vorgestellt, die allesamt in Hastings ihre Schlachten schlugen, nicht mit der Schärfe des Schwertes, wie es Wilhelm der Eroberer einst tat, als er seinen Fuß auf diesen Flecken setzte, sondern mit kühnen Kombinationen und tiefgründigen Strategien. Es waren Schachdenker, die auf ihre eigentümliche Art unausrottbare Zeichen ihres Könnens aufs Brett brannten. Darunter fast vergessene Namen von Meistern, deren Stern über die Zeiten bedauerlicherweise verblasste und die doch Theorie und Praxis der Schachkunst aufs wundersamste bereicherten wie beispielsweise Henry Atkins, dem seine Zeitgenossen die ehrenvolle Auszeichnung "kleiner Steinitz" verliehen, oder Sultan Khan, der als Diener eines indischen Diplomaten 1929 nach London kam und in den knappen fünf Jahren seines Aufenthalts auf der Insel dreimal den Titel des britischen Champions errang und in Hastings gar Capablanca einen seiner nur 35 Niederlagen während seiner langen Karriere bescherte.

Obgleich nahezu alle Weltmeister in Hastings residierten, findet sich im Buch, abgesehen von Michail Tal, kein einziges Weltmeisterportrait. Den Autoren ging es im wesentlichen darum, gerade den Meistern der zweiten Reihe einen repräsentativen Rahmen zu geben. Aber Hinterbänkler waren Milan Vidmar, Edgard Colle, Reuben Fine, Geza Maroczy, Jacques Mieses, Laszlo Szabo, Savielly Tartakower, Svetozar Gligoric, Pauk Keres, Lajos Portisch, Viktor Kortschnoi, Bent Larsen, David Bronstein oder Ulf Andersson, um nur einige zu nennen, nun beileibe nicht, auch wenn sie den Thron nie bestiegen.

Die einzelnen Charakterstudien langweilen nicht mit einer Anhäufung von Turniererfolgen. Lustvoll geschrieben und eindrücklich pointiert greifen die Portraits vielmehr charmante Episoden vom Auftritt der Meister in Hastings auf, erzählen von allzu menschlichen Kümmernissen und Verlegenheiten, deren anekdotischer Reiz immer wieder ein Schmunzeln erregt. Beispielsweise, als die junge New Yorkerin Lisa Lane nach nur wenigen Runden vom Turnier zurücktrat und dies damit entschuldigte, dass sie, von Amors Pfeil verwundet, sich nicht auf ihre Partien konzentrieren könnte und in die Arme ihres Geliebten zurückeilen müsste, der jedoch, wie findige Reporter herausfanden, nichts von einer angeblichen Romanze wusste.

Nicht fehlen durften im Reigen der Persönlichkeiten, die unsterblich mit Hastings verknüpft sind, C.H.O. Alexander, Sir Thomas George, der Lasker zweimal im Simultan besiegen konnte, und natürlich Harry Golombek. Alexander, der mehrfach die britische Meisterschaft gewann, hatte bekanntermaßen einen großen Anteil an der Dechiffrierung der deutschen Verschlüsselungstechnik, dem sogenannten Enigma-Code. "Mr. Chess" Golombek war nicht nur Spieler, Schachjournalist und Schiedsrichter, sondern in erheblichem Maße auch Stimme und Gesicht des Traditionsturniers in Hastings. Ihm ist es im wesentlichen zu verdanken, dass Hastings im eisigen Klima des Kalten Krieges sowjetische Spitzenspieler empfangen konnte. Inoffiziell, gewissermaßen als geheimer Drahtzieher, auch um seinen Ruf als neutraler FIDE-Schiedsrichter zu wahren, nutzte er seine guten Beziehungen zur russischen Schachföderation, um dieses Arrangement einzufädeln.

Gewürdigt werden auch die Protagonisten der "britischen Schachexplosion" wie "It's only me" Tony Miles, William Hartston, John Nunn, Jonathan Speelman, Nigel Short, Stuart Conquest und nicht zu vergessen Murray Chandler, der als Jugendlicher seine Heimat Neuseeland verließ, um in London Schachprofi zu werden.

Hastings spielte auch für deutsche Meister eine große Rolle. In den Nachkriegsjahren war es für deutsche Topspieler praktisch unmöglich, an internationalen Turnieren im Ausland teilzunehmen. Erst 1948 hob der Weltschachbund die Restriktion gegen deutsche Schachspieler offiziell auf. Wolfgang Unzicker war nach Paul Schmidt überhaupt der zweite Deutsche, der 1950/51 zum Hastings Premier eingeladen wurde. Später traten Helmut Pfleger, Wolfgang Uhlmann und Thomas Luther in seine Fußstapfen. Mit Pfleger findet sich übrigens ein längeres und interessantes Interview im Buch zu Fragen nach seinen Erfahrungen und Erinnerungen in Hastings.

Im Schlusswort findet sich eine rührende Passage: "Noch einmal sollten die großen Virtuosen, Wunderkinder, die mutvollen Draufgänger und die kühl kalkulierenden Strategen des Schachs ihren Auftritt haben. Man darf sie nicht vergessen. Zu großartig waren ihre Kämpfe, zu schön ihre Geschichten, zu leidenschaftlich ihr Spiel und oft genug zu tragisch ihr Schicksal." (S.280)

Dieses Buch nicht mit den Augen zu verschlingen, sich an den zahlreichen kommentierten Partien nicht zu erfreuen und die den Text wundervoll ergänzenden Fotographien der Meisterspieler und wechselnden Spielorte in Hastings nicht mit nostalgischer Wehmut zu betrachten, weil die Aura verflossener Zeiten immer auch ins Herz greift, ist gänzlich unmöglich.

27. September 2021



Jürgen Brustkern/Norbert Wallet
100 Jahre Schachturniere in Hastings
Wie aus Träumen Traditionen wurden
Joachim Beyer Verlag 2021
294 Seiten, 39,80 EUR
ISBN 978-3-95920-144-5


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 168 vom 2. Oktober 2021


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