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BERICHT/046: Jan Philipp Reemtsma über Vertrauen und Gewalt (JOGU Uni Mainz)


[JOGU] Nr. 205, Juni 2008
Das Magazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Orte der Macht
Jan Philipp Reemtsma über Vertrauen und Gewalt

Von Ulrike Brandenburg


Unter das Motto "Vertrauen und Gewalt" hat Jan Philipp Reemtsma, Inhaber der Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur 2008, seine aktuelle Veranstaltungsreihe gestellt. Als Gründer und Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung, als Professor für Neuere Deutsche Literatur, als Schriftsteller und als Wissenschaftler befasst sich Reemtsma mit der Analyse individueller und institutioneller Gewalt. Die Mainzer Vorlesungen beleuchten das Thema aus vielfach ungewöhnlichem Blickwinkel.

Dass die Geisteswissenschaften an den Elfenbeinturm gebunden seien, behauptet ein landläufiges Vorurteil. Jenes aber ist in doppelter Weise falsch. Zum einen, weil das Bild nicht stimmt. Im Goetheschen Elfenbeinturm nämlich arbeitet eine hochaktive Führungsmannschaft an einem äußerst weltzugewandten Projekt. Das Team managt den Lebensweg des Wilhelm Meister - und zwar so, dass dieser mit allen Bereichen der Gesellschaft - von der Rechtsprechung über die Kunst bis zur Wirtschaft - vertraut wird. Zum anderen kann der Konnex von Geisteswissenschaft und Gesellschaftsferne nicht aufrecht erhalten werden, weil es solche Germanisten gibt wie Jan Philipp Reemtsma. Der aus der Literatur, und nicht nur der deutschen, seine soziologischen Schlüsse zieht.

Wie etwa in seinem jüngst erschienen Buch "Vertrauen und Gewalt - Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne". Das knapp 600 Seiten umfassende Essay - das mit seiner literar-philosophischen Reflexion letztlich einen Ansatz zur soziologischen Theoriebildung liefert - ist denn auch Grundlage der gegenwärtigen Vorlesungsreihe des Stiftungsprofessors, welcher sich mit der Einladung von Christian Pross (als Mediziner Mitglied des Vorstandes des Berliner "Behandlungszentrums für Folteropfer"), Gerhard Roth (Leiter des "Instituts für Hirnforschung der Universität Bremen") und Harald Welzer (Sozialpsychologe und Direktor des Essener "Center for Interdisciplinary Memory Research") prominente Unterstützung gesichert hat. In seiner eigenen Arbeit nimmt Reemtsma eine scheinbar distanziert-phänomenologische Haltung eben dem Problem extremer Gewalt gegenüber ein, will zunächst nichts anderes als eine historisch fundierte Bestandsaufnahme des titelgebenden Themenkomplexes liefern - und entwirft doch fast nebenher ein Modell, welches das Funktionieren institutionalisierter Gewalt und eben auch institutionalisierter Brutalität zu erhellen vermag.

Reemtsmas Überlegungen - diejenigen des Buches und diejenigen der Mainzer Vorlesungen - beginnen mit der Kritik am Topos eines gleichsam kollektiv zelebrierten rückblickenden Erstaunens. Jenes Verwundern aber über die Grausamkeiten, die Familienväter in Zeiten der Diktatur und des Krieges zu begehen vermögen, sei nichts anderes als der Ausdruck kollektiven Verdrängens. Dass Walter Kempowski am Ende seines das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg thematisierenden Romans "Tadellöser & Wolff" fragen lässt. "Wie isses nun bloß möglich?" - genau das sei literarisch-symptomatisches Indiz einer deutschen Nachkriegshaltung, die das Offensichtliche künstlich verrätsele, um der Auseinandersetzung mit der eigenen Teilhabe an der Katastrophe ein für alle Mal zu entgehen.

Nicht Ursachenforschung also, sondern Rubrizierung und Systematisierung strebt Reemtsma an. Und zu diesem Zweck gibt der Autor erst einmal den Hinweis auf andere Epochen, die andere Sitten und damit auch ein anderes Verhältnis zur Gewalt kannten, getreu der Überzeugung, dass jede Gesellschaft ihre Gewaltlegitimation besitze und eine Verletzung dieser spezifischen Regeln - und nur diese - von den Norminhabern als barbarisch gewertet wird. Das Unzivilisierte misst sich am Verstoß gegen die Konvention, nicht am Grad ausgeübter Brutalität, die, laut Reemtsma, eben auch Definitionssache ist. Und die in der Vergangenheit, anders als in der Moderne, nicht defensiv, sondern offensiv motiviert war. So lässt der Germanist und Philosoph seine Geschichte der Gewalt denn auch lange vor der zeitweiligen Aufhebung der Moderne durch die Machthaber des Dritten Reiches und die mit ihnen so schnell konforme Bevölkerung (- "noch nie hatten Diktatoren Personalprobleme" -) beginnen.

Im antiken Rom nämlich, das Gewaltexzesse in Friedenszeiten nicht nur legitimierte, sondern denselben mit dem Kolosseum einen inszenatorisch-architektonischen Rahmen schuf, der aus gegenwärtiger Perspektive zu den kulturellen Wunderwerken des - vormodernen - Abendlandes zählt. Die Nachfahren der Christen, die an eben jener Stätte litten, begründeten ihrerseits mit der - im Rückgriff auf das römische Recht institutionalisierten - inquisitorischen Folter eine nachhaltig wirkende Tradition der Grausamkeit. Auch vormoderne weltliche Souveräne nutzen die Macht über die Körper ihrer Untertanen als sichtbares Zeichen absoluter Herrschaft. Ein Reisender und mit ihm Reemtsma berichtet am Anfang des 16. Jahrhunderts aus der Umgebung von Prag von mehr als hundertvierzig Galgen und Rädern, "an denen Diebe hingen, einige noch frisch, andere noch halb verfault, und die Kadaver von Mördern, denen auf den Rädern Glied für Glied gebrochen worden war." Die Zurschaustellung justizieller Zurichtung wird erst im 19. Jahrhundert aus der Mode kommen. Da ist das Bewusstsein vom individuellen Ich zum Allgemeingut geworden und mit der Angst vor der eigenen Verletzbarkeit auch das Wissen um die Verletzbarkeit des Anderen als Teil des privaten und des öffentlichen Wertekanons zu Akzeptanz gelangt.

Ein Gewissens-Prozess, der sich im Vorgriff exemplarisch an den Dramen Shakespeares ablesen lässt. Reemtsma greift wiederholt auf die Psychologien der Macht zurück, mit welchen der englische Autor der britannischen Aristokratie den Spiegel vorhielt. Blutrünstig zeigt sich Shakespeare noch im "Titus Andronicus", welcher das zeitgenössische deutsche Publikum in seiner Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges bestätigte. Warnend vor einer staats-politisches Mafioso-Haltung dann in "Richard III".

Und das 20. Jahrhundert? Hitler? Stalin? Darf nicht doch gefragt werden: 'Wie wares nun bloß möglich?' - dass dieses terroristische Duo des europäischen Fortschritt an Humanität, den die Moderne für sich reklamieren konnte, zunichte machte?

Die Antwort, die Reemtsma - unter der Vorspiegelung, dass es keine sei - gibt, ist verblüffend einfach. Zu den anthropologischen Konstanten zähle nicht nur die durch freudianische Erkenntnis bestätigte menschliche Bereitschaft zur Gewalt, sondern auch das unüberwindbare Bedürfnis des Menschen nach Erwartungssicherheit. Wo diese Vertrauensstiftung geschehe - und sei es in reduziertest denkbarer Form, nämlich als gesicherte Erwartung bedrohlicher sogar lebensbedrohlicher Unsicherheit - stelle sich das Kontinuum der Alltäglichkeit und damit einer Normalität her, welche ein Weiter-Gehen, ein Weiter-Agieren überhaupt erst ermögliche - und letzteres könne zusätzlich gesichert werden: durch Partizipation an der Macht kraft Denunziation, man denke an die Nazi-Zeit und insbesondere an den Stalinismus.

"Denunziation ist die vertrauensstabilisierende Praxis par excellence für Gesellschaften mit terroristisch agierendem Gewaltmonopol", schreibt Reemtsma - und macht damit auch deutlich, dass der Übertrag der Gewalt an den Staat die gesellschaftliche Machtverteilung nicht etwa automatisch demokratisiert, sondern eine Diktatur zu installieren und auf diesem Wege eine Re-Brutalisierung des Alltags zu verursachen vermag - insofern nicht dafür gesorgt ist, dass der "Ort der Macht leer" bleibe.

Wo die "Überwertigkeit der Idee der Nation", wo eine "Rhetorik des Zivilisationsauftrages" ('Untermenschen' als zivilisationsbedrohende Barbaren) zur Aufhebung der "moderne(n) Differenzierung" zugunsten der "Vorstellung der Nation als Volksgemeinschaft" führe, geschehe die cäsaristische, die autoritäre Besetzung des Ortes der Macht.

Dass dort, wo solchermaßen 'überwertige' Nationalideen mit dem defensiv definierten Gewaltbegriff der Moderne verquickt werden, dass also dort, wo moderne Nationen die militärische Not- und Gegenwehr offensiv antizipieren, demokratiefreie Räume entstehen können, formuliert Reemtsma so explizit nicht. Dieses Fazit aber ließe sich aus der Lektüre des Buches, aus dem Besuch der Vorlesungsreihe durchaus ziehen.


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"Unsere Einsichten in die Dynamik von Gewalt, unser Erschrecken, dass sich das Vertrauen in die Moderne im Handumdrehen in ein Vertrauen in Gewalt wandeln kann, sind anderen sozialen Rollen zugeordnet als unsere Teilnahme an den Praxen sozialen Vertrauens." (Jan Philipp Reemtsma)

"Modern ist jene Gewalt stets gerechtfertigt, die man als eine ausweist, die Gewalt beendet oder schlimmere Gewalt verhindert, und wo Gewalt ausgeübt wird, muss sie so gerechtfertigt werden." (Jan Philipp Reemtsma)

Die Rhetorik der eschatologischen Säuberung macht stets die Feinde aus, die verhindern, dass die revolutionäre Sache gedeiht. Die Rhetorik des Genozids bricht mit der Moderne, indem sie die Gewalt zum Lebensprinzip der Volksgemeinschaft erklärt."
(Jan Philipp Reemtsma)


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Quelle:
[JOGU] - Magazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Nr. 205, Juni 2008, Seite 6-7
Herausgeber: Der Präsident der Johannes Gutenberg-Universität Mainz,
Univ.-Prof. Dr. Georg Krausch
Tel.: 06131/39-223 69, -205 93; Fax: 06131/39-241 39
E-Mail: AnetteSpohn@verwaltung.uni-mainz.de

Die Zeitschrift erscheint viermal im Jahr.
Sie wird kostenlos an Studierende und Angehörige
der Johannes Gutenberg-Universität sowie an die
Mitglieder der Vereinigung "Freunde der Universität
Mainz e.V." verteilt.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2008