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BERICHT/062: Eine virtuelle Reise an deutsche Denkorte (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2010

Denkorte der Zukunft
Eine virtuelle Reise an deutsche Denkorte

Von Gunter Hofmann


Während die sonst allgegenwärtigen ökonomischen Mainstream-Denker in Deutschland während der Finanzkrise seltsam verstummten, sind die Denkorte hierzulande in anderen Bereichen äußerst vital und intellektuell anregend. Eine tour d'horizon zu einigen wichtigen wissenschaftlichen "Leuchttürmen", die sich im Gegensatz zu den selbsternannten Finanzmarktexperten mancherorts längst an die Realität angekoppelt haben.


Mit einer Verlustanzeige muss dieses eine Mal eine Besichtigung der Denkorte hierzulande beginnen. Eine ehrliche und selbstreflexive Bestandsaufnahme der Volkswirte, Nationalökonomen und Finanzmarktexperten über die Weltfinanzkrise seit dem Kollaps von Lehman-Brothers in New York vor nunmehr drei Jahren hat es bei uns nicht ernsthaft gegeben. Aus dem Ärmel kann man hingegen Namen wie Paul Krugman, Joseph Stiglitz, John Gray, Robert Skidelsky, John Cassidy schütteln, amerikanische und britische Ökonomen vor allem, die von ihrem eigenen Umdenken, ihren Lernschritten berichten und zu erklären versuchen, was den Finanzkapitalismus von heute charakterisiert, was die Zäsur von 1989 und die Globalisierung dieser Spekulationsmärkte bedeutet und welchen kaum kontrollierbaren Mechanismen das berühmte "Primat der Politik" erlegen ist.


Ökonomisches Denken in der Einbahnstraße

Keiner der Mainstream-Ökonomen der Bundesrepublik, sagen wir vom Schlage Sinnwalterhenkel, die jahrelang die Talkshows beherrschten und zur totalen Deregulierung der Finanzmärkte, zum Rückzug der Öffentlichkeit und des Staates drängten, hat auch nur ansatzweise selbstkritisch wie Stiglitz oder Gray die eigenen Prämissen, das eigene Denken überprüft.

Ich entsinne mich, dass Jürgen Habermas - es muss bei der Vorstellung seines schmalen Buches über die "postnationale Konstellation" im Jahr 1998 kurz vor dem Start der rot-grünen Koalition gewesen sein - zur Einrichtung eines kritischen Ökonomie-Instituts riet, das sich mit den akuten Krisen des Kapitalismus, den Globalisierungszwängen und der Sicherung des "Sozialen" in postnationalen Zeiten befasst. Wie könnte das gehen? Wissen möchte man schon sehr gerne, weshalb das ökonomische Denken in eine solche Einbahnstraße geraten konnte.

Denkorte heute, scheint mir, befassen sich nicht so sehr mit der Frage, was "Gesellschaft" ist, was also eine "gute Gesellschaft" ausmache. Das Utopieverbot, das erfolgreich verhängt worden ist, lässt jemanden wie Tony Judt in New York geradezu als extreme Ausnahme erscheinen, bloß weil er fragt, was eine gerechte Gesellschaft sei. Nein, die Denkorte, die intellektuell anregend sind, widmen sich hierzulande augenfällig eher Fragen nach dem "guten Regieren" und der "Transformation des Staates" im postnationalen Zeitalter. Das aber nicht schlecht.

Vorreiter in der Hinsicht war Ulrich Beck. Mit seiner "Risikogesellschaft" war er bekannt geworden. Damals, inmitten der 80er Jahre, fesselten den Soziologen aber bereits auch die eingebauten, inhärenten Folgen von Modernisierungsprozessen ("zweite Moderne"), denen er sich gleichwohl nicht zu versperren empfahl. Zunehmend nahm er während der 90er Jahre dann allerdings auch den "Abschied vom Nationalstaat" in den Blick, der auch die Sozialwissenschaften zu einem Paradigmenwechsel weg vom klassisch-nationalen Bezugsmuster führen müsse. Diesen Gedankengang setzt inzwischen Edgar Grande in einem Sonderforschungsbereich in München fort, in dem Europa als "posthegemoniales Empire" erscheint. Nationale Eigeninteressen führen, folgt man ihm, zum freiwilligen Souveränitätsverzicht und zur Anerkennung der Interessen anderer Nationalstaaten.

Komplementär dazu steht das Bremer Forschungsprojekt, das bereits vor einigen Jahren Stephan Leibfried und Michael Zürn gemeinsam in Bremen begonnen haben. Ein interdisziplinäres Team nimmt gezielt die "Transformationen" der Staatlichkeit in den Blick. Beide Annäherungen, die Münchner wie die Bremer, haben mich als Journalisten schon deshalb neugierig gemacht, weil sie eine veränderte Realität besichtigen, die man täglich bereits vor Augen hatte - die aber von einer stark "national" agierenden Politik gern geleugnet wurde. Ihren zentralen Befund kleiden die Bremer Politikwissenschaftler, Juristen und Soziologen in die Metapher von der "Zerphaserung" des Nationalstaates. Er löse sich nicht komplett auf, heißt das für sie, aber in einigen Bereichen werde er auf anderer Ebene - vor allem: in Europa - ersetzt. Mit "Staatlichkeit", heißt es, lasse sich das Neue besser beschreiben als mit "Staat". Es spielten sich Transformationen ab, im Plural wohlgemerkt!


Staat, Staatlichkeit, Transnationales

Nicht nur der Euro, die gemeinsame Währung, die gerade auf der ersten dramatischen Schüttel- und Teststrecke ist, liefert ein Beispiel für das "Neue", was den Nationalstaat transformiert. Vor allem beweisen sie am Rechtssystem, in welchem Maße der klassische Nationalstaat bereits abgelöst ist - ohne Verlust an Rechtsstaatlichkeit, nebenbei. Belegen ließe sich ihnen zufolge allerdings auch, dass der Staat in anderen Bereichen durchaus wieder stärker werden kann. Bildung, Steuern, Familienpolitik, Migrationsfragen - es sei nicht so, als werde das von einer übergeordneten Institution übernommen oder als könne man solche "öffentlichen" Fragen allein privaten Marktentscheidungen überlassen.

Ja, auch das Wissenschaftszentrum macht Berlin zum "Denkort". Auch und gerade unter der Regie Jürgen Kockas (nun: Jutta Allmendingers) spürten Sozialwissenschaftler, Juristen und Politikwissenschaftler zunehmend der Frage nach, was heute good governance heiße, während die Politik es unverändert vorzog, den Eindruck zu erwecken, die Fäden weiterhin in der Hand zu halten und die Politik von einem nationalen/zentralen Ort aus zu steuern. Gerhard Schröders und Angela Merkels Kanzlerschaft übrigens gleichen sich darin, wobei Schröder - aus heutiger Sicht - entgegen allem Anschein als der weitaus "europäischere" Regierungschef erscheint. Aber das wäre eine andere Geschichte.

Ob es um Entwicklungen am Arbeitsmarkt geht, um Vergleiche der Bildungschancen von Jugendlichen in Europa, um Migrationsfragen, die Parteiendemokratie oder die Wege der Zivilgesellschaft, dem WZB hört man als Journalist neugierig zu. (Das gilt, nebenbei, in Fragen der Internationalen Politik uneingeschränkt auch für die Stiftung Wissenschaft und Politik, wo nach Christoph Bertram Volker Perthes Regie führt; für das Wuppertal Institut für Klima, Energie, Umwelt; oder für Claus Leggewie, der resonanzreich und sinnvoll aus dem Essener Kulturinstitut eine Art Klima- und Energiezentrum macht.) Nicht zuletzt wird der Stollen in Richtung "Transnationales" weitergetrieben. Michael Zürn verfolgt die These, nicht nur auf europäischer Ebene, sondern weltweit finde eine "Politisierung" allein dadurch schon statt, dass man sich wechselseitig mit den Verhältnissen der jeweils anderen befassen müsse. Konflikte verbinden, heißt die Grundannahme im Blick auf die heutigen demokratischen Öffentlichkeiten. Ich glaube, sie trifft zu.


Orte realitätsbezogener Wissenschaft

Wenn man nach den Verbindungslinien zwischen praktischer Politik und realitätsbezogener Wissenschaft sucht, kommt ähnlich das Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in den Blick. Fritz Scharpf (inzwischen emeritiert) hat sich mit dem Regieren auf "mehreren Ebenen" befasst, mit governance in Europa zwischen Nationalstaat und Brüssel, aber auch mit den Defiziten (und gelegentlichen Stärken) der föderalen Bundesrepublik selbst, während Wolfgang Streeck den Metamorphosen der Industriegesellschaft nachgeht. Deren Erben, argumentiert er, würden heutzutage zur absinkenden Klasse des globalen Neokapitalismus zählen. Dennoch - in seiner großen Untersuchung Re-Forming Capitalism schimmert am Ende auch so etwas wie eine optimistische Erwartung an die Selbstkorrekturkräfte von Markt und Politik durch, die die Sozialstaatlichkeit und demokratische Teilhabechancen nicht vollkommen preisgeben.

Was die Republik "zukunftsfähig" mache, lautete übrigens die Frage an die Mitarbeiter des Wissenschaftszentrums vor einigen Jahren, die letztlich über die Jahre auch forschungsanleitend blieb. Wolfgang Merkel (Demokratie) und Ruud Koopmans (Migration) gehen dem mit viel Echo auf ihren Feldern nach. Ein Ende der "Pfadabhängigkeit" in Sachen Sozialstaat, Bildung, Forschung - es wurde und wird viel zur Debatte gestellt, einschließlich der Frage, ob wir wirklich genug "Demokratie von unten" haben. Man glaubt es, wenn Jutta Allmendinger sagt, ein "Feigenblatt" für alle Entwicklungstendenzen wolle die Sozialwissenschaft nicht sein.

Geradezu beispielhaft führt Wilhelm Heitmeyer an seinem Bielefelder Institut für Konflikt- und Gewaltforschung vor, wie Sozialwissenschaft heute zugleich grundsätzlich und konkret, analytisch und zukunftsweisend gemacht werden kann. Unter dem Titel Deutsche Zustände berichten die Bielefelder einmal jährlich über Erscheinungsweisen und Ursachen "gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit", also Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie, Islamophobie, Sexismus, Etabliertenvorrechte, aber intervenieren auch in akute Debatten über Nationalismus, Gewaltneigungen in Ostdeutschland oder die sozialen Folgen der Finanzmarktkrise. Nicht umsonst finden diese Untersuchungen von Konfliktursachen in modernen Gesellschaften heute in vielen Staaten Europas, aber auch in den USA, Lateinamerika oder der arabischen Welt neugieriges Echo.

Leider kann man die IG Metall (Qualität des Wachstums: 1972 in Oberhausen) zu den selbstreflexiven, unorthodoxen, autonomen Denkorten nicht mehr zählen. Wenigstens erwähnen möchte ich auch das Frankfurter Institut für Sozialforschung mit seiner Tradition, für die die Namen Adorno, Horkheimer und Habermas stehen. Gesellschaftliche Debatten haben die "Frankfurter" beeinflusst wie wenige. Jürgen Habermas hat das später - bis heute - aus eigener Kraft geleistet. Die alte Rolle für ein solches Institut ist kaum rückzuerobern, und das liegt nicht einfach an seinem Leiter Axel Honneth. Allein schon der strukturelle Wandel der Öffentlichkeit, der sich auch nach der einschlägigen Untersuchung des jungen Sozialphilosophen Habermas ungebremst fortsetzte, macht es ungleich schwerer, Diskurse zu prägen, die Agenda zu bestimmen und Wirkung zu erzielen.

Mit seiner Einmischung zum "fatalen Tiefsinn" Peter Sloterdijks und dessen Bemerkungen über die "institutionalisierte Kleptokratie" des Sozialstaats hatte Honneth übrigens durchaus zu Recht einen neoliberalen Zeitgeist besserverdienender Besitzstandswahrer aufgespießt - aber es ist immer noch Mode, kritische Sozialwissenschaften per se zu verdächtigen, alte Schlachten zu schlagen und sich nur selber illuminieren zu wollen. Falsch und schade.

Mir jedoch geht es hier nur um den Hinweis, dass die Wissenschaft nicht überall, aber doch mancherorts sich längst angekoppelt hat an die Realität, während die Politik noch den Eindruck erweckt, es habe alles seine alte Ordnung, die Sozialwissenschaftler hockten unverändert im Elfenbeinturm. Umgekehrt wird ein Stiefel daraus, möchte man manchmal sagen.


Gunter Hofmann (* 1942) leitete das Zeit-Büro in Bonn und Berlin und war Chefkorrespondent der Wochenzeitung. Im Februar erschien Richard von Weizsäcker - Ein deutsches Leben bei C.H. Beck.
hofmann@zeit.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2010, S. 51-54
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. September 2010