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MELDUNG/1747: Selbstkritik ist eine seltene Tugend (SB)



Anthony Joshuas absonderlicher Wunschzettel

Wenngleich der britische Schwergewichtler Anthony Joshua im Profilager noch keinen einzigen namhaften Gegner besiegt hat, wähnt er zwischen sich und dem Himmel nur noch fünf anspruchsvolle Kandidaten, die sein Talent auf die Probe stellen könnten. Deontay Wilder, Wladimir Klitschko, David Haye, Tyson Fury und Dereck Chisora seien die einzig verbliebenen Kontrahenten, mit denen er sich lieber früher als später messen sollte. Diese verwegene Selbsteinschätzung ruft gleich mehrere kritische Einwände auf den Plan.

Warum der 25jährige in seine kleine Wunschliste Haye und Chisora aufgenommen hat, mag dem Umstand geschuldet sein, daß es sich bei den beiden um britische Landsleute handelt. Davon abgesehen hat Chisora bei der Niederlage gegen Tyson Fury eine so schlechte Figur gemacht, daß er in einer Aufstellung der weltbesten Schwergewichtler nur noch unter ferner liefen zu finden sei sollte. David Haye hat seit drei Jahren nicht mehr im Ring gestanden und wird möglicherweise auch nie mehr dorthin zurückkehren. Er mußte sich nach einer schweren Schulterverletzung einer Operation unterziehen, so daß ungewiß ist, ob er je wieder uneingeschränkt boxen könnte.

Schwerer als dieser Einwand gegen Joshuas Aufzählung wiegt noch, daß er eine ganze Reihe guter Rivalen unerwähnt läßt: Alexander Powetkin, Kubrat Pulew, Bermane Stiverne, Carlos Takam, Chris Arreola, Lucas Browne, Mike Perez, Bryant Jennings, Viatscheslaw Glatskow, Tony Thompson, David Price, Andy Ruiz und Charles Martin dürften ihn allesamt vor mehr oder minder unüberwindliche Probleme stellen. Wenn er tatsächlich der Auffassung sein sollte, sie könnten ihm nicht das Wasser reichen, stellt sich zwangsläufig die Frage, warum er gegen keinen von ihnen angetreten ist.

Läßt man seine bisherigen Gegner Revue passieren, war keiner von ihnen auch nur annähernd so stark wie dieses gute Dutzend, das er am liebsten links liegenlassen möchte. Daß Joshua bei den Olympischen Spielen 2012 in London eine Goldmedaille gewonnen und seit seinem Wechsel ins Profilager im Oktober 2013 sämtliche dreizehn Kontrahenten binnen weniger Runden besiegt hat, läßt Qualitäten vermuten, die einer näheren Überprüfung nicht standhalten. Seine bislang gefährlichsten Gegner waren der Kubaner Erislandy Savon und der Italiener Roberto Cammarelle, gegen die er im Olympiaturnier nur dank ihm gewogener Punktrichter die Oberhand behielt. Nicht wenige Experten sind sogar der Auffassung, daß auch Zhilei Zhang und Ivan Dychko im Kampf gegen den britischen Publikumsliebling benachteiligt worden seien.

Kaum hatte Joshua einen Profivertrag bei Matchroom unterschrieben, als ihn sein rühriger Promoter Eddie Hearn auch schon als künftigen Weltmeister anpries. Um dieses Image des 1,98 m großen Nachwuchstalents zu pflegen, wurden ihm sorgsam ausgewählte Gegner zugeführt, die er recht problemlos auf die Bretter schicken konnte. Kontrahenten wie der 47jährige Matt Skelton, der 40 Jahre alte Michael Sprott oder der 36jährige Konstantin Airich boxten so statisch, daß sie dem aufstrebenden Jungstar leichte Ziele boten.

Nachdem Anthony Joshua am 4. April den 37jährigen Jason Gavern besiegt hatte, folgte am 9. Mai der Brasilianer Raphael Zumbano Love, der sich bereits in der zweiten Runde geschlagen geben mußte. Schon am 30. Mai kam es dann in der Londoner O2 Arena zum Duell mit dem 35 Jahre alten Kevin Johnson, der in der Vergangenheit mit seinen Verteidigungskünsten so prominente Gegner wie Vitali Klitschko, Tyson Fury und Dereck Chisora lange beschäftigt hatte. Obgleich der US-Amerikaner noch nie vorzeitig besiegt worden war und als bislang anspruchsvollste Aufgabe Joshuas gehandelt wurde, war die Entscheidung binnen zwei Runden gefallen. Wie Johnson nach seinem unerklärlich widerstandslosen Auftritt berichtete, habe er aufgrund einer Verletzung seinen rechten Arm praktisch nicht einsetzen können.

Offenbar enttäuscht über die einsetzende Kritik, fügt Joshua hinzu, daß man die Boxfans eben nie zufriedenstellen könne. Stets suchten sie nach anderen Akteuren, die sie für noch besser hielten. Daß selbst die britischen Zuschauer und Journalisten langsam unruhig werden, weil die seit langem angekündigten Kämpfe gegen namhafte Gegner immer weiter in die Zukunft verschoben werden, führt er auf die Unersättlichkeit des Publikums zurück. [1]

Daß Eddie Hearn angekündigt hat, Joshua werde Ende nächsten Jahres um einen Titel kämpfen, ihn aber nach wie vor nur gegen drittklassige Kandidaten boxen läßt, läßt tief blicken. Als erfolgreicher Promoter weiß er nur zu gut, daß eine realistische Einschätzung seiner Boxer und deren Vermarktung in der Öffentlichkeit zwei Paar Schuhe sind. Hielte er Anthony Joshuas Entwicklung tatsächlich für so bahnbrechend, wie er sie allenthalben verkauft, hätte er ihn auf der Leiter wachsender Anforderungen längst etliche Sprossen höher klettern lassen.

Seit seinem Olympiasieg hat Joshua gut zehn Kilo Muskelmasse zugelegt, die wie ein Panzer seinen Oberkörper befrachten und ihn noch unbeweglicher machen, als er es ohnehin schon war. Selbst seine Schlagwirkung scheint gelitten zu haben, so daß er relativ schwache Gegner braucht, die er dank seiner imposanten Statur in die Seile treiben und dort solange mit Schlägen bearbeiten kann, bis sie zu Boden sinken oder sich nicht mehr wehren. Träfe er auf einen gefährlichen Widersacher, der ihn in der Ringmitte ausmanövriert und mit Wirkungstreffern traktiert, wäre Anthony Joshua rasch entzaubert.


Fußnote:

[1] http://www.boxingnews24.com/2015/07/joshua-haye-klitschko-fury-wilder-chisora-are-the-only-ones-that-can-test-me/#more-195768

9. Juli 2015


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