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MELDUNG/1750: Vorschußlorbeeren können leicht zur Bürde werden (SB)



Willie Nelson bremst den talentierten Tony Harrison

Der im Oktober 2012 verstorbene Trainer Emanuel Steward hielt große Stücke auf den von ihm betreuten Halbmittelgewichtler Tony Harrison, dem er eine außergewöhnliche Karriere und den Aufstieg zum Weltmeister zutraute. In 21 Profikämpfen ungeschlagen, traf der 24jährige aus Detroit am vergangenen Wochenende in Tampa, Florida, auf den vier Jahre älteren Willie Nelson aus Cleveland, der 23 Auftritte gewonnen, zwei verloren und einen unentschieden beendet hatte. Die beiden traten im Vorprogramm der Titelverteidigung Keith Thurmans gegen Luis Collazo an, die der WBA-Weltmeister durch Abbruch nach der siebten Runde für sich entscheiden konnte. Harrison gedachte die Aufmerksamkeit von Publikum und Medien bei dieser Premiere des Formats "Premier Boxing Champions" unter der Regie des Senders ESPN zu nutzen, um mit einem Sieg über seinen bislang wohl gefährlichsten Gegner die nächste Sprosse auf der Karriereleiter zu erklimmen.

Die letzte Pressekonferenz zwei Tage vor dem Kampf war recht turbulent verlaufen, da es die Kontrahenten nicht bei einem hitzigen Wortgefecht beließen, sondern sich drohend voreinander aufbauten und gegenseitig schubsten. Dieses Vorspiel mochte dazu beigetragen haben, daß sich Nelson von Beginn an überaus heftig ins Zeug legte und kurz vor Ende der ersten Runde sogar selbst zu Fall brachte, als er den Gegner mit einem gewaltigen Schwinger verfehlte. In der Folge machte jedoch Harrison mit seinem steifen Jab und Körpertreffern gegen den größeren Kontrahenten eine gute Figur, bis sich der Kampf schließlich immer gemächlicher dahinschleppte.

Von der sechsten Runde an machten die Zuschauer ihrem Unmut Luft, da die beiden Boxer mehr posierten als schlugen und häufig klammerten, was unschön anzusehen war. Immerhin steuerte Harrison etliche Treffer mit seiner Rechten bei und brachte ab und zu Kombinationen an den Mann, so daß er einem Punktsieg entgegenzusteuern schien. Das ging bis zur achten Runde gut, in der Nelson plötzlich aufzuwachen schien, den Gegner unter Druck setzte und gefährliche Schläge landen konnte. Harrison wirkte nun müde und hätte sich dank seiner Beweglichkeit aus der Schußlinie bringen sollen. Statt dessen blieb er vor dem Gegner stehen und mußte dadurch diverse Kopftreffer einstecken.

Auf den Zetteln der Punktrichter lag Harrison immer noch in Front, als ihn Nelson in der neunten Runde oben am Kopf erwischte, eine Linke folgen ließ und die Aktion mit einem rechten Uppercut abschloß, der den Kontrahenten rücklings zu Boden stürzen ließ. Harrison kam taumelnd wieder auf die Beine, doch wendete er sich nicht dem Gegner zu, sondern ging schwankend in seine Ecke. Daher blieb Ringrichter Frank Santore keine andere Wahl, als den Kampf nach 2:57 Minuten der Runde für beendet zu erklären. Harrison protestierte gegen den Abbruch, den der Referee jedoch allein schon mit Blick auf die Verfassung des noch immer angeschlagenen Boxers nicht zurücknahm.

So mußte Tony Harrison, der bislang an Nummer acht der IBF-Rangliste geführt wurde, die erste Niederlage seiner Karriere hinnehmen. Er hatte nicht schlecht gekämpft und häufiger geschlagen wie auch getroffen als sein Gegner, bis das Verhängnis seinen Lauf nahm. Allerdings trug auch er zu einem trägen und überwiegend langweiligen Kampf bei, der das Publikum erboste. Er hatte sich die überraschende Niederlage insofern selbst zuzuschreiben, als er seine Deckung vernachlässigte und sich eine Menge unnötiger Treffer einhandelte, indem er vor dem größeren und wuchtig zuschlagenden Kontrahenten verharrte.

Wie Harrison anschließend erklärte, sei zunächst alles nach Plan gelaufen. Als er sich schließlich auf der Siegerstraße wähnte, habe er sich von dem Drang übermannen lassen, den Fans zu Hause in Detroit etwas Besonderes zu bieten und den Gegner auf die Bretter zu schicken. Er sei unvorsichtig geworden und habe sich prompt einen Treffer eingehandelt, der allerdings auf dem Hinterkopf gelandet sei. Nach dem Aufstehen habe er sich seinem Team zuwandt und so den Referee veranlaßt, auf die gebotene Weise einzugreifen. Bei allem Respekt für Nelson sei dies doch eine unnötige Niederlage gewesen, nach der er stärker denn je in den Ring zurückkehren werde. Er danke Al Haymon wie auch ESPN und gehe erhobenen Hauptes von dannen.

Für Willie Nelson, der bei seinem letzten Auftritt im Oktober 2014 nach Punkten gegen Vanes Martirosyan verloren hatte, ist der vorzeitige Sieg über den hoch gehandelten Tony Harrison natürlich eine Rehabilitation nach Maß. Wie er zu berichten wußte, habe er sich Zeit gelassen und in Geduld geübt. Der Plan, den Gegner boxen zu lassen, um ihn früher oder später entscheidend zu treffen, sei aufgegangen. Nun wolle er gegen einen Weltmeister antreten und wünsche sich Cornelius Bundrage, Erislandy Lara und zum krönenden Abschluß Demetrius Andrade.

Nelson räumte selbstkritisch ein, er müsse weiter daran arbeiten, seine Schlagfrequenz zu erhöhen. Wie recht er damit hat, zeigte der träge Kampfverlauf in Tampa, mit dem die Kontrahenten das Publikum auf die Palme brachten. Wenngleich Nelson über einen guten Jab verfügt, setzt er ihn viel zu selten ein und wartet statt dessen rundenlang auf eine Gelegenheit, irgendwann einen Volltreffer zu landen. Diese Vorgehensweise war gegen Tony Harrison von Erfolg gekrönt, doch läßt sich daraus keineswegs die von Nelson im Nachvollzug für sich reklamierte taktische Überlegenheit ableiten. Er hätte nach Punkten verloren, wäre sein Gegner nicht unvorsichtig geworden. Eine zwingende Empfehlung für einen Titelkampf im stark besetzten Halbmittelgewicht war dieser Auftritt trotz des spektakulären Endes noch lange nicht. [1]


Fußnote:

[1] http://espn.go.com/boxing/story/_/id/13240403/willie-nelson-defeats-tony-harrison-late-ko

14. Juli 2015


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