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MELDUNG/2348: Mittelgewicht - auf verschlungenen Pfaden ... (SB)



Gennadi Golowkin gegen Sergej Derevjanschenko um den IBF-Titel

Gennadi Golowkin und Sergej Derevjanschenko kämpfen am 5. Oktober um den vakanten IBF-Titel im Mittelgewicht. Der Auftritt im New Yorker Madison Square Garden wird vom Streamingdienst DAZN übertragen. Im August 2018 hatte der Verband dem Kasachen den Titel aberkannt, da er ihn nicht innerhalb einer festgesetzten Frist gegen den damaligen Pflichtherausforderer Derevjanschenko verteidigte. Golowkin war zwar durchaus zu diesem Kampf bereit, hatte aber bereits für Mitte September die Revanche mit Saul "Canelo" Alvarez vereinbart, der er natürlich den Vorzug gab. Im Kampf um den vakant gewordenen Titel mußte sich der Ukrainer dann Daniel Jacobs geschlagen geben, der wiederum im Mai 2019 gegen "Canelo" verlor, so daß der Mexikaner auch die Trophäe der IBF in seinen Besitz brachte.

Obgleich Sergej Derevjanschenko gegen Jacobs verloren hatte, wurde er vom Verband IBF nicht in der Rangliste zurückgestuft, sondern bekam einen Ausscheidungskampf gegen Jack Culcay, den er im April nach Punkten besiegte. Dadurch wurde der Ukrainer abermals Pflichtherausforderer und hatte gute Aussichten, einen hochdotierten Titelkampf gegen den Weltmeister Saul Alvarez an Land zu ziehen, dem die IBF eine Frist setzte, innerhalb derer er sich Derevjanschenko stellen sollte. "Canelo" schien damit einverstanden zu sein, und so verhandelten die beiderseitigen Teams über die Modalitäten. Um so größer war dann die Verwunderung, als eine termingerechte Einigung nicht zustande kam und der Verband daraufhin Alvarez den Titel am grünen Tisch aberkannte. [1]

Auf diesen verschlungenen Pfaden wanderte der IBF-Gürtel also binnen eines Jahres hin und her und wird nun im Oktober unter den beiden Boxern vergeben, die im August letzten Jahres schon einmal um ihn kämpfen sollten, nur daß Golowkin damals noch amtierender Weltmeister war. Wichtiger als der Titel selbst ist indessen die Aussicht, daß der Sieger wahrscheinlich auf "Canelo" treffen wird, der noch Champion der Verbände WBA und WBC ist. Während für den 37jährigen Kasachen 39 Siege, eine Niederlage sowie ein Unentschieden zu Buche stehen, hat der vier Jahre jüngere Ukrainer 13 Auftritte gewonnen und einen unentschieden abgeschlossen.

Für beide Akteure steht sehr viel auf dem Spiel, da der Sieger ganz oben mitmischen und dabei enorme Beträge verdienen kann, während der Verlierer weit zurückfällt und für geraume Zeit kleine Brötchen backen muß. Daher dürfte ein verbissener und möglicherweise auch hochklassiger Kampf zu erwarten sein, bei dem Golowkin als klarer Favorit in den Ring steigt. Er kann nicht nur mit einer weit größeren Erfahrung aufwarten, sondern gebietet auch über eine gefürchtete Schlagwirkung, der sein Gegner nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hat. Der Ukrainer geht zwar für gewöhnlich von Beginn an angriffslustig zu Werke, doch drohte ihm in diesem Fall, dabei ins offene Messer zu laufen und sich im Schlagabtausch schwere Treffer einzuhandeln. Beide schlagen in etwa gleich schnell, wobei Golowkin aber kaum damit rechnen muß, wie im Kampf mit "Canelo" beständig ausgekontert zu werden.

Daß es zu einer Einigung der beiden Teams gekommen ist, dürfte nicht zuletzt auf die Intervention John Skippers zurückzuführen sein. Dem Chef von DAZN war sehr daran gelegen, diesen Kampf um den IBF-Titel auf den Weg zu bringen, zumal damit künftig weitere attraktive Optionen verbunden sind. Der Streamingdienst hat mit "Canelo" und Golowkin hochdotierte Verträge abgeschlossen, die sich nur dann amortisieren lassen, wenn es zu Kämpfen kommt, die beim Publikum großes Interesse wachrufen. Ein drittes Duell zwischen Golowkin und "Canelo" an einem neutralen Austragungsort wäre durchaus geeignet, für ansehnliche Zuschauerzahlen zu sorgen.

Legt man Derevjanschenkos Niederlage gegen Daniel Jacobs zugrunde, stehen seine Aussichten womöglich gegen Gennadi Golowkin noch schlechter. Der New Yorker war zu groß, zu schnell und zu talentiert für den Ukrainer. Wenngleich der Kasache etwas kleiner als Jacobs ist und nicht ganz so schnell schlägt, hat er dennoch Reichweitenvorteile gegenüber Derevjanschenko. Sollte dieser unterliegen, rücken für ihn auch Kämpfe gegen Weltmeister der anderen Verbände wie Saul Alvarez (WBA), Jermall Charlo (WBC) und Demetrius Andrade (WBO) in unerreichbare Ferne, zumal er in deren Ranglisten nicht wie bislang bei der IBF protegiert wird. Es würde ihn daher Jahre kosten, sich in den Ranglisten der drei anderen Verbände soweit nach vorn zu kämpfen, daß er in Reichweite eines Champions käme. Wie die IBF weiter verfahren würde, ist ungewiß, doch fragen sich längst wachsende Teile des interessierten Boxpublikums, wieso der Ukrainer ungeachtet der Niederlage gegen Jacobs schon wieder eine Titelchance bekommt, während andere Kandidaten zurückstehen müssen. [2]

Will Golowkin gegen Derevjanschenko die Oberhand behalten und dabei ein deutliches Zeichen setzen, darf er nicht so zurückhaltend boxen wie bei seiner Niederlage gegen Saul "Canelo" Alvarez im September 2018. Der Mexikaner war damals keineswegs der bessere Boxer, schuf aber dank einer ausgezeichneten taktischen Marschroute den Eindruck einer überlegenen Kampfesweise. Nachdem er im ersten Kampf häufig zurückgewichen war, um sich den Schlägen des Kasachen nicht auszusetzen, und ihm dabei teilweise sogar den Rücken zugekehrt hatte, um drohende Körpertreffer zu vermeiden, ging er nun ständig in die Offensive. Wie ein aufmerksames Studium der Aufzeichnung belegte, wich ihm Golowkin häufig aus und neutralisierte damit recht erfolgreich die Angriffe des Gegners. Für die Punktrichter, die in Las Vegas ohnehin den Lokalmatador favorisierten, stellten sich diese Manöver jedoch optisch als Dominanz "Canelos" dar, der sie in ihrer Wertung den Zuschlag gaben. Legte man hingegen nüchtern die Anzahl und mutmaßliche Wirksamkeit der Treffer zugute, schien Golowkin knapp in Front zu liegen.

Da sich das Ergebnis samt der daraus abgeleiteten Legendenbildung in der Folge als vermeintlich unbestreitbarer Tatbestand verfestigte, kann der Kasache nicht umhin, seine Kampfesweise zu modifizieren. Das Verhängnis zeichnete sich im Grunde schon beim Kampf gegen den Briten Kell Brook ab, der 2016 in London über die Bühne gegangen war. Brook machte lediglich in der zweiten Runde eine gute Figur, als er optisch sogar überlegen wirkte, ohne jedoch eine nennenswerte Wirkung zu erzielen. Das vor Begeisterung tobende Heimpublikum und ein Gespann von Punktrichtern, das sich von dieser Euphorie beeindrucken ließ, führten dazu, daß Brook beim Abbruch in der fünften Runde, als sein Trainer das Handtuch warf, nach Punkten in Führung lag, was den Kampfverlauf auf den Kopf stellte. Golowkin hatte die erste Runde gewonnen und den Herausforderer von der dritten an ständig gejagt, so daß dem Briten allenfalls der zweite Durchgang gutgeschrieben werden konnte.

Daraus wurde hinterher Zug um Zug die Version fabriziert, der Kasache habe im Kampf gegen Brooks erstmals Schwächen an den Tag gelegt, die davon zeugten, daß er nicht mehr der unbesiegbare Champion, sondern in die Jahre gekommen sei. Greife man ihn nur beherzt an, zeigten sich die Mängel in seiner Vorgehensweise, da er dann nicht schnell genug sei und zurückweichen müsse. Golowkins langjähriger Trainer Abel Sanchez war offensichtlich nicht in der Lage, aus dieser Situation Konsequenzen zu ziehen, was wohl der wesentliche Grund für die spätere Trennung war, die von dem Kasachen herbeigeführt wurde. Sanchez hatte stets darauf gedrängt, daß Golowkin die Gegner nicht nur vorzeitig besiegen dürfe, sondern sie auch mit kluger Zurückhaltung und boxerischen Mitteln in die Schranken weisen müsse. Als dann nach dem Unentschieden im ersten Kampf gegen "Canelo", bei dem es sich um ein krasses Fehlurteil handelte, feststand, daß Golowkin in Las Vegas nur vorzeitig, aber niemals nach Punkten gegen den Mexikaner gewinnen könnte, fand Sanchez keine taktische Variante, dieses Problem zu lösen. Ganz anders die Gegenseite, da "Canelo" entgegen allen Prognosen ständig auf den Kasachen losstürmte, soweit das seine limitierte Kondition zuließ, und damit ein Erfolgsrezept in die Welt setzte.

Golowkin muß also auf seinen neuen Trainer Jonathon Banks hören, der ihm eine höhere Schlagfrequenz mit vielen Kombinationen abverlangt. Auf diese Weise soll verhindert werden, daß der Kasache nach Punkten in Rückstand gerät und diesen womöglich später nicht mehr mit einem Niederschlag wettmachen kann. Beim Kampf gegen den klaren Außenseiter Steve Rolls im Juni war davon allerdings noch nicht viel zu sehen, denn Golowkin boxte ähnlich wie zuvor. Er ließ dem 35jährigen Kanadier in den ersten Runden viel Luft, wofür er mehr Treffer einstecken mußte, als man angesichts des relativ unbekannten Kontrahenten erwartet hatte. Als der Kasache dann in der vierten Runde einen Gang zulegte, war es rasch um Rolls geschehen. In der Auswertung setzte es viel Kritik, weil Golowkin nicht früher rückhaltlos angegriffen und kurzen Prozeß gemacht hatte.

Als Gennadi Golowkin seit 2008 sämtliche Gegner vorzeitig besiegt und den Nimbus der Unschlagbarkeit erwirkt hatte, hielt man ihm nicht selten vor, das werde auf die Dauer langweilig. Er müsse schon mehr tun, um das Publikum zu unterhalten, was er denn auch tat. Also machte er nicht von Anfang an Druck, sondern boxte einige Runden lang mit den Gegnern, um sie erst nach und nach konsequenter zu jagen und schließlich zu stellen. Dieses Konzept funktioniert heute insofern nicht mehr, als der Nimbus gebrochen ist und sich die überlegene Marktmacht "Canelos" durchgesetzt hat. Selbst wenn es zutreffen sollte, daß der Kasache inzwischen weniger gefährlich als in der Vergangenheit ist, hat er es mit dem weit größeren Problem eines Ansehensverlustes zu tun. Er muß damit rechnen, daß Zuschauer und Punktrichter heute nicht nur in Las Vegas vor allem seine vermeintlichen Schwächen im Blick haben und ihm eine in ihren Augen zu geringe Schlagfrequenz und jedes Zurückweichen zur Last legen.

Das Kernproblem bei dieser Umstellung ist allerdings, daß es dabei nicht in erster Linie darum geht, effektiver zu boxen, sondern bei den Beobachtern Eindruck zu schinden. Das könnte im ungünstigen Fall dazu führen, daß Golowkin eben jene Fähigkeiten einbüßt, die ihn vordem ausgezeichnet haben. So war er nicht nur wegen seiner gewaltigen Schlagwirkung furchteinflößend, sondern auch angesichts seines Vermögens, selbst schwere Treffer wegzustecken. Seine Gegner erfuhren frühzeitig, daß sie ihm damit nichts anhaben konnten, ja sogar das Feuer seiner Angriffslust entfachten. Er stellte auf dem direktesten Weg klar, wer der Jäger und wer die Beute war. Diese Fähigkeit, die sich nur bedingt in die Parameter eines taktischen Konzepts kleiden läßt, beschrieb der Kasache selbst mitunter als "Straßenkampf", von dem ihn Abel Sanchez so gerne abgehalten hätte. Die Ratio des erfahrenen Trainers war natürlich insofern nicht ganz von der Hand zu weisen, als ein offener Schlagabtausch stets unnötige Risiken birgt und gewissermaßen zu vermeidbaren Treffern führt. Daß sich diese Kontroverse zuletzt zu einer Gegenläufigkeit aufschaukelte, die zu wachsenden Unwuchten führte, könnte darauf schließen lassen, daß Golowkins Kampfesweise in ihrer Gesamtheit selbst in seinem engsten sportlichen Umfeld offenbar nicht in letzter Konsequenz ausgelotet wurde.


Fußnoten:

[1] www.boxingnews24.com/2019/08/gennady-golovkin-has-agreed-to-terms-to-face-sergiy-derevyanchenko-on-oct-5/

[2] www.boxingnews24.com/2019/08/golovkin-and-derevyanchenko-agree-to-financial-terms-for-oct-5-fight-at-msg/

19. August 2019


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