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MELDUNG/2357: Leichtgewicht - Ehrentitel sorgt für böses Blut ... (SB)



WBC erklärt Wassyl Lomatschenko zum "Franchise Champion"

Das Sportpublikum im allgemeinen und die Gelegenheitsfans des Boxens im besonderen verstehen seit Jahren nicht mehr, was es mit der Flut diverser Titel im einzelnen auf sich hat, und wollen es auch gar nicht wissen. Schon in der Epoche einer Aufspaltung in vier große Weltverbände schlug die Kontroverse um die Frage, wer der "wahre Champion" einer Gewichtsklasse sei, hohe Wellen. Heute gibt es im Prinzip nicht nur vier Weltmeister, sondern überdies einen Superchampion, den regulären Weltmeister, den Interimsweltmeister, den Silver Champion und den Champion im Wartestand. Jahrelange Beteuerungen der Verbandsführungen, man werde diesen Wirrwarr auf dem Wege einer Flurbereinigung abschmelzen, sind im Sande verlaufen. Die Gründe liegen auf der Hand, geht es doch um Einfluß in der Branche, Kollaboration mit Promotern und Sendern wie auch um beträchtliche Einkünfte, da die Verbände bei Titelkämpfen dank prozentualer Anteile an der Börse mitkassieren.

Diese Entwicklung korrespondiert mit der Deregulierung und Neoliberalisierung gesellschaftlicher Prozesse, welche die freie Wildbahn angeblicher Marktkräfte zur einzig relevanten Begegnungsfläche individualisierter und miteinander konkurrierender Monaden erklärt. Kollektive Bezüge oder gar solidarisches Handeln haben dieser Ideologie zufolge ausgedient, während die Bezichtigung, das persönliche Scheitern schuldhaft herbeigeführt zu haben, unter der zur höchsten Tugend verklärten Eigenverantwortung subsumiert wird. So weit, so schlecht.

Wer diese Verwerfungen im Boxsport über die Jahre verfolgt hat, mag sie beklagen oder auch kritisieren, doch schien das Vermögen, sich über abstruse Konstrukte und aberwitzige Winkelzüge zu wundern, restlos aufgebraucht zu sein. Daß diesbezüglich immer noch Luft nach oben ist, stellte indessen WBC-Präsident Mauricio Sulaiman unter Beweis, der einen weiteren Titel fabriziert und vergeben hat, dessen Bedeutung er selbst nicht mehr nachvollziehbar erklären kann. Eine Pressekonferenz, auf der er von den anwesenden Sportjournalisten gelöchert wurde, endete damit, daß Sulaiman verkündete, diese Debatte führe nirgendwo hin, weshalb er keine weiteren Fragen mehr beantworte.

Gegenstand der Kontroverse war der Rang des Ukrainers Wassyl Lomatschenko, den die Verbandsführung des WBC zum sogenannten Franchise Champion im Leichtgewicht erklärt hat. Was das sein soll, scheint außer Sulaiman niemand in letzter Konsequenz zu verstehen. Während der WBC-Präsident ein ums andere Mal betonte, daß Lomatschenko zugleich unangefochtener Champion in dieser Gewichtsklasse werden könne, wollten das die Pressevertreter aus einem plausiblen Grund nicht einsehen. Während nämlich als unangefochtener Champion landläufig jener Boxer gilt, der sich den gefährlichsten Konkurrenten gestellt und sie besiegt hat, ist der neugeschaffene Franchise-Titel eine Trophäe, die ihr Inhaber nicht verlieren kann. Das ist in etwa so schräg, wie es sich anhört.

Sulaimans Ratio bei diesem Manöver ist nicht weiter geheimnisvoll. Er möchte Lomatschenko erklärtermaßen in die Position versetzen, daß er genau jene bedeutenden Kämpfe im Leichtgewicht oder in anderen Limits austragen kann, die er möchte, während er zugleich von allen Pflichten entbunden wird, sich beispielsweise mit dem Ranglistenersten des WBC zu messen, der normalerweise sein Pflichtherausforderer wäre. Nachdem in den letzten Jahren die diesbezüglichen Regularien der Verbände in der Praxis zunehmend aufgeweicht wurden, ist dies nun ein Schritt, die Entkopplung in Einzelfällen auch offiziell zu verankern. Im konkreten Fall heißt das, daß der Ukrainer nicht gegen Devin Haney antreten muß, der jüngst zum WBC-Champion im Leichtgewicht erklärt worden ist. Lomatschenko und Haney gelten als die besten Boxer in dieser Gewichtsklasse, weshalb ein Kampf dieser beiden herausragenden Akteure ganz nach dem Geschmack des Publikums wäre. Da beide einen Titel beim selben Verband haben, gäbe es im Regelfall interne Vorgaben, die einen solchen Kampf innerhalb bestimmter Fristen auf die Tagesordnung setzen. Hier verhält es sich aber so, daß Lomatschenko dem Briten dauerhaft aus dem Weg gehen kann, ohne daß das Konsequenzen für ihn hätte.

So positiv diese Situation für Wassyl Lomatschenko und seinen Promoter Bob Arum ist, der beim WBC einen Stein im Brett hat, so wenig können sich die Boxjournalisten wie auch die Fangemeinde mit der Situation anfreunden, daß der Ukrainer nicht gegen Devin Haney antreten muß, sondern sich mit dem Sieger des Kampfs zwischen Richard Commey und Teofimo Lopez messen will, um sich auch noch den vierten Gürtel im Leichtgewicht zu sichern. Lomatschenko plant, seine Titelsammlung zu komplettieren, also unangefochtener Champion in dieser Gewichtsklasse zu werden, und dann ins Superfedergewicht zurückzukehren.

Auf zunehmend ungehaltene Nachfragen, wieso Lomatschenko gleichzeitig unangefochtener Champion werden, aber den Franchise-Titel auch im Falle einer Niederlage behalten könnte, erwiderte Sulaiman, daß dieser Ehrentitel eben nicht übertragbar sei. Hingegen ist Haney zwar offizieller Weltmeister des WBC, muß diesen Titel jedoch wie üblich abgeben, sollte er einem Gegner unterliegen. Soweit alles unklar? Der Ukrainer wehrte sich verständlicherweise nicht gegen die Verleihung seines neuen Titels, obwohl der in gewisser Weise an seinem Image kratzt. Zumindest wäre er auch als unangefochtener Weltmeister in den Augen vieler Fans doch nicht unumstritten, weil er seinem gefährlichsten Gegner folgenlos aus dem Weg gehen konnte und sich statt dessen eine leichtere Aufgabe ausgesucht hat.

Bislang hat Lomatschenko keinerlei Interesse erkennen lassen, mit Devin Haney in den Ring zu steigen. Der in 23 Kämpfen ungeschlagene Brite ist erst 20 Jahre alt, während für den 31jährigen Ukrainer 14 Siege und eine Niederlage zu Buche stehen. Der Ukrainer ist eine Ausnahmeerscheinung, da er als Amateurboxer fast 400 Kämpfe bestritten und nur einen einzigen verloren hat, zweimal Olympiasieger wurde und im Profilager bereits in drei Gewichtsklassen Weltmeister geworden ist, weshalb er als bester Akteur der gesamten Branche gehandelt wird. Im Prinzip ist er ein weitaus besserer Boxer als Haney, der jedoch seine Jugend und den brennenden Ehrgeiz ins Feld führen kann, eine Wachablösung herbeizuführen, indem er den alten Löwen bezwingt. Wenngleich der Ukrainer also gewissermaßen eine Klasse für sich ist, kann man doch durchaus nachvollziehen, daß er sich nicht darum reißt, den aufstrebenden Briten auf die Probe zu stellen.

Sulaiman führte zwar zur Verteidigung seiner Konstruktion an, daß Haney theoretisch gegen Lomatschenko kämpfen könnte, doch besteht der Pferdefuß wie gesagt darin, daß kein Mechanismus vorgesehen ist, der Haney dieses Recht einräumen würde. Da der Ukrainer den Briten Luke Campbell besiegt habe, sei er WBC-Champion. Nun komme das neue Konzept hinzu, das seine herausragenden Verdienste würdige, argumentierte der Verbandspräsident. Zugleich sei nach dem Abgang Mikey Garcias, der den WBC-Titel vakant zurückgelassen habe, ein Modus festgelegt worden, der auch Devin Haney und weitere Kandidaten einschloß. Das sei natürlich auf den ersten Blick verwirrend, und er wolle das an dieser Stelle auch gar nicht in allen Einzelheiten erklären, da die Medienvertreter schlichtweg ein altvertrautes Modell im Kopf hätten. Vor 20 Jahren hätten sich viele mit Händen und Füßen gegen die Einführung der Zeitlupe im Football gewehrt, während heute jeder erwarte, daß sie in Sekundenschnelle zur Verfügung stehe. Man müsse eben mit der Zeit gehen und neue Ideen realisieren. Das Publikum wolle die bestmöglichen Kämpfe sehen, und der Status des Franchise Champion halte außergewöhnlichen Akteuren den Rücken frei, solche Kämpfe auszutragen, wo immer sich die Gelegenheit dazu biete.

Die immer wieder gestellte Frage, warum dann der bestmögliche Kampf im Leichtgewicht nicht stattfinde, weil Devin Haney nicht gegen Lomatschenko antreten könne, zwang Sulaiman in die Schleife zu versichern, der Brite habe Zaur Abdullajew besiegt, sei damit WBC-Champion geworden und könne sehr wohl gegen den Ukrainer kämpfen. Daß der Verbandspräsident stets von einer theoretischen Möglichkeit sprach, die jedoch zumindest von seiten Haneys praktisch nicht einzulösen ist, was die Pressevertreter beklagten, führte schließlich, wie oben beschrieben, zum abrupten Abbruch der Pressekonferenz. [1]

Daß Promoter Eddie Hearn von Matchroom Boxing, bei dem Devin Haney unter Vertrag steht, nicht gerade glücklich über die jüngste Wendung der Ereignisse ist, kann man sich lebhaft vorstellen. Schließlich hat er seinen Boxer in die Mühle der Qualifikation beim WBC geschickt, um ihn an die Spitze der Rangliste zu bringen. Nun ist Haney zwar ganz vorn angekommen, darf aber doch nicht gegen Wassyl Lomatschenko einen der wenigen wirklich spektakulären Kämpfe austragen, die im Leichtgewicht derzeit möglich sind und sich zumindest vor britischem Publikum lukrativ vermarkten ließen. [2]

Mochte es ein kurzes Zeitfenster gegeben haben, in dem dieser Kampf zumindest möglich gewesen wäre, so ist es jetzt de facto geschlossen. Lomatschenko und sein Promoter Bob Arum werden den eingeschlagenen Weg weitergehen, wenn möglich alle vier Titel im Leichtgewicht zusammenführen, um dann wieder im Superfedergewicht die Kreise zu ziehen. Das macht aus ihrer Sicht durchaus Sinn, da der Ukrainer angesichts seiner langen und strapaziösen Amateurlaufbahn bald in die Jahre kommen und körperlich nachlassen könnte. Die zeitweise im Raum stehende Idee, in höhere Gewichtsklassen aufzusteigen, um dort die hochkarätigsten Kämpfe auszutragen, hat sich als nicht realisierbar erwiesen. Beim Wechsel in höhere Limits ist irgendwann die Grenze erreicht, jenseits deren selbst höchste technische Fertigkeiten einen gravierenden Gewichtsnachteil nicht mehr kompensieren können. Das zeichnete sich bei Lomatschenko ab und zeigte sich in aller Deutlichkeit bei Mikey Garcia, der zwei Limits aufstieg, um sich im Weltergewicht mit dem IBF-Champion Errol Spence zu messen, der als bester Akteur dieser Gewichtsklasse gilt. Der als herausragender Boxer bekannte Garcia war chancenlos und wurde von dem Texaner regelrecht vorgeführt.

Das will sich Lomatschenko ersparen, und so hat er den Traum vom ganz großen Geld im stark besetzten Weltergewicht zu Grabe getragen und konzentriert sich künftig wohl auf das Superfedergewicht, das seinen körperlichen Voraussetzungen am ehesten entspricht. Er wird dort keine riesigen Summen einstreichen, aber immer noch genug verdienen und sich einige weitere Jahre durchsetzen, um schließlich erhobenen Hauptes seine Karriere zu beschließen. Die eine oder andere Million mehr auf dem Konto wäre zwar ausgesprochen komfortabel, könnte aber auf lange Sicht den Verlust eines guten Rufes kaum wettmachen.


Fußnoten:

[1] www.boxingnews24.com/2019/10/sulaiman-says-lomachenko-can-become-undisputed-as-franchise-champion/

[2] www.boxingnews24.com/2019/10/hearn-furious-at-lomachenko-being-given-franchise-tag-without-fighting-haney/

26. Oktober 2019


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