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KOMMENTAR/022: St.Pauli vs. Rostock - Eskalation zum Nutzen exekutiver Gewalt (SB)



"Der Fußball ist nicht nur ein Spiegelbild der Gesellschaft, sondern in ihm bündeln sich die gesellschaftlichen Probleme wie in einem Brennglas", sagte Professor Gunter Pilz vom Sportinstitut der Leibniz-Universität in Hannover (FAZ.net, 13.11.2008). Wie so viele Soziologen, die von distanzierter Warte aus die Aggressions- und Gewaltphänomene des Sports ins Okular ihrer Analysen nehmen, um sie für die gutbürgerliche Ordnung nicht nur anschaulich, sondern im Sinne vorherrschender Interessen auch händelbar zu machen, weiß auch der renommierte Berater des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), was die Stunde geschlagen hat. "Wir müssen leider konstatieren", so Pilz vor dem Sportausschuß des Bundestages, als im November vergangenen Jahres das Generalthema "Extremismus und Gewalt" auf der Tagesordnung stand, "daß der sportliche Wettkampf auf dem Spielfeld Stellvertreterfunktion angenommen hat für den Kampf um soziale Anerkennung und Gleichbehandlung. Der Sport ist Austragungsort eines sozialen Konflikts, in dem Mehrheitsgesellschaft und Migranten um die Veränderung der sozialen Rangordnung, die Verteilung von Ressourcen und die Anerkennung kultureller Normen kämpfen".

Der Sozialkampf wird allerdings keineswegs nur von Migranten, die in der Hackordnung unserer Leistungsgesellschaft meist am untersten Stufenrand stehen, auf oder neben das Spielfeld getragen, sondern von allen Bevölkerungsteilen, die sich ein konsumistisches oder unpolitisches Verhältnis zum Sport schlicht aufgrund der Tatsache nicht mehr leisten können, daß ihnen die kapitalistische Gesellschaft die sozioökonomische Grundlage dafür entzogen hat. Was sollte von einem Volk, dem mit Lohndrückerei, Arbeitslosigkeit, Hartz-IV-Gesetzen, ansteigender Armut und weiteren mit der Finanz- und Wirtschaftskrise einhergehenden Härteregeln Bescheid gestoßen wird, anderes zu erwarten sein, als daß es dort, wo die zwischenmenschliche Gewalt noch aus besseren Zeiten im sportlichen Wettkampf reguliert und im Zuschauertheater an die karnevaleske Leine gelegt wurde, über die Stränge schlägt? Als größte Sorge gilt den Satten und Saturierten seit jeher, daß sich das Massenpublikum nicht mehr mit dem Surrogat von "Brot und Spielen" abspeisen läßt, ja auch die rivalisierenden Fans ihr Mütchen nicht mehr in Freude-, Häme- oder Haßgesängen auf der Tribüne abkühlen, sondern das, was ihnen der Leistungssport entgegen aller Fairneß-Fabeln ständig vorlebt, nämlich daß Stärke belohnt, dem Erfolgreichen alles und dem Schwachen pure Verachtung winkt, sich mit "gesunder Härte" und "bedingungslosem Einsatz" auch auf der Straße Bahn bricht.

Wenn sich dabei auch noch Fanrivalität mit politischem Aktionismus mischt, sich Überschneidungen ergeben und Polizei-Soziologen zunehmend Schwierigkeiten haben, den Spaltpilz der Gruppenkategorisierung anzusetzen - hier die Fußballfans der Kategorien B (gewaltsuchend) und C (gewaltbereit), die rot sehen, wenn sie auf ihre Erzrivalen treffen, dort die Autonomen, die ebenso rot sehen, wenn sie auf ihren Intimfeind, die Neonazis, treffen -, wird die Gemengelage immer undurchschaubarer.

Das macht es den Medien wiederum leicht, nach Gusto aus dem Vollen zu schöpfen. Trotz widersprüchlicher Aussagen über die Urheber der schweren Ausschreitungen am Freitag, den 6. März anläßlich des Zweitligaspiels zwischen dem FC St. Pauli und Hansa Rostock wußte welt-online (6.3.2009) genau, wo die Bösewichte zu verorten sind: "Ausgelöst wurde die Straßenschlacht offenbar durch Fans des FC St. Pauli und Mitgliedern der autonomen Szene." Mehrere hundert Menschen - darunter schwarz gekleidete Autonome - seien randalierend durch die Straßen gezogen.

Medienberichten zufolge gab es schon vor dem Fußballspiel in Hamburg Randale. Rund 300 Rostocker Fans, die keine Eintrittskarten hatten, sollen sich vor dem Gästeeingang des Stadions versammelt und dort mit Flaschen und Feuerwerkskörpern auf Polizeibeamte geworfen haben. Zudem rüttelten Rostocker Fans so heftig am Zaun der Nordkurve des Stadions, daß er instabil wurde. "Die Polizei griff 'niedrigschwellig' bereits bei den geringsten Auseinandersetzungen hart ein", berichtete das Hamburger Abendblatt, über den darin enthaltenden Widerspruch geflissentlich hinwegsehend. Vier Hansa-Fans waren darüber hinaus bereits vor der Abfahrt des Sonderzugs nach Hamburg, in dem sich rund 750 Anhänger befanden, von der Polizei festgesetzt worden - weil sie "Sturmmasken" dabeihatten. Während des Spiels brannten "Hansa-Hooligans" (berlin-online) zu Beginn der 2. Spielhälfte auf der Tribüne bengalische Feuer ab.

Nach der Partie waren die Rostocker Fans, die laut der moderaten Fan-Seite www.lautgegennazis.de "definitiv mehrheitlich einen rechtsextremen Hintergrund" hätten, im Block und von der Polizei begleitet zum Bahnhof eskortiert worden. Dabei wurde der Zug mit Flaschen beworfen. Rund um den Pferdemarkt eskalierte dann die Situation. Etwa 1.000 Anhänger des FC St. Pauli versuchten, zum Rostocker Anhang durchzubrechen. Dabei wurden Flaschen, Steine, Böller und selbstgebastelte Brandsätze geworfen. Im Verlauf der Straßenschlachten wurden fünf Polizisten, zwei Fans und ein Passant verletzt. Fünf Personen wurden zudem vorläufig festgenommen, zehn Menschen kamen in Gewahrsam.

Die Polizei indes, die mit sechs Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray gegen die Randalierer vorging, war mit 1367 Beamten im Einsatz, darunter vier Alarm-Abteilungen und Beweissicherungs- und Festnahme-Einheiten (BFE). Ein solches Großaufgebot, das selbst Erstligaverhältnisse übersteigt, hatte es noch nie zuvor bei einer Zweitliga-Partie gegeben. Obwohl die Feindschaft der Fangruppen bekannt war, zumal es bereits schwere Ausschreitungen im Hinspiel in Rostock gab, hatte die Polizeiführung offenbar beschlossen, deeskalierenden Maßnahmen eine Absage zu erteilen und statt dessen Härtepräsenz zu zeigen.

Einem Bericht von www.abendblatt.de (7.3.2009) zufolge habe Einsatzleiter Peter Born eine Wiederholung der "Ajax"-Taktik beschlossen: "Am Rande des Uefa-Cup-Spiels HSV gegen Ajax Amsterdam, einem Klub mit berüchtigten Hooligans, hatte die Polizei die Fan-Gruppen konsequent getrennt und die Ajax-Anhänger, die aus ihrer Heimat gewohnt waren, dass die Polizei zurückweicht, wenn eine Menschenmenge auf sie zurennt, mit gegenteiligem Verhalten überrascht und offensichtlich beeindruckt."

Die Taktik der Polizei, die schon mit ihrer massiven Präsenz Aggressionen schürte, brachte nicht nur die absehbaren Resultate der Eskalation ein - die Polizeigewerkschaft sprach von "bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen" -, sondern trug auch die politischen Früchte, wie sie zu erwarten waren.

"Angesichts zunehmender Krawalle ist es nur eine Frage der Zeit, bis es Tote gibt", heizte der Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Konrad Freiberg, die Stimmung an. Er schlug vor, brisante Spiele ohne Publikum auszutragen. DFB-Präsident Theo Zwanziger erwog in der "Bild am Sonntag" ein Reiseverbot für "Hooligans". Noch schärfer ins Horn der Repression stieß der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) Rainer Wendt. Im Gespräch mit der Neuen Osnabrücker Zeitung (10.3.2009) sagte er: "Notorische Krawallmacher lassen sich mit Reiseverboten oder Melde-Auflagen kaum von den Stadien fernhalten. Diese Schwerkriminellen beeindruckt nur, wenn sie die Spieltage hin und wieder in der Zelle verbringen." Der Staat müsse gegen Fußball-Rowdys knallhart durchgreifen, verlangte Wendt. Sie verstünden nur die Botschaft "null Toleranz". Der DPolG-Chef beklagte zudem, daß die Justiz auf Gewalttaten von Hooligans "in der Tendenz viel zu lasch" reagiere: "Wir brauchen deutlich härtere Strafen."

An der Eskalation der Gewalt hat nicht nur die Polizeitaktik ihren Anteil, sondern auch die Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS), mit der die Deutsche Fußball Liga (DFL) bei der Auswahl der Spieltermine eng zusammenarbeitet. Trotz mahnender Stimmen im Vorfeld hatte sich die ZIS offenbar entschlossen, die Partie am Freitag statt beispielsweise am Sonntag oder Montag, wenn aufgrund des ungünstigen Zeitpunktes mit weniger "Randale-Fans" zu rechnen ist, anzusetzen.

Der politische Gesamtertrag der Verantwortungsträger kann sich indessen sehen lassen. Erst vergangenen Dezember hatte das Oberverwaltungsgericht Lüneburg der seit 1994 beim Bundeskriminalamt (BKA) geführten und von der ZIS verwalteten Verbunddatei "Gewalttäter Sport" die Rechtsgrundlage abgesprochen. Das BKA betreibt zahlreiche solcher Datensammlungen, die teilweise auch auf Erfahrungen mit der "Gewalttäter Sport"-Datei beruhen, etwa die 2000 eröffneten Gewalttäter-Dateien für politisch links und rechts motivierte Täter sowie für Ausländerkriminalität.

In der umgangssprachlich auch "Hooligan-Datei" genannten Datensammlung sind insgesamt 13.772 Datensätze von 10.711 Betroffenen gespeichert, die teilweise im Sportumfeld als straffällig, aber auch auf bloßen Verdacht hin registriert worden sind. Um sich als potentieller Gewalttäter in der Datei wiederzufinden, reicht es schon aus, wenn man sich zufällig in der Nähe von Fanausschreitungen befindet und seine Personalien abgeben mußte, oder wenn man mit einem polizeibekannten Gewalttäter im gleichen Bus unterwegs war. Die Folgen können gravierend sein: Polizeiliche Gefährder-Ansprachen, Hausbesuche der Polizei, Meldeauflagen, Aufenthaltsverbote, Paßentzug oder Ausreiseverbote.

Diese Vorverurteilungsjustiz, die rechtsstaatlichen Prinzipien Hohn spricht, könnte durch das Lüneburger Gerichtsurteil nun in Frage gestellt sein - sehr zum Ärgernis der Polizeipraktiker und Sicherheitspolitiker, die mit der Datei lieber "die schwierige Arbeit der Polizei schützen" wollen, wie laut Spiegel-Bericht ein BMI-Sprecher unlängst verlautete.

Da spielt eine solche "Krawall-Nacht" wie in Hamburg den Law-and-Order-Vertretern wunderbar in die Karten, kommt es ihnen doch entgegen, Anlässe zu nutzen oder gar Vorwände zu schaffen, damit die nun geforderten Maßnahmen wie vorsorgliche Reiseverbote oder Zelleneinschlüsse für in der ZIS-Datei gespeicherte "Gewalttäter" politisch auch durchgesetzt werden können. Wie aus dem Lüneburger Gerichtsurteil gleichwohl hervorgeht, bedarf es lediglich einer Rechtsverordnung durch das Bundesinnenministerium (BMI), die wiederum vom Bundesrat abgesegnet werden muß - schon kann die Sammlung der Daten und sich daraus ableitender exekutiver Funktionen munter weiterbetrieben werden.

Dies gewinnt auch vor dem Hintergrund an Aktualität, als Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech mit Blick auf den Anfang April stattfindenden NATO-Gipfel in Straßburg/Kehl/Baden-Baden bereits angekündet hatte, "nicht zimperlich" dabei zu sein, angeblich "schwer bewaffnete" Demonstranten für die fragliche Zeit "wegsperren" zu wollen.

Hier scheint sich der Kreis zwischen Sport und Politik auch in den massive Repression legitimierenden Begrifflichkeiten zu schließen. Man erinnere sich: Als vor knapp zwei Jahren während des G8-Gipfels in Rostock "Autonome" bei Straßenschlachten mit der Polizei "ihren Gewalttrieb" befriedigten, wie es damals in der Financial Times Deutschland (5.6.2007) hieß, und es die Polizei mit einer "bisher nicht gekannten Form des internationalen Polit-Hooliganismus zu tun" bekommen habe, da war der Hatz auf "junge Krawalltouristen", die angeblich "den Protest friedlicher Demonstranten dazu missbrauchen, um eine Gewaltorgie zu feiern", auch von medialer Seite die Sporen der Ermächtigung gegeben worden. Welcher "Null-Toleranz"-Knüppel wird die Demonstranten anläßlich des NATO-Jubiläumsgipfels im April erwarten?

16. März 2009