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KOMMENTAR/041: Schwimm-WM in Rom - legalistisches Menschenbild auf dem Vormarsch (SB)



Unmittelbar vor der gerade laufenden Weltmeisterschaft in Rom hat der Schwimm-Weltverband FINA ein Verbot der Ganzkörperanzüge und die Rückkehr zu reinen Textil-Produkten ohne Kunststoffbeschichtung ab dem 1. Januar 2010 beschlossen. Männer dürfen dann nur noch lange Hosen bis zu den Knien, Frauen nur noch schulterfreie Badeanzüge ebenfalls bis zu den Knien tragen. Damit scheint die Zeit der Ganzkörper-Kompressionsanzüge, die in Rom noch erlaubt sind und für Fabelweltrekorde am Band sorgen, zwar offiziell abgelaufen zu sein, doch insbesondere beim Frauen-Modell bieten sich auch ohne spezielle Kunststoffanteile noch zahlreiche Möglichkeiten, etwa mit bestimmten Webtechniken Korsett-Eigenschaften zu kreieren, die wiederum einen leistungssteigernden Einfluß auf das Bewegungsverhalten der Schwimmerinnen ausüben können. Ungeklärt sind zudem juristische Forderungen seitens der Anzughersteller sowie Definitionsprobleme, was denn genau unter "textil" zu verstehen sei.

Wer nun glaubt, der Rolle rückwärts der FINA stand der Wunsch der meisten Schwimmerinnen und Schwimmer Pate, zur einfachen Badehose bzw. einfachem Badeanzug zurückzukehren, der befindet sich auf dem Holzweg. Die Funktionäre, Trainer und Profiteure des elitären Schwimmsports hatten nie wirklich Probleme damit, das hochtrainierte Athletenfleisch in die bewegungsstabilisierenden, gefäßabschnürenden und atemberaubenden Preßhäute zu zwängen, die so unangenehm auf den Körper wirken, daß die nach dem Zielanschlag um Luft ringenden Schwimmer sich gegenseitig schnell die Anzugreißverschlüsse öffnen müssen. Solange die Turbozwangsjacken nur ihren Zweck erfüllten, nämlich Spitzenleistungen, Rekordzeiten und Qualifikationsnormen sicherzustellen, war jedes textile Dopingmittel legal, teuer und heilig.

Erst nachdem die inflationäre Weltrekordflut, die ausufernde Materialschlacht und die grotesken Regelstreitigkeiten im Zusammenhang mit den neuen High-Tech-Anzügen das Ansehen des Schwimmsports so nachhaltig ramponierten, daß die Entwertung des Vermarktungsproduktes als Ganzes drohte, sah sich die FINA offenbar gezwungen, ihre erst im März formulierten und von den Anzugherstellern mitdiktierten Regeln für das Jahr 2010 (siehe "Dubai Charta") erneut umzuschmeißen. Daß es sich der von potenten Geldgebern gesteuerte Weltverband FINA nun scheinbar leisten kann, an der Goldmine des Anzug-Sponsorings ein paar Pflöcke zurückzustecken, hat - wie könnte es im hochkommerzialisierten Sport anders sein - vor allem ökonomische Gründe, die spätestens bei der kürzlichen Kür des Ausrichters für die Schwimm-Weltmeisterschaft 2013 offenbar wurden. Mit prominenter Unterstützung von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Innenminister Wolfgang Schäuble hatte sich auch Hamburg für das Großereignis beworben, zog dann aber gegen Dubai den kürzeren. Während die Elbestadt "nur" einen 45 Millionen Euro schweren Etat auf die Beine stellen konnte, klotzte das Scheichtum mit 350 Millionen Euro, die es allein für einen neuen Sportkomplex ausgeben will. "Es ist ein sportpolitischer Zuschlag. Der Weltverband FINA will unseren Sport eben in neuen Regionen promoten", gab sich Christa Thiel, Präsidentin des Deutschen Schwimmverbandes (DSV), geschlagen. Asien scheint die neue Geldquelle des Weltverbandes zu sein, denn bereits die Kurzbahn-WM 2010 war nach Dubai vergeben worden, außerdem richtet Shanghai die Langbahn-WM 2011 aus.

Mögen sich die deutschen Vorzeigeschwimmer Britta Steffen und Paul Biedermann ab 2010 wahrscheinlich nicht mehr damit abplagen müssen, sich bei den Meisterschaften in Dubai aus einem mörderisch engen Ganzkörperanzug zu schälen, so bedeutet das keinesfalls, daß sie damit den Zwängen des kommerziell und trainingswissenschaftlich hochgezüchteten Leistungssports entkommen wären. Denn der mechanischen schließt sich die soziale Zwangsjacke nahtlos an. Das äußert sich in Rom nicht nur darin, daß sich die erfolgreichen Schwimmer gegenüber den Medien und Fans mit Hinweis auf die Anzugtechnologie ständig dafür entschuldigen müssen, so schnell geschwommen zu sein, sondern schlimmer noch, daß sie den Doping-Generalverdacht bei Topleistungen bereits so sehr verinnerlicht haben, daß sie gegen sich selbst Gericht zu sitzen beginnen.

Kaum war der frischgebackene Weltrekordler über 400 m Freistil Paul Biedermann mit seinem brandneuen Super-High-Tech-Anzug aus dem Wasser gestiegen und vor das Mikrofon getreten, da äußerte er gegenüber einem Reporter, der ihm unter die Nase rieb, daß er seine Bestzeit um 6,6 Sekunden unterboten habe: "Auf den ersten Moment sieht das natürlich blöd aus. Ich muß mir jetzt natürlich auch Fragen gefallen lassen, aber ich denke, ich bin sehr gut vorbereitet, ich weiß, daß ich absolut sauber bin."

Das dem erfolgs- und rekordfixierten Hochleistungssport systemimmanente Bezichtigungsverhältnis, zu schwach zu sein und versagt zu haben, wenn es nicht für einen vordersten Platz oder eine Topzeit reicht, hat sich insofern qualifiziert, als der Anti-Doping-Kampf der Produktion eines legalistischen Menschenbildes dient, das die von den Athleten erbrachte Arbeit oder Leistung unmittelbar unter Verdacht stellt, auf verbotene Weise zustande gekommen zu sein. Falsch im Sinne der gesellschaftlichen Instanzen, die über eine "saubere", d.h. erlaubte oder unerlaubte, Leistungsgenese oder Lebensführung wachen, hat derjenige gehandelt, der sich dem Verdachts- und Bezichtigungsdruck nicht sofort mit der "freiwilligen" Einsicht beugt, sich auf etwas Verbotenes hin hinterfragen und durchleuchten zu lassen.

Damit hat das fremdgetriebene Bezichtigungsverhältnis des Leistungssportes, wie es beispielhaft etwa der ehemalige Vorzeige-Schwimmer Thomas Rupprath zum Ausdruck brachte, als er sich nach seinem Olympiadebakel in Peking (Platz 33 bzw. 44) mit den Worten geißelte: "Da muß man sich schon fast bei den Leuten zu Hause entschuldigen, daß die da sich vor den Fernseher gesetzt haben, da zugeschaut haben, weil das war kein Hochleistungssport! Indiskutabel! Das ist eine Frechheit!" eine weitere Zuspitzung erfahren. Die Philosophie der Leistungspuristen, die den "fairen" Wettkampf unter (noch unverbrauchten) Athleten im Angesichte "ehrlich" vergossenen Schweißes und Blutes propagieren, liefert aufmunitioniert mit dem Doping-Konstrukt die Blaupause für den autoritären Sicherheits- und Überwachungsstaat. Ein Staat, der die Verwanzung und die verdachtsunabhängige Kontrolle von Wohnungen erlaubt, der die heimliche Online-Durchsuchungen von privaten Computern legalisiert, der die Videoüberwachung öffentlicher Räume vorantreibt und nach Gestapo-Muster die Zusammenführung von Polizei- und Geheimdienststrukturen anstrebt, benötigt Leistungsträger und -eliten, die nicht die Aushöhlung bürgerlicher Freiheitsrechte bekämpfen, sondern die Urheberschaft ihrer vollreglementierten Existenz duckmäuserisch bei sich selbst verorten. Die bürgerliche Suggestion, redliche Arbeit oder Leistung befreie und werde wohlwollend belohnt (siehe der "befreite" Gefühlsausbruch von Britta Steffen nach ihrem Weltrekordsieg über 100 m Freistil in Rom), erweitert sich um eine verdachtsbewehrte Moral, die jede Redlichkeit von vornherein in Abrede stellt.

Da helfen auch Paul Biedermanns verzweifelten Unschuldsbeteuerungen ("Ich bin sauber.") oder Hinweise, daß man mit diesen Anschuldigungen und pauschalen Verurteilungen bei den sich mühenden Schwimmern viel zerstören könne, nichts, da sie konstitutive Elemente des stets aufs neue belebten Bezichtigungsverhältnisses sind. Wer "sauber" sein will, kann dies nur sein, solange er sich am Wortantagonismus die Füße abtritt und andere des Gegenteils bezichtigt. Oder anders ausgedrückt: Je sauberer, desto mehr Schmutz, Verdachtshuberei und Rechenschaftsnot.

Wer das nahezu unterschiedslose Geschreibsel der bürgerlichen "Qualitätsblätter" von Neues Deutschland und taz bis hin zu FAZ und SZ bezüglich der Tour de France Revue passieren läßt, wird Zeuge, wie Sportjournalisten für die Gesellschaft essentielle Rechtsgrundsätze wie die "Unschuldsvermutung" auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgen. Gibt es nämlich keine positiven Dopingtests, dann ist das gleichbedeutend, wie wenn es welche gegeben hätte - in beiden Fällen wird Zeter und Mordio geschrien. Die Befunde der Doping-Analytik, die im Hochleistungssport der einzige Anhaltspunkt sind für das Wohl und Wehe der Athleten, fallen im sozialen Kontext der Dopinghexenjagd beliebiger und willkürlicher Interpretation anheim. Sage niemand, daß dies nicht beabsichtigt wäre. Der legalistische Leistungssport nimmt eine gesellschaftliche Entwicklung vorweg, jedwede Schaffenskraft des Menschen unter den Verdacht der Unlauterkeit zu stellen, um so maximale Kontroll- und Verfügungsgewalt über die gabelfertige Funktionsmasse ausüben zu können.

3. August 2009