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KOMMENTAR/065: GAMMA-Datei - wer in der Schweiz auffällt, sucht Gewalt und wird deanonymisiert (SB)



Der ab 1. März 2010 in der Schweiz gültige Paß, der mit biometrischen Daten (Foto und Fingerabdrücke) und einem RFID-Schnüffel-Chip versehen ist (ab November auch in Deutschland), so daß künftig alle Bürger, die den Ausweis bei sich tragen, lokalisierbar sind, wirft seinen Schatten voraus. Seit Anfang des Jahres betreibt die "Sportstadt" Zürich eine Datenbank namens GAMMA, die unbescholtene Zuschauer von Sportveranstaltungen kriminalpräventiv behandelt.

Obwohl bereits seit 2007 die ebenfalls umstrittene nationale Datenbank HOOGAN existiert, in der Sportfans landen, die als "gewaltbereit" registriert (u.a. wegen Schneeballwürfen oder des Abbrennens pyrotechnischen Materials) und gegen die Stadion- und Platzverbote, Meldeauflagen oder Ausreisebeschränkung verhängt wurden, wird nun von der Stadt Zürich ein Präventiv-Register eingeführt, das den Generalverdacht gegen unbescholtene Personen noch weiter ins Vorfeld eines potentiellen Tatvergehens verlegt. In der GAMMA-Datenbank sollen nicht nur "gewaltbereite", sondern bereits "Gewalt suchende" Fans registriert werden. Unter diesen schwammigen Begriff fallen Personen, die sich nach Dafürhalten der Polizei bzw. ihrer "Hooligan-Spezialisten" bei Sportveranstaltungen derart auffällig benehmen, daß sie sich von rein sportinteressierten Zuschauerinnen und Zuschauern, denen offenbar ein gleichförmiges Herdenverhalten mit uniformen Interaktionsamplituden unterstellt wird, klar unterscheiden lassen. Die Betroffenen, denen aufgrund ihrer Verhaltensauffälligkeit zudem angelastet wird, eine "Bedrohungslage gegenüber Personen oder Eigentum" zu schaffen, werden einer "polizeilichen Maßnahme" unterzogen. Clou des Testlaufs, der auf ein Jahr angelegt ist und vom Gemeinderat auf seine Wirksamkeit bzw. Fortführung überprüft werden soll, ist die Deanonymisierung unbescholtener Fans. Jede registrierte Person wird darüber in Kenntnis gesetzt, daß sie bei GAMMA erfaßt wurde. Das Wissen, daß ihre persönlichen Daten der Stadtpolizei Zürich bekannt sind, soll sie "präventiv" davon abhalten, sich zu strafbewehrten Handlungen bei Sportveranstaltungen verleiten zu lassen - hoffen jedenfalls die Befürworter dieser Big-Brother-Maßnahme, welche einmal mehr die von Völkerrecht und Bundesverfassung verbürgte Unschuldsvermutung für alle noch nicht straffällig gewordenen Personen wenn nicht suspendiert, so doch "ritzt", wie Staatsrechtler laut Schweizer Zeitungen kritisieren.

Obwohl es überparteiliche Aktionsbündnisse aus Sport, Politik, Kultur und Justiz gegen GAMMA und die "Fichierung" (= Registratur) unbescholtener Zuschauer gab, stimmte die Zürcher Bevölkerung, die unter dem Eindruck wiederkehrender Krawalle im Fußball und Eishockey steht, im September 2009 mit großer Mehrheit (72,6 Prozent) für das befristete Pilotprojekt. Und dies vor dem Hintergrund des sogenannten Fichen-Skandals 1989/90 in der Schweiz. Aus deutscher Sicht muß man dazu wissen, daß Fichen Registerkarten sind und die Fichierung von (unschuldigen, verdächtigen) Personen spätestens seit der Aufdeckung des Fichen-Skandals in der Schweiz negativ konnotiert ist, da er das Vertrauen vieler Bürger in den Staat erschüttert hatte - allerdings nicht tief genug, wie man jetzt an der Einführung der GAMMA-Fichen sieht.

Der Fichen-Skandal in der Schweiz war 1989 durch Ermittlungen der Parlamentarischen Untersuchungskommission PUK-EJPD aufgeflogen. Während des Kalten Krieges hatte auch die Zürcher Stadtpolizei über Jahrzehnte hinweg einen politischen Dienst betrieben, der vorgeblich staatsfeindliche Kräfte überwachen sollte, am Ende aber rund 900.000 Personen und Organisationen aus dem linken Spektrum, darunter viele Prominente und Kulturschaffende, präventiv ausspionierte, obgleich diese Maßnahmen jedweder rechtlichen Grundlage entbehrten. Mehr als zehn Prozent der Schweizer Gesamtbevölkerung und jeder dritte Ausländer wurden von der Bundespolizei erfaßt. Für den Krisen- oder Kriegsfall hatte der Staat sogar ins Auge gefaßt, etwa 10.000 als politisch gefährlich eingestufte Bürgerinnen und Bürger zu internieren. Registriert wurde von Zürcher Staatsschutz-Spezialisten alles, was ihnen irgendwie verhaltensauffällig schien, selbst wenn es sich um völlige Belanglosigkeiten handelte, wie sie auch Zeitungen zu entnehmen sind. Damals wurden die Gesinnungs- und Verhaltensauffälligen allerdings noch nicht über ihre Registrierung informiert. Daß man dies heute mit "potentiell Gewalt suchenden" Sportfans im Rahmen von GAMMA macht, läßt sich auch so deuten: Die Polizeipraktiker haben dazugelernt, sie betreiben die Aufhebung der Unschuldsvermutung nicht mehr im Verborgenen, sondern in aller Offenheit und machen weite Teile der Bevölkerung per Referendum zu Komplizen, denen erfolgreich weisgemacht wird, alles diene nur der Verhinderung von Randale und richte sich gegen gewaltbereite "Hooligans". In den Jahren der Blockkonfrontation hieß das politische Schreckgespenst "Kommunist".

Um Angst zu schüren, hatte die Pro-GAMMA-Bewegung im Vorfeld der Volksbefragung auch mit irreführenden Plakaten und Inseraten mit Hooligan-Szenen aus Belgrad Stimmung gemacht, Schweizer Zeitungen schrieben zudem von "Hooligan"-Spezialisten der Stadtpolizei Zürich, die ab 1. Januar die neue Datenbank in Betrieb nehmen. Klares Feindbild, klares Abstimmungsverhalten. Davon zeugte vergangenen November auch der Volksentscheid gegen Minarette in der Schweiz, den Anti-Minarett-Initiativen u.a. mit einem Gewalt und Terror suggerierenden Angst-Plakat orchestrierten, das neben einer schwarz verschleierten Frau mehrere drohende Minarette zeigte, die wie Raketen auf der Schweizer Fahne stehen.

Zwar führte der Fichen-Skandal in den 1990er Jahren zu einer Neuorganisation von Bundesanwaltschaft und Bundespolizei, doch die 1990 gleichwohl erfolgte Enttarnung der Geheimarmee "Projekt 26" (P 26) und des geheimen Nachrichtendienstes "Projekt 27" (P 27), welche im Besatzungsfall den nationalen Widerstand gegen den Feind aus dem Osten aufrechterhalten sollten, hat bis heute keine vollständige demokratische Transparenzmachung erfahren. Die Verbände waren mit Waffen und Sprengstoff ausgerüstet, betrieben über das ganze Land verstreute Depots und unterlagen keiner parlamentarischen Kontrolle. Aus übergeordneten staatspolitischen Interessen verhindert die Schweiz - offiziell aus Datenschutzgründen der Betroffenen - die Veröffentlichung der Berichte. Zugegeben wird nur das, was ohnehin offensichtlich ist. Von konservativer Seite wird indessen bestritten, daß die geheime Umsturzorganisation auch dann in Aktion getreten wäre, wenn klar linke Parteien in der Schweiz auf demokratischem Wege an die Macht gekommen wären. Die Parlamentarische Untersuchungskommission mochte dieses Szenario ebenfalls nicht ausschließen. Da bereits der Fichen-Skandal von Geheimdiensten angelegte Internierungslisten von "Verdächtigen", "Linksextremisten" und "Ausländern" aufgedeckt hatte, kann eigentlich nur davon ausgegangen werden, daß auch die P-Kader nicht erst im Kriegs-, sondern bereits im demokratischen Krisenfall gegen politische Gegner vorgegangen wären.

Die staatlichen Mittel der Früherkennung, Prävention und Krisenverhütung setzen zeit- und gesellschaftsspezifisch häufig dort an, wo sich politischer Widerstand entlang sozialer Konfliktlinien formieren und die aktuellen Macht- und Herrschaftsverhältnisse in Frage stellen könnte. Wer Fanausschreitungen und Krawalle nicht phänomenologisch als "Gewaltexzesse" von ihrem sozioökonomischen Hintergrund abkoppelt und sich nicht die Brille der Vielzahl von Fanbetreuern, -beobachter und -forschern aufsetzt, wonach es Fans der Gewaltklassen A, B und C, Hooligans, Ultras und neuerdings auch "Hooltras" gibt, der ist auch in der Lage, den Zusammenhang zwischen der steigenden gesellschaftlichen Repression als Ausdruck kapitalistischen Krisenmanagments und den zunehmenden Fanausschreitungen als in der Regel hilfloser Versuch, sich den menschenverachtenden Verhältnissen in Profitsport und -Gesellschaft notfalls mit Handgreiflichkeiten zu widersetzen, zu sehen.

Die totale Entfremdung der Konflikte, die sich nicht zwischen Lohn- und Kapitalinteressen, sondern im Rahmen sportlichen Konkurrenz- und Leistungsdenkens sowie der Fan-Rivalität abspielen, macht es indessen nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutschland den Behörden leicht, immer rabiatere Formen der Bevölkerungskontrolle und Gewaltregulation aufzufahren. Erst Ende Oktober hatte der deutsche Bundesgerichtshof (BGH) ein Urteil gefällt, wonach Stadionverbote gegen Fußballfans auch dann zulässig sind, wenn die Beteiligung an Gewalttätigkeiten nicht nachgewiesen ist. Es genügt bereits, daß der Fan Teil einer durch Randale aufgefallenen Fangruppe war. Auf diese Weise senden vom Urteil begeisterte Politiker, oft auch nebenher als Vereins- oder Verbandsverantwortliche tätig, den Fans (übrigens auch den unbescholtenen) ständig Botschaften, daß sie verdächtig sind und selbst im Zweifelsfall den Schuldstempel auf die Stirn bekommen. Weitere Forderungen von Politikern, wie bei der WM 2006 die Tickets bei Sportveranstaltungen zu personalisieren, die Polizei weiter aufzurüsten und sogar Gummigeschosse gegen Fußballrowdys einzusetzen, womit auch die Gefahr von Verletzungen für Unbeteiligte steigt, sowie übertriebene Gewalt-Darstellungen und Übergriffe schon bei nichtigsten Anlässen seitens der Polizei tun ein übriges, daß die Botschaft bei den Fans, welcher Couleur auch immer, ankommt: Ihr seid dumme Auguste, denen wir schon Mores lehren werden.

Mag es Innen- und Sportminister Thomas de Maizière (CDU) auch für "völlig absurd" halten, daß "Krawallmacher neuerdings häufig nicht mehr gegnerische Fans angreifen, sondern die Polizei als Feindbild haben" (FAZ online, 9.1.10), seine weitere Beobachtung, daß schon bei nichtigsten Anlässen unverhältnismäßig Gewalt ausgeübt werde ("Das gilt für Gewalttäter beim Fußball genauso wie für politische Extremisten."), ließe sich spiegelverkehrt auch auf die Repräsentanten von Staat und Kapital anwenden, die für den unter Globalisierungsdruck gesetzten Produktionsprozeß nicht mehr benötigte Bürger gnadenlos aussortieren und entweder einem Arbeitsregime zu Billiglohntarifen oder einer Hartz-IV-Existenz auf Magerkost ausliefern. In beiden Fällen herrscht bei den Betroffenen pure Überlebensnot, die repressiv verwaltet wird. Das soziale Deklassierungsprogramm versteht auch die sportbegeisterte Bevölkerung zu interpretieren, sicherlich nicht nur im Rahmen (sport)politisch erwünschter Generalverdächtigungen, Präventivdateien und Gewaltdefinitionen.

18. Januar 2010