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KOMMENTAR/102: Wissenschaftliches Hirndoping für die orwellsche Verdachtsgesellschaft (SB)



Wer sich im organisierten Leistungs- und Spitzensport noch einen Funken Widerstandsgeist gegen seine totale Vereinnahmung durch das Anti-Doping-Regime bewahrt hat und zu erkennen vermag, welch fatale Kontroll- und Überwachungsfunktionen der Doping-Legalismus in der Gesellschaft freisetzt, der sollte langsam anfangen, die wissenschaftlichen Zuträger der orwellschen Repressionsapparate WADA (Welt-Anti-Doping-Agentur) und NADA (Nationale Anti-Doping Agentur) ihrer "Double-Speak" zu entlarven.

Wenn es nach Dr. med. Dr. rer. nat. Perikles Simon, Leiter der Sportmedizin an der Johann-Guttenberg-Universität in Mainz, ginge, sollten die Steuergelder-Millionen nicht in die staatliche Förderung von Medaillengewinnern fließen, sondern in die Anti-Doping-Wissenschaft und -Forschung. Nach Angaben von zeit.de [1] amüsiere sich der Dopingexperte köstlich über die viel zu geringe Summe, die die WADA bislang in die Dopingbekämpfung steckt. Sechs Millionen Euro gebe die Welt-Anti-Doping-Agentur an Entwicklungskosten für Dopingnachweise pro Jahr aus, so Simon. Dabei müsse man "Dopingnachweise ständig verfeinern und zwar nicht alle paar Jahre, sondern alle Monate". Wie passend, daß Simon und seine Mitarbeiter nicht nur Einkläger, sondern auch Empfänger der WADA-Gelder sind. Vor wenigen Wochen ging schlagzeilenträchtig durch die Medien, daß Perikles Simon - zugleich Mitglied im "Gene Doping Panel" der WADA - und sein Wissenschaftskollege Michael Bitzer von der Universität Tübingen erstmals ein Direktnachweisverfahren für Gendoping entwickelt haben sollen. Die WADA unterstützt das Projekt bis 2011 mit insgesamt 980.000 Dollar.

Das Schreckgespenst Gendoping steht "präventiv" seit 2003 auf der WADA-Verbotsliste, doch niemand kann bislang sagen, wie es sich technisch manifestieren läßt, weil es nämlich noch gar keine wissenschaftlich publizierte oder überprüfte Methode dafür gibt - selbstredend auch keinen justitiablen Gendopingfall. Offiziell sind bislang alle Versuche gescheitert, in den menschlichen Organismus eingeschleuste Gene an ihren gewünschten Wirkort zu steuern oder gar in den Körperzellen eine gezielte Manipulation, etwa die Veränderung von Erbfaktoren oder -informationen, vorzunehmen, zum Beispiel um Knochen- oder Muskelwachstum zur Leistungssteigerung anzuregen. Alle derartigen Versuche gentherapeutischer Einflußnahmen haben das tierexperimentelle Stadium mit zweifelhaften Ergebnissen nicht überschritten. Wenn man aber wie die WADA-Vertreter den Begriff Gendoping sehr weitgefaßt definiert [2], läßt sich vieles darunter subsumieren. "Streng genommen ist Koffein auch ein Gendoping-Mittel, weil es unsere natürlichen Gene positiv im Sinne der Leistungsfähigkeit aktivieren kann", stellt auch Perikles Simon [3] Gendoping in einen Erklärungsrahmen, der nicht gerade davon zeugt, den inflationären und ausufernden Gebrauch dieses Begriffs, der vielen Menschen Furcht einflößt (Stichwort: geklonter Monsterathlet), einzugrenzen. Oder sollte die wissenschaftliche Evokation von Angst und Schrecken verbreitenden Gendopinggespenstern sogar Zweck der Übung sein, um finanzielle Fördermittel und wissenschaftliche Reputation zu akquirieren? In weiten Teilen populärwissenschaftlicher Medien wird ständig der Eindruck erzeugt, als ob es "Gendoping" schon gebe, dabei handelt es sich bestenfalls um Science Fiction.

Auf einem von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung veranstalteten Sportforum [4], das mit hochkarätigen Funktionsträgern aus Politik, Verbänden, Wissenschaft, Wirtschaft und Medien besetzt war, rechtfertigte der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium Dr. Christoph Bergner (CDU) die Ausweitung polizeilicher Ermittlungsbefugnisse und den Einsatz von Sonderstaatsanwaltschaften mit dem Hinweis auf "Gendoping". Der Europaparlamentarier Dr. Peter Liese (CDU) stärkte der Einführung des indirekten Dopingnachweises anhand bloßer Indizien ausdrücklich mit Bezug auf "Gendoping" den Rücken, weil er "glaube, dass man manche Dinge eben einfach nur anhand indirekter Nachweise verurteilen kann, weil wir den direkten Nachweis nicht erbringen können, allein technisch nicht". Zugleich beschwor er "die Politik, die Sportfunktionäre, alle, die damit zu tun haben, auch die Kirchen, den Dopingfahndern und den Anti-Doping-Agenturen politischen Rückenwind" zu geben. Kaum verwunderlich, daß sein wohl eher vom Hörensagen genährtes Urteil Richtung Eisschnelläuferin Claudia Pechstein (Liese: "Wenn ich richtig informiert bin, ging es da nicht direkt um Gendoping, aber der Mechanismus ist vergleichbar.") lautete: "Die Indizien sprechen eindeutig dafür, dass manipuliert wurde."

Wie sehr die (Vor)Verurteilung und Stigmatisierung von Sportlern politisches und wissenschaftliches Programm ist, zeigt sich auch daran, wie schnell und unbedarft von der Norm abweichendes Aussehen oder ungewöhnliche Leistungen in den Dopingruch gestellt werden. Mit Bezug auf den höchst umstrittenen Fall der gesperrten Claudia Pechstein erklärte der Politiker und Humanmediziner Dr. Liese: "Und nun tut einem vielleicht die Frau Pechstein leid, die ist ja auch vielleicht viel sympathischer als so ein Muskelpaket im Sprintbereich, die schon vom Auftreten her den Eindruck erwecken, als ob sie sich an keine Regel halten."

Der Mitleid heuchelnden Sprache gegenüber Sportlerinnen und Sportler unter Generalverdacht weiß sich auch "Gendoping-Experte" Prof. Perikles Simon zu bedienen. Auf dem 4. Anti-Doping-Forum im November 2009 in Berlin erweckte er kurzzeitig den Eindruck, als würde er ein anderes Spiel als die Doping-Inquisition betreiben, die bekanntlich den sündigen Athleten zum Verbrecher an sich und der Gesellschaft erklärt. So forderte er eine "Ächtung des inkompetenten Umfelds" statt der "medialen Ächtung der Gedopten. Die Sportler sind die Armen, die es zu schützen gilt". Mit "inkompetent" meinte Simon die Trainer, Ärzte und Funktionäre, die eigentlich mitbekommen müßten, wenn ihr Schützling dope, etwa weil er Leistungssprünge macht, für die es aus "trainingsphysiologischer Sicht keinen guten Grund gibt", wie Simon im Deutschlandfunk-Sportgespräch (20.12.09) ausführte. Verbände, die es nicht schafften, daß ihre Athleten sauber bleiben, müßten entsprechend bestraft werden, etwa indem Mittel gekürzt oder Bundestrainer entlassen würden.

Würde dieser Vorschlag umgesetzt, erhielte die ohnehin bereits stark entwickelte Verdachts- und Mißtrauenskultur im Leistungs- und Spitzensport eine weitere Zuspitzung. Nicht nur die Athleten sollen sich gegenseitig mit abschätzigen Blicken taxieren, ob denn nicht die Leistungen oder Körpermerkmale des Konkurrenten auf Doping hindeuteten, sondern auf Druck von oben sind auch Trainer, Ärzte und Funktionäre verstärkt gezwungen, ihren legalistischen Blick zu schärfen und ungewöhnliche Leistungsschwankungen oder -steigerungen unter Verdacht zu nehmen. Um sich nicht der Gefahr von pauschalen Fördermittelkürzungen oder Entlassungen auszusetzen, sind sie praktisch gezwungen, präventive Anti-Doping-Spitzeldienste zu leisten und leistungsverdächtige Athleten, mit denen sie oft auch ein freundschaftliches oder kollegiales Verhältnis verbindet, auszuspionieren. Denn, so Perikles Simon im DLF kategorisch: Ein Bundestrainer "muß das wissen, ob seine Athleten dopen oder nicht".

Damit nicht genug. Vor dem Hintergrund des Nicht-Doping-Falls von Tischtennisprofi Dimitri Ovtcharov, der ins Fadenkreuz der Dopingjäger geraten war, weil er verbotenes Clenbuterol höchstwahrscheinlich über verunreinigte Nahrung aufgenommen hatte und dadurch positiv wurde, kam wieder eines der Millionen "Schlupflöcher" des Anti-Doping-Regimes zum Vorschein. Ovtcharov hatte in einem Spiegel-Interview (22.09.10) selbst darauf hingewiesen: Wenn er gedopt gewesen wäre, "hätte ich dem Kontrolleur, den ich doch gut kenne, zu Hause gar nicht aufgemacht. Das wäre dann ein Mistest gewesen, da wäre nichts passiert".

Hintergrund: Wird ein Athlet nicht innerhalb des von ihm angegebenen 60minütigen Zeitfensters (Stichwort: täglicher Hausarrest für Athleten) für eine Dopingkontrolle angetroffen, hat sich der Athlet eines sogenannten missed test (versäumte Kontrolle) schuldig gemacht. Missed tests werden nach aktueller NADA-Sprachregelungen auch "strikes" genannt. Wer innerhalb von 18 Monaten drei solcher Verstöße begeht, gegen den kann ein Verfahren eingeleitet werden, das in der Regel zu einem Berufsverbot von ein bis zwei Jahren führen kann. Die Zuständigkeit für die Feststellung von Kontrollversäumnissen liegt bei der NADA.

Diese bereits massiv in die Grundrechte von Athleten eingreifende Regelung soll nun möglicherweise weiter verschärft werden, um "Mißbrauch" vorzubeugen und die Dopingbekämpfung "effektiver" zu machen. Strikes können Athleten schon dann bekommen, wenn sie das Türklingeln des Kontrolleurs überhören (z.B. weil sie eingeschlafen sind oder laute Musik hören). Sie könnten das Klingeln aber auch absichtlich überhören, um peinliche Dopingkontrollen zu vermeiden. Sie kassieren dann zunächst einmal nur eine vergleichsweise harmlose Verwarnung, die nicht veröffentlicht wird.

Perikles Simon indes, der sich angeblich um den Schutz der "armen Athleten" sorgt und ein echter Fan des indirekten Dopingnachweises ist (Simon: "Juristen verknacken so viele Leute auf der Basis von Indizien ..."), antwortete kürzlich im Deutschlandfunk [5] auf die Frage, ob es zu viele erlaubte missed tests gibt: "Ja, im Prinzip ist der dritte dann schon kritisch." Man werde sich damit nochmal befassen müssen, wie häufig man diese Tests versäumen darf, sagte Simon. "Sowas führt dazu, daß man tatsächlich nochmal alte Ladenhüter wie Clenbuterol rausholen kann und in Aufbauphasen sich mit solchen Substanzen dopt und dann ein ausgefeiltes Protokoll sich überlegt, welche Tage man wo, wem angibt, wo man da sein soll. Und häufig kann man sich auch sicher sein, daß man in bestimmten Gegenden nicht am Wochenende getestet wird, so daß sich da automatisch auch noch hervorragende Möglichkeiten ergeben mit Wachstumshormonen oder mit Epo zu arbeiten."

Da die NADA gemäß Artikel 14.2 des NADA-Codes "befugt oder sogar verpflichtet (ist), unter bestimmten Umständen Informationen an staatliche Ermittlungsbehörden weiterzugeben", und davon inzwischen auch immer häufiger Gebrauch macht - etwa bei schwankenden Blutwerten von Athleten -, dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, wann auch verdächtige missed tests an die Behörden weitergemeldet werden, um polizeiliche Ermittlungs- und Überwachungsmaßnahmen durchführen zu können.

Wer meint, die Anti-Doping-Wissenschaft würde etwas anderes betreiben, als das moderne Gefängnissystem der Dopingbekämpfung technisch zu optimieren und der schleichenden Kriminalisierung von Sportwidrigkeiten Vorschub zu leisten, der sollte ruhig weiter den Sauber-Marketing-Experten der NADA glauben, die übrigens ihre letzte Vorstandssitzung ganz ungeniert in der Herzogenauracher Geschäftszentrale des Sportartikelkonzerns Adidas abgehalten haben. Bekanntlich hat Adidas nicht nur das Sportmarketing erfunden, sondern in den 1980er Jahren auch eine "sportpolitische Gruppe" betrieben, um internationale (olympische) Sportpolitik im Sinne der eigenen Geschäftsinteressen beeinflussen zu können. Aus dieser Gruppe ging u.a. Dassler- und Samaranch-Zögling Thomas Bach hervor, inzwischen zum Präsidenten des DOSB, Vizepräsidenten des IOC und Chef des Revisions-Schiedsgerichts am Internationalen Sportgerichtshof (CAS) aufgestiegen. Nicht nur, daß Bach ein eifriger Verfechter des indirekten Dopingnachweises und "Gendoping"-Bangemacher ist, seit Jahren ist Adidas auch "Premiumpartner" der NADA.

Welche direkten oder indirekten Auswirkungen die repressiver Verfolgung zuarbeitende Anti-Doping-Wissenschaft haben kann, zeigt der Fall von Terry Newton. Auf der Grundlage eines vom Berliner Endokrinologen Christian Strasburger entwickelten Nachweisverfahrens war dem britischen Rugbyspieler Anfang des Jahres als erstem Sportler der Gebrauch des Wachstumshormons HGH nachgewiesen worden. Seine Überführung wurde als "Meilenstein im Anti-Doping-Kampf" und "Erfolg des Zusammenspiels von intelligenter Zielkontrolle und der Kooperation unter Wissenschaftlern" gefeiert. Der Vater zweier Kinder nahm sich vor wenigen Wochen mit dem Strick das Leben. Die Botschaft, wie sie dem orwellschen "Wahrheitsministerium" entsprungen sein könnte, lautet nun, nicht die Dopingverfolgung, sondern seine Dopingmentalität habe ihn umgebracht.

Anmerkungen:

[1] www.zeit.de. Doping fürs Gehirn. Von F. Teuffel. 23.4.2010.

[2] Laut WADA-Definition ist Gendoping die "nichttherapeutische Anwendung von Zellen, Genen, Genelementen oder die Regulierung der Genexpression, welche die sportliche Leistungsfähigkeit erhöhen kann".

[3] www.zeit.de. "Schon Nachwuchsleistungssportler dopen". Von Perikles Simon. 1.10.2010.

[4] http://www.kas.de/wf/doc/kas_20651-544-1-30.pdf?100929165220

[5] Deutschlandfunk-Interview vom 2.10.2010.

18. Oktober 2010