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KOMMENTAR/106: Carl Diem - reicht es nicht, daß er glühender Militarist war? (SB)



Um den "Vater des deutschen Sports" Prof. Carl Diem (1882-1962), der im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik die deutsche Sportverwaltung und -wissenschaft maßgeblich beeinflußt hat, ist ein ausgewachsener Historikerstreit entbrannt, der sich auf die Frage zuspitzt, ob er (auch) ein Antisemit gewesen sei.

Angesichts der Diskussion, die Sportfunktionäre, Wissenschaftler und Journalisten unterschiedlichster politischer Interessenslager und Institutionen auf die Barrikaden treibt, stellt sich jedoch noch viel mehr die Frage, ob es nicht vollkommen ausreichen müßte, daß Carl Diem - wie unter Historikern weitgehend unstrittig ist - ein Militarist war, um tunlichst Abstand davon zu nehmen, ihn als Vorbild für die Jugend und Namensgeber für Straßen, Plätze, Sportstätten oder Preise zu empfehlen. Jemand, der wie Diem den Sport unverhohlen als "Büchsenspanner" des Krieges gerühmt und sporttreibende Kinder und Jugendliche zu Wehrertüchtigungszwecken vereinnahmt hat, scheint in Zeiten, da sich die Bundesrepublik wieder anschickt, als "Stabilisierungseinsätze" verharmloste Ressourcen- und Wirtschaftskriege in aller Welt zu führen, weit besser gelitten zu sein als ein Sportführer, in dessen Nachlässen Forscher "judenfeindliche Ressentiments" (Diem-Biograph Frank Becker), antisemitische Topoi (Historiker Ralf Schäfer) oder zumindest den "diskreten Antisemitismus der wilhelminischen Oberschicht" (Sporthistoriker Hans-Joachim Teichler) ausmachten. Liegt die bittere Pointe des neu entflammten Expertenstreits am Ende sogar darin, die schwere Antisemitismus-Streitaxt aufnehmen zu müssen, weil unterhalb dessen kein Hahn mehr danach kräht, die Affinität von sportlichen und soldatischen Leistungen und Tugenden, die daraus resultierenden Wechselwirkungen sowie ihre gesellschaftlichen Nutzanwendungen einer gründlichen Kritik zu unterziehen? Oder um es mit den Worten Carl Diems zu sagen, der 1920 "Leibesübungen als Wehrpflichtersatz" forderte und sportliche Aktivitäten als Staatsbürgerpflicht für jedermann erzwingen wollte: "Wer militärisch denkt, dem mag vor Augen schweben ein ganzes Volk in rüstiger Wehrkraft, wer wirtschaftlich denkt, ein ganzes Volk in höchster Schaffensfreude, wer hygienisch denkt, ein ganzes Volk immun gegen Erkältung, Turberkel- und andere Bazillen." [1]

Die Militarisierung des Sports und der Gesellschaft wie etwa zu Zeiten des Dritten Reiches wird sich in der geschichtlich überlieferten Form nicht wiederholen. Und dennoch mehren sich die Zeichen, daß die Re-Patriotisierung der Gesellschaft, die sich in sportiven Kampagnen wie "Du bist Deutschland" und der Erweckung eines "positiven Patriotismus" widerspiegelt, auch verstärkt militärischen Zwecken und Zielen dient. Um den "nationalen Wettbewerbsstaat" im Kampf um die schwindenden Fleischtöpfe globaler Konkurrenz kriegstauglich zu machen, bedarf es an der Heimatfront eines Geschichtsbewußtseins, dem es nichts mehr ausmacht, wenn Sportheroen mit brauner Vergangenheit zu Vorbildern für "Leistung, Fairplay und Miteinander" erklärt werden - den Leitbegriffen, mit denen die Stiftung Deutsche Sporthilfe im Oktober 2006 eine "Kommunikations-Kampagne" unter dem Motto "Die Prinzipien des Sports stärken unser Land" startete. Im gleichen Zuge gründete die Sporthilfe die "Hall of Fame des deutschen Sports", in die fünf NSDAP-Mitglieder Einzug gehalten haben.

Ganz offensichtlich ist die von Wirtschaft und Industrie gespeiste Sporthilfe bestrebt, unter der Decke, "die Geschichte des deutschen Sports und seine großen Persönlichkeiten im Gedächtnis unseres Landes zu bewahren und Diskussionen über diese Vergangenheit anzuregen" (www.hall-of-fame-sport.de), ein Nationalgefühl zu erwecken, das sich von alten NS-Schlacken befreit, um sporenstreichs in eine neue Deutschtümelei einzumünden. Aufsetzend auf der Bertelsmann-Kampagne "Du bist Deutschland" hat die Sporthilfe auch eine "Bürgerbewegung" mit dem Titel "Dein Name für Deutschland" initiiert, die der sportbegeisterten Bevölkerung in die Tasche greifen will, als gelte es wieder, in wirtschaftlichen Krisenzeiten Gold gegen Eisen zu tauschen, damit es den sportlichen Leistungseliten im Kampf gegen die globale Konkurrenz nicht an Ausrüstung und patriotischer Unterstützung mangele.

Nachdem sportliche Massenevents halfen, das angeblich "selbstzerquälte", "verkrampfte" oder "verklemmte" Verhältnis der deutschen Bevölkerung zur Fahne, Hymne und Nation spaßgesellschaftlich zu läutern, fällt es den politischen Funktionsträgern auch nicht mehr so schwer, einen unverkrampften Umgang mit wirtschaftlichen Interessen und ihrer militärischen Sicherstellung anzumahnen. "Die Sicherung der Handelswege und der Rohstoffquellen ist ohne Zweifel unter militärischen und globalstrategischen Gesichtspunkten zu betrachten", sagte Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) im November vergangenen Jahres auf der 9. Berliner Sicherheitskonferenz [2], und er unterstrich, daß dies "offen und ohne Verklemmung" angesprochen werden müsse. Gleichzeitig verteidigte er Horst Köhler, der ähnliche Aussagen getroffen hatte und dafür "fürchterlich geprügelt" worden sei. Der Bundespräsident war im Mai 2010 als Staatsoberhaupt zurückgetreten, weil er nahezu unverhohlen die künftigen Militäreinsätze der Bundeswehr zur Sicherstellung "unserer Interessen" in den Kontext mit "Handel, Arbeitsplätzen und Einkommen" gestellt hatte. Zu Guttenberg beklagte indessen in Berlin, daß er sich "von uns allen etwas mehr Unterstützung in dieser Fragestellung gewünscht" hätte.

Man braucht sich nicht die "dunklen Kapitel" in der deutschen Sportgeschichte vor Augen zu halten um zu erkennen, daß eine der wesentlichen Funktionen des organisierten Sports darin besteht, soziale Willfährigkeit zu den Leitlinien gesellschaftlicher Hegemonie herzustellen. Nach seinem Tritt ins Fettnäpfchen feierte der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) Horst Köhler umgehend als untadeligen Sportsmann, dem Sport ein "Grundnahrungsmittel" sei. Kürzlich wurde Köhler als sogenanntes persönliches Mitglied in den DOSB gewählt, und es gab niemanden in den Führungszirkeln des Sports, der auch nur mit einer Wortsilbe in Frage gestellt hätte, ob ein Mann wie Köhler, der ein schlecht verkapptes Plädoyer für deutsche Wirtschaftskriege in fernen Ländern gehalten hatte, überhaupt für das sportliche Ehrenamt geeignet sei. Die "Enttabuisierung des Militärischen", wie sie der Altbundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) forderte, nachdem Deutschland sich 1999 am völkerrechtswidrigen NATO-Überfall auf Jugoslawien beteiligt hatte, ist weitgehend vollzogen. Einer der maßgeblichen Kriegstreiber, der ehemalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD), dessen längst widerlegte Greuelphantasien und Lügenmärchen während des Kosovokrieges dazu beitrugen, den ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber der heimischen Bevölkerung zu rechtfertigen, präsidiert heute den Bund Deutscher Radfahrer (BDR), ohne daß dies den Protest der vor allem mit kommerziellen Verteilungs- und ethisch-moralischen Anpassungskämpfen beschäftigten Sportverbandsbewegung hervorgerufen hätte.

Obwohl der kalte Stellvertreterkrieg des Sports gegen den Systemfeind aus dem Osten, aus dem die förderpolitischen Verzahnung des Spitzensports der BRD mit Bundeswehr, Zoll und Polizei resultiert, sich historisch längst überlebt hat, erklärte das Verteidigungsministerium kürzlich seine grundsätzliche Bereitschaft, die Sportsoldaten weiterhin auf hohem Niveau sponsern und als Werbeträger einsetzen zu wollen - was vor dem Hintergrund, daß die Bundeswehr im Begriff steht, sich in ein Freiwilligenheer zu verwandeln, um desto professioneller zuschlagen zu können, nicht wirklich verwundert. "Spitzensportförderung zu betreiben, ist für eine Bundeswehr, die künftig auf freiwillige Kräfte angewiesen ist, sehr attraktiv", bekräftigte der Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Thomas Kossendey (CDU), in einer Stellungnahme vor dem Bundestags-Sportausschuß in Berlin im Dezember letzten Jahres.

In Anbetracht neuformierter gesellschaftlicher Attraktionen und Offenheiten gegenüber militärischen Zielsetzungen wirkt die Antisemitismusdebatte um Carl Diem schlechterdings wie ein Ablenkungsmanöver, günstigstenfalls wie ein letzter verzweifelter Versuch seitens aufgeklärter Kräfte, die militärische Verwertung des Sports, die natürlich auch darin besteht, Kindern und Jugendlichen ein militärfreundliches Geschichtsbild von ihren ehemaligen Sportführern zu vermitteln, mit dem Antisemitismusvorwurf zu kontern. Daß Carl Diem, der in der Nachkriegszeit in der CDU eine sportpolitische Karriere machte und im Innenministerium als Sportreferent der Adenauer-Regierung wirkte, 1936 für die Nazis die Olympischen Spiele organisierte, 1942 von Sportregimentern träumte, die "dem Panzerwagen im schnelleren Laufschritt als der gewöhnliche Infanterist folgen" [3] und noch 1945 kurz vor Kriegsende seine Helferrolle für das NS-Regime dadurch unter Beweis stellte, daß er auf dem Berliner Reichssportfeld vor 5.000 Jugendlichen zum "finalen Opfergang für den Führer und das Vaterland" rief [4], sollte Anlaß genug sein sich zu fragen, in welcher Tradition und Kontinuität der "unpolitische" oder "autonome" Sport in der Bundesrepublik eigentlich steht.

Anmerkungen:

[1] Carl Diem auf einer Vorstandssitzung des Deutschen Reichsaussschusses für Leibesübungen (DRA) am 14. Mai 1920. Zitiert nach Erik Eggers, "Handball - Eine deutsche Domäne", Verlag Die Werkstadt, S. 29/30.

[2] Neue Presse, 10.11.2010, "Guttenberg verteidigt Köhler".

[3] Deutschlandfunk, 30.09.2003, "Deutschland heute".

[4] In den anschließenden Kämpfen sollen über 2000 Menschen gefallen sein, viele erst 13 oder 14 Jahre alt (www.spiegel.de, 09.01.2002)

17. Januar 2011