Schattenblick →INFOPOOL →SPORT → MEINUNGEN

KOMMENTAR/126: Verwertungsprimat der "Muskelreligion" steht über Fastenpflicht für Muslime (SB)



"Das wichtigste Kennzeichen des olympischen Geistes in Antike wie Moderne ist, dass er eine Religion ist. Der Athlet formt seinen Körper durch Leibesübungen, wie ein Bildhauer eine Statue in Stein meißelt. Der Athlet der Antike ehrte die Götter, der Athlet der Moderne verherrlicht sein Vaterland, seine Rasse, seine Flagge. Ich habe deshalb die Erneuerung des olympischen Geistes von Anfang an mit der Wiederbelebung dieses religiösen Gefühls verbunden, das in der Gegenwart durch den Internationalismus und die Demokratie erweitert und umgeformt wurde, und das dennoch jenes ist, das die jungen Hellenen, die den Triumph durch ihre Muskeln im Sinn hatten, vor die Altäre des Zeus führte." [1]

Diese Worte, im Vorfeld der Olympischen Spiele von 1936 in Berlin während einer Rundfunkansprache gesprochen, stammen von keinem geringeren als Baron Pierre de Coubertin (1863-1937), dem Neubegründer der olympischen Bewegung, die er sich als Sport-Religion ("religio athletae") dachte. Daß sich seine "Muskelreligion" an der griechischen Sklavenhalter-Demokratie orientierte, wirft ein Schlaglicht darauf, welches Körper- und Erziehungsmodell dem Franzosen auch für die Moderne vorschwebte. Das Gesellschaftssystem der Antike teilte sich bekanntlich in Sklaven und ihre Besitzer auf, die an der allgemeinen, meist schweren Arbeit nicht beteiligt waren. Es verwundert daher nicht, daß Sklaven aufgrund ihrer dauernden körperlichen Belastung spezifische, muskuläre Ausprägungen zeigten. Der athletische Sklavenkörper, der buchstäblich durch äußere Stöße, Krafteinwirkungen und Widerstandsarbeit in Form gebracht wird, gilt uns heute noch als erstrebenswertes Körperideal, sowohl in ästhetischer als auch funktioneller Hinsicht.

Mit der Professionalisierung und Kommerzialisierung des Sports setzte die olympische Muskelreligion ihren Siegeszug fort. Gehörten in der Ideenwelt von Coubertin die Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) noch einem "Kollegium uneigennütziger Priester" an, "denen weder plattes Streben nach materiellem Profit noch das Bedürfnis eigen ist, sich künstlich über ihre eigene Bedeutung hinaus zu erheben", so ist von diesen Idealen kaum mehr als die Erinnerung geblieben. Das IOC hat sich zu einem Weltkonzern entwickelt, der eines der größten Medienereignisse unserer Zeit veranstaltet und die Rechte an seinem Produkt an die meistbietenden Regierungen, Sponsoren oder Fernsehunternehmen verscherbelt. Auch der Athlet, der in der Vorstellung von Coubertin an heiligen Bezirken zu einer Art Priester geworden sei, "indem er die Messe der Muskelreligion hält", ist vollständig in den Kontext kapitalistischer Entfremdung und fetischisierten Warenscheins integriert. Er betet mit Inbrunst die kommerzielle Verwertung seiner warenförmigen Sportspielarbeit an und hat es sich zur Religion gemacht, die Popularisierung und Vermarktung "seiner" Leibesübungen, die nicht ohne künstlerischem Gehalt sind, voranzutreiben.

Der einst eherne Begriff "Internationalismus", der aus bürgerlicher Sicht ein quasi-religiöses Gefühl im Zusammenstehen der Völker und der Menschen aller Nationen beschwört, aus sozialistischer Sicht aber die Überwindung der die Menschen trennenden Kategorien Volk und Nation anstrebt, kann im Zeitalter der Globalisierung und der politischen Instrumentalisierung des Sports für nationale Wirtschafts- und Imagekampagnen getrost durch "internationalen Wirtschaftswettbewerb" ersetzt werden. Es gilt aus Sicht der olympischen Sportverbände, die auch den Nachschub an SportlerInnen-Material für die professionellen Ligen sichern, neue Absatzmärkte, Zielgruppen und Klientele zu erobern, um dem kapitalistischen Wachstumszwang folgend Wechsel auf die Zukunft auszustellen.

Insofern hat die Coubertinsche Muskelreligion, einst als Sozialisationsmittel für den humanistisch gebildeten Kraftmenschen gedacht, seine letztgültige Bestimmung in den Fesseln des kapitalistischen Weltsystems und seiner marktradikalen Kulturproduktion gefunden. Nichts darf das Verwertungsprimat in Frage stellen; weder Religionsfreiheit noch persönliche Freiheitsrechte dürfen die Wettbewerbsordnung und ihre inneren Konkurrenzregeln und Verhaltensnormen unterminieren. Das gilt insbesondere für professionelle SpitzensportlerInnen, denen kaum eine Lücke gelassen wird, sich außersportlichen Interessen, Pflichten und Konventionen hinzugeben, die nicht mit den Verfügungs- und Verwertungsimperativen der modernen Sportreligion in Einklang stehen.

So gehört zu einer der "fünf Säulen des Islam" die Pflicht gläubiger Muslime, daß sie während des Fastenmonats Ramadan zwischen Tagesanbruch und Sonnenuntergang weder essen noch trinken. Doch weil die alljährliche Fastenzeit nur schwer mit den "Prinzipien des Leistungsfußballs" vereinbar ist, welche den Aktiven körperliche Schwerstarbeit und einen entsprechenden Fitneßstand abverlangen, wozu auch regelmäßige Nahrungs- und/oder Flüssigkeitsaufnahme zählt, kam es in der Vergangenheit immer wieder zu arbeitsrechtlichen und theologischen Konflikten. Diese gipfelten im Oktober letzten Jahres darin, daß der Zweitligist FSV Frankfurt mehrere muslimische Spieler abmahnte, weil sie während des Ramadans gefastet und ihre Arbeitskraft nicht uneingeschränkt dem Verein zur Verfügung gestellt hatten. Der FSV ließ extra eine Klausel in die Verträge schreiben, wonach Fasten ohne ausdrückliche Genehmigung des Vereins nicht erlaubt sei.

Bereits im vergangenen Jahr hatte sich die Deutsche Fußball Liga (DFL) und der Deutsche Fußballbund (DFB) sowie der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) mit der Problematik auseinandergesetzt und Ausnahmeregelungen für Profis getroffen, die darauf hinausliefen, daß gläubige Muslime "ohne falsche Schuldgefühle" im Ramadan das Fasten unterbrechen dürfen. Als Grundlage diente ein vom ZMD eingeholtes theologisches Gutachten (Fatwa) u.a. in Ägypten, dessen Auslegung und Verbindlichkeit innerislamisch allerdings umstritten ist. Zudem spielt es einer "Rechtssicherheit" zugunsten der Arbeitgeber in die Hände, die nun mit Verweis auf die Ausnahmeregelung Druck auf die muslimischen Profifußballer ausüben und verlangen könnten, das Fasten zu brechen.

Ähnlich wie im Antidopingkampf, wo die modernen Priesterschaften der kommerziellen Muskelreligion einen Frontalangriff auf Menschenwürde, Privatsphäre und Datenschutz betreiben und elementare bürgerliche Freiheitsrechte außer Kraft setzen, soll offenbar auch muslimischen Sportlern beigebracht werden, daß der leistungssportliche Verwertungszwang über der freien Ausübung der Religion steht. Fasten aus religiöser Pflicht oder innerer Überzeugung heraus ist den Wettbewerbsfetischisten schon deshalb ein Dorn im Auge, weil es auf eine althergebrachte Tradition beharrt, die sich dem totalen Verfügungsanspruch der modernen Muskelreligion jedes Jahr aufs Neue entzieht.

Anmerkung:

[1] Deutschlandfunk. Pierre Baron de Coubertin. "Ein Utopist des Sports". Von Stefan Fuchs. 02.09.2007.

9. August 2011