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KOMMENTAR/138: "Operation Friedensschock" - USA wollen mit 1000 Sicherheitskräften in London einmarschieren (SB)



Als vergangene Woche 3000 schwerbewaffnete Polizisten und Marinesoldaten eine Armensiedlung in Rio de Janeiro, Schauplatz der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und der Olympischen Spiele 2016, besetzten, da firmierte die für die Medien spektakulär inszenierte Kommandoaktion, die mit Tag und Uhrzeit vorher angekündigt worden war, unter dem vielsagenden Titel "Operation Friedensschock". Im Zuge der Sicherheitskampagne für die kommenden Sportgroßereignisse wolle die brasilianische Regierung "Stärke gegen die mächtigen Drogenkartelle zeigen und die Kontrolle über die 100 gewalttätigsten Slums zurückgewinnen", berichtete sueddeutsche.de [1] über eine der größten Polizei- und Militäraktionen, die Rio je erlebt hatte. Etwa ein Drittel der Stadtbevölkerung lebt dort in Slumsiedlungen. Die den Tourismus oder die kommenden Sportevents störenden Favelas, die teilweise an Reichtumsviertel grenzen, werden entweder zwangsumgesiedelt, von einem Sicherheitsgürtel umgeben oder durch Polizeieinheiten besetzt. Wie sueddeutsche.de berichtete, sei bei der neuesten Operation trotz des martialischen Auftretens von Polizei und Militär kein Schuß gefallen. "Nur zwei Stunden nach Beginn der Aktion hissten die Sicherheitskräfte auf dem höchsten Punkt der Favela eine große brasilianische Flagge und erklärten das Viertel für eingenommen." In Anspielung auf die Landung westalliierter Truppen in Nordfrankreich am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Erstürmung der Favela La Rocinha in brasilianischen Medien als "D-Day" bezeichnet. Bei einer ähnlich verlaufenden Operation vor gut einem Jahr waren bei Feuergefechten mehr als 40 Personen ums Leben gekommen.

Szenenwechsel: Einen Tag vor dem Aufmarsch schwerbewaffneter Sicherheitskräfte in Rio de Janeiro erlebte eine der größten Metropolen Europas einen ähnlichen "Friedensschock", vermeldet durch die britische Tageszeitung The Guardian [2]. Demnach will die USA 1000 eigene Sicherheitskräfte, darunter 500 Beamte der Bundespolizei FBI, zu den Olympischen Spielen 2012 nach London schicken - zum Schutz ihrer eigenen Athleten, Funktionäre und Politiker, wie es hieß. Die Invasion der mit England in aktuellen Kriegen gegen Afghanistan, Libyen und vielleicht demnächst auch Iran verbündeten Militärmacht wurde vom Guardian zwar nicht als "D-Day" bezeichnet, die erstickenden, US-definierten Begehrlichkeiten riefen aber gleichwohl Spott und Ablehnung hervor. Vor dem Hintergrund, daß der letzte Besuch von Präsident George W. Bush im Jahr 2003, obwohl er seine eigene bombensichere Limousine mitgebracht hatte, die Stadt London knapp fünf Millionen Euro kostete, riet das Blatt: "Wenn sie Hamburger essen und Cadillac fahren wollen und vom FBI bewacht werden möchten, sollten sie vielleicht besser zu Hause bleiben."

Nicht zuletzt auf Druck der USA, die bei allen Sicherheitsfragen mitreden wollen und wegen "terroristischer Gefahren" schärfste Sicherheitsvorkehrungen für ihre Leute verlangen, sahen sich die Londoner Olympiamacher veranlaßt, das Kontingent der privaten Sicherheitskräfte kurzfristig von 10.000 auf mindestens 21.000 zu erhöhen, wie Medien berichteten. Sie sollen - neben 12.000 Polizisten und den Spezialeinsatzkräften der Anti-Terror-Einheit SAS - für die Sicherung der 32 Wettkampfstätten sorgen. Da Europas größter privater Sicherheitsdienstleister G4S trotz boomender Wachstumsbranche in der verbleibenden Zeit aber nicht die geforderten Personalmengen mit den notwendigen Sicherheitschecks zur Verfügung stellen kann, sollen nun britische Soldaten einen Teil des Kontingents stellen. Wie die Financial Times bereits am 4. November schrieb, hätten die Olympia-Organisatoren die Regierung um die Entsendung der 6000 Soldaten gebeten. Die zusätzlichen Kosten werden auf mindestens 115 Millionen Euro geschätzt. Kurz nachdem die Berichte über die Sicherheitsbedenken der US-Amerikaner veröffentlicht worden waren, sicherte der britische Verteidigungsminister zudem den Einsatz von Boden-Luft-Raketen im Falle eines terroristischen Angriffs zu. Gleichzeitig erging der Hinweis, daß die Raketen seit den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta/USA zum Sicherheitsstandard gehörten.

Fraglos werden auch die aggressiv vorgetragenen Sicherheitsbedenken der USA dazu geführt haben, daß London während der mehrwöchigen Olympiaparty in den militärpolizeilichen Belagerungszustand versetzt wird. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, die USA allein für die Militarisierung der Olympischen Spiele verantwortlich zu machen. Tatsächlich hatte die Deutsche Presse Agentur schon am 1. August vermeldet, daß nach Angaben der Londoner Organisatoren die Spiele mit einem immensen Aufgebot "zum größten Einsatz von Sicherheitskräften, den es in Großbritannien in Friedenszeiten gab", würden. Wie die Organisatoren damals erklärten, sei das Sicherheitskonzept noch in der Erprobungsphase. [3]

Wohlgemerkt, dies erklärten die Olympiamacher kurz vor den Unruhen in Großbritannien! Als sich dann knapp eine Woche später die Wut der verarmten, abgehängten und chancenlosen Unterklasse in verschiedenen Städten Englands in tagelangen Aufständen, Straßenkämpfen, Plünderungen und Brandschatzungen entlud, konnte die britische Polizei tatsächlich den Ernstfall proben. Auslöser der Unruhen war ein tödlicher Zwischenfall am 4. August, als die Polizei den Schwarzen Mark Duggan aus dem Londoner Armenviertel Tottenham, möglicherweise aus rassistischen Motiven, erschoß. Zwei Tage später wurde eine friedliche Protestaktion der Familie und Freunde Duggans, die vor dem örtlichen Polizeirevier Aufklärung über die widersprüchlichen Vorgänge und irreführenden Meldungen verlangten, von Polizisten brutal angegangen. Erst dann nahm die Welle bürgerkriegsartiger Auseinandersetzungen und Zerstörungen ihren Lauf. Der englische Premierminister David Cameron bestritt später, daß die Unruhen irgend etwas mit dem durch die Polizei getöteten Mark Duggan zu tun gehabt hätten.

Wenn Spiegel-online nun das noch nicht offiziell bestätigte Ansinnen der US-Amerikaner, anläßlich der Spiele bis zu tausend eigene Sicherheitskräfte in die britische Hauptstadt zu schicken, mit der halbgaren Erklärung untermauert: "Volles Vertrauen hat die US-Regierung in die britischen Behörden jedoch offenbar nicht - nicht zuletzt wegen der zögerlichen Reaktion der britischen Polizei auf die Londoner Krawalle im August." [4], dann schreibt das Nachrichtenmagazin die Kolportage fort, die britischen Behörden wären nicht mit genügend großer Härte gegen die "Riots" im eigenen Land vorgegangen. Tatsächlich waren allein in London 16.000 Polizeikräfte mobilisiert worden, dreimal so viele wie sonst ihren Dienst versehen. Wer verdächtigt wurde, sich an den Unruhen beteiligt zu haben, wurde verhaftet. Die britische Polizei setzte bei der Fahndung nach mutmaßlichen Tätern sowohl das Internet als auch mobile Leinwände ein, damit die Bürger auf den Fotos oder Videoaufnahmen verdächtige Personen identifizieren und den Behörden melden konnten. Aus Sicht der Polizeipraktiker machte sich nun bezahlt, daß London mit rund einer Million Überwachungskameras (CCTV) über das größte urbane Überwachungsnetz weltweit verfügt. Englische Gerichte arbeiteten rund um die Uhr, um den über 2100 Festgenommenen im Schnellverfahren den Prozeß zu machen. Minderjährige und Erwachsene wurden, auch wenn sie sich nur kleiner Vergehen schuldig gemacht hatten oder derer bezichtigt wurden, hart abgestraft. "Soziale Verhaltenssanktionen" sollen dazu geführt haben, daß Leuten, die an den Unruhen beteiligt waren, ihre städtischen Wohnungen gekündigt und Sozialleistungen gesperrt bekamen.

Lediglich aus Sicht US-amerikanischer Hardliner haben die britischen Behörden noch zu "zögerlich" reagiert, um es mit Spiegel-Online zu sagen. Ein Bruder im Geiste war zweifellos David Cameron. Der englische Premier hatte den früheren New Yorker Polizeichef William J. Bratton als Berater zur Bekämpfung der kriminellen Jugendbanden heranholen wollen. Bratton, der gegenwärtig eine Sicherheitsfirma leitet, hatte das berüchtigte "Community-Policing" in seinen Zuständigkeitsbereichen eingeführt. Dem "Null-Toleranz-Cop", der auch gegen schwarzfahrende U-Bahn-Fahrer hart vorging, eilt der Ruf voraus, soziale Widersprüche mit einer Mischung aus drakonischen Polizeimaßnahmen und einer die betroffenen Bürger "partnerschaftlich" einbeziehenden Schmusepolitik deckeln zu können. Über das Hilfegesuch Camerons an den Vietnamveteranen waren selbst Vertreter der britischen Polizei nicht sonderlich "amused". Zu unterschiedlich seien die Konzepte der traditionell libertären britischen Polizei und der mit harten Bandagen agierenden Strafverfolgungsbehörden in den USA, hieß es.

Dem sei hinzugefügt, daß die Vereinigten Staaten, gemessen an der Einwohnerzahl, über die größte Gefängnisbevölkerung der Welt verfügen. Über zwei Millionen Menschen sitzen in US-Knästen, davon überproportional viele Häftlinge mit schwarzer Hautfarbe und armer Herkunft. Durch Arbeitsplatzabbau und die fortschreitende Prekarisierung des Arbeitsmarktes sind viele abgehängte Menschen gezwungen, in der Schattenwirtschaft ihr Glück zu suchen - sei es mit Drogen, sei es mit anderen illegalen Geschäften. Das verhält sich in New York nicht anders als in Rio de Janeiro oder London. Werden die "Kriminellen" erwischt und ins Gefängnis gesteckt, können Law-and-order-Politiker auf ihre hohe Erfolgsquote verweisen. Zugleich erhöht die Repressivität des Staates den Druck auf den "freien" Bürger, sich den verschärften Bedingungen des Arbeitsmarktes anzupassen und mit der herrschenden Klasse gegen die "asozialen" oder "kriminellen Banden", mit denen man nicht in einen Topf geworfen werden möchte, mobil zu machen.

Daß eine bis an die Zähne bewaffnete Großmacht wie die USA, deren Führungseliten soziale Kriege im Inland und imperialistische Kriege im Ausland führen, angesichts der wachsenden Zahl ihrer Opfer in ständiger Furcht lebt, ihren Stiefel nicht sicheren Fußes in fremde Länder stellen zu können, und sei es nur zum Schutz ihrer Athleten, sollte nicht verwundern. Die Sicherheitsbedenken der US-Regierung finden dort ihren Widerhall, wo sich das politische Establishment anderer Länder nicht anders verhält. Krasse Gegensätze zwischen Reich und Arm gibt es nicht nur in New York, sondern auch in Rio und London. Nach der Räumung von Protestcamps der Occupy-Bewegung in den USA droht Medienberichten zufolge nun auch "Occupy London" die Vertreibung. Die Demonstranten, die ihr Zeltlager vor der St. Paul's Kathedrale aufgeschlagen haben und die ungezügelte Macht der Finanzbranche und die daraus erwachsenden sozialen Ungerechtigkeiten anklagen, sind den Stadtoberen ein großes Ärgernis. Der Funke könnte auf die Bevölkerung überspringen. Schlimmer noch, sie könnte realisieren, daß ebenso zwischen Sportkommerz und sozialer Repression ein Gleichheitszeichen steht. Denn die Kostenexplosion der Londoner Spiele, die sich Schätzungen zufolge um den Faktor fünf von einst 250 Millionen auf weit über eine Milliarde Euro verteuert haben, gehen auch auf den Teuerungsfaktor Sicherheitsmaßnahmen zurück. So manchem könnte aufgehen, daß die freigesetzten Gelder nicht der "Sicherheit der Spiele" dienen, sondern zur Unterdrückung des sozialen Protestes gegen die Feste der Paläste. Auch um derlei Erkenntnisse zu verhindern, steckt der sportpolitische Komplex Millionen in den sportlichen Befriedungszirkus. Daß die steigenden Summen zum Großteil steuergeldfinanziert sind und daß die Gelder den Bürgerinnen und Bürgern an anderer Stelle vom Mund abgespart werden, beginnt sich allerdings langsam herumzusprechen.

Anmerkungen:

[1] http://www.sueddeutsche.de/panorama/polizei-besetzt-rios-slum-rocinha-weisse-fahne-auf-der-favela-1.1188281-3

[2] "Homeland security should be foreign concept for London Olympics". Von Richard Williams. 14.11.2011.
http://www.guardian.co.uk/sport/blog/2011/nov/14/london-olympics-us-security-2012

[3] "27000 Sicherheitskräfte bei Olympia 2012 in London". 01.08.2011
http://www.rhein-zeitung.de/startseite_artikel,-27-000-Sicherheitskraefte-bei-Olympia-2012-in-London-_arid,284456.html

[4] "USA wollen Sportler mit Hunderten FBI-Beamten sichern". 14.11.2011
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,797617,00.html

24. November 2011